Es ist kurz nach 8 Uhr morgens auf dem Schwanenplatz in Luzern. Ein paar Einheimische eilen zur Arbeit. Die Geschäftsfassaden sind in goldenes Licht getaucht, und wer sie genauer betrachtet, stellt fest, dass hier vor allem Schmuck und Uhren verkauft werden. Bucherer, Embassy, Gübelin – die grossen Namen der Branche sind allesamt vertreten. Sie haben sich besonders herausgeputzt an diesem kalten Februarmorgen. Rote Lampions und Spruchbänder baumeln vor den Eingängen und in den Schaufenstern. Goldene Schriftzeichen beschwören Wohlstand und Glück für das neue Jahr. Das chinesische neue Jahr, wohlgemerkt. Es fällt auf, dass hier zahlreiche asiatische Gesichter zu sehen sind – unter den Touristen ebenso wie bei den Angestellten. In den luxuriösen Ladenlokalen lächeln chinesische Filmstars wie Zhang Ziyi oder Chen Daoming für Omega und TAG Heuer von Plakatwänden, während sich das Personal mit den Kunden auf Mandarin über die richtige Uhrenwahl unterhält. Und böte zwischen den Geschäften nicht ein lokaler Confiseur Wassertürmli aus Schokolade feil, wähnte man sich glatt auf Pekings luxuriöser Einkaufsstrasse Wangfujing. Marcel Perren, Luzerns Tourismusdirektor, ist sich der Bedeutung dieses Orts bewusst: «Der Schwanenplatz gehört mit der Place Vendôme in Paris und der Plaza 66 in Shanghai zu den Top 3 des weltweiten Uhren- und Schmuckverkaufs.» Perren weiss auch, wem die Stadt diese Ehre zu verdanken hat: den Chinesen.
Spätestens seit dem Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum strömen sie in immer grösseren Massen in die Leuchtenstadt. Obwohl eine Fahrt auf dem See und ein Kurztrip zum Titlisgletscher zum festen Programm einer chinesischen Reisegruppe gehören, steht den Besuchern der Sinn vor allem nach Uhrenshopping. «Uhrenshopping gehört zum Programm», weiss Alex Wang, der für Luzern Tourismus von Shanghai aus den chinesischen Markt bearbeitet. «In der Schweiz sind die Uhren erstens viel billiger als in China und zweitens garantiert echt. Und wer sich in der Schweiz eine Markenuhr kaufen kann, demonstriert damit seinen sozialen Status.» Um mehr Geld für teure Luxusgüter zu haben, sparen die Chinesen bei Kost und Logis. Laut Schweiz Tourismus verbringen sie im Schnitt knapp eineinhalb Nächte in der Schweiz, und diese vorzugsweise in günstigen Hotels an Autobahnen oder an der Grenze. Im Gegenzug geben sie täglich knapp 450 Franken fürs Shopping aus und sind damit nach den Besuchern aus den Golfstaaten die kauffreudigsten Touristen.
Leute wie du und ich. Der 28-jährige Zhang Zhe ist ein typisches Beispiel. Er ist in einer 35-köpfigen Gruppe aus dem südlich von Shanghai gelegenen Hangzhou angereist. «Sechs Länder in zwölf Tagen», sagt er stolz. Gestern war man noch in Paris, morgen stehen Florenz und Rom auf dem Programm. In Paris habe man sich bei Louis Vuitton, Chanel und Gucci eingedeckt, schwärmt er. In der Schweiz wolle man nun frische Luft atmen, einen Berg besteigen und Uhren kaufen. Patek Philippe hält er für das Nonplusultra. «Die Reise hat nur 10 000 Renminbi gekostet», verrät eine Frau aus seiner Gruppe und reckt triumphierend den Daumen in die Höhe. Zwölf Tage Europa für unter 1500 Franken. «Das ist die neue Mittelklasse», weiss Ivo Scala, Geschäftsführer des zum Bucherer-Imperium gehörenden Uhrengeschäfts Swiss Lion in Luzern. «In der Schweiz denkt man oft, das seien alles neureiche Multimillionäre. Aber eigentlich sind es Leute wie Sie und ich. Sie haben etwas Geld gespart, erfüllen sich jetzt einen Traum und möchten davon ein Souvenir mit nach Hause nehmen.» Zu 95 Prozent kämen sie in Gruppen. «In meinem Geschäft geben die Chinesen im Schnitt 3000 bis 5000 Franken aus pro Uhr», sagt Scala. «Da sind ganz viele, die eine Swatch kaufen, und ein paar wenige, die sechsstellige Beträge ausgeben.» Die teuerste Uhr in seinem Geschäft, eine Tourbillon von Blancpain, kostet etwas über 100 000 Franken. «Davon verkaufen wir alle paar Monate ein Exemplar», so Scala. Es ist nicht einfach, Luzerner Uhrenhändler dazu zu bringen, offen über das China-Geschäft Auskunft zu geben.
Branchenschwergewichte wie Bucherer und Gübelin äussern sich aus Imagegründen nicht zum Thema, während in den kleineren Läden meist nur hinter vorgehaltener Hand geredet wird. Interessant ist, dass stets ein bisschen Fatalismus mitklingt, wenn vom Wahnsinnsgeschäft mit den chinesischen Touristen die Rede ist. Man könne nie wissen, wann die Party vorbei sei, heisst es vielerorts. Kampf mit Prozenten. Welchen Kräften die chinesischen Touristenströme ausgesetzt sind, erfahren wir beim Besuch eines Uhrenladens im Zentrum der Altstadt gleich selbst. Während wir uns mit dem Geschäftsführer unterhalten, betritt ein adrett gekleideter junger Chinese das Geschäft und händigt einer Angestellten eine Liste mit Namen, Geburtsdaten und Passnummern aus. «Das ist ein Reiseleiter», erklärt der Geschäftsführer. «Die Personen auf der Liste gehören zu seiner Reisegruppe, also hat er Anrecht auf einen Teil des Umsatzes, den diese Touristen in meinem Geschäft generieren.» In Luzern seien zehn Prozent Usus. Könnte er auch einfach die Zahlung verweigern? «Ja, könnte ich schon», lacht er. «Aber dann erzählt der Reiseleiter seinen Touristen ganz einfach, in meinem Shop würden Fälschungen verkauft. Dann kommt garantiert keiner mehr vorbei.» Meist kehrten die Reiseleiter noch am selben Tag zurück, um ihren Anteil bar einzukassieren. Dank den rosaroten Formularen, welche die chinesischen Touristen ausfüllen müssen, damit sie am Zoll die Mehrwertsteuer zurückfordern können, behalten sie jederzeit den Überblick, wer wo wie viel ausgegeben hat. «In Luzern erzählt man sich die Geschichte von einer Chinesin, die am Schwanenplatz mehr als eine Million Franken liegen liess», grinst der Geschäftsführer. «Deren Reiseleiter hat darauf spontan drei Monate Ferien gemacht.» Das seien Ausnahmen, sagt ein anderer Tourismusfachmann. Die Reiseleiter trügen ihrerseits ein grosses Risiko, weil sie die Gruppen den chinesischen Reiseveranstaltern zuerst abkaufen müssten. «Der Richtpreis liegt bei 120 bis 150 Franken pro Person. Für eine 35-köpfige Gruppe gibt der Reiseleiter also schon vor der Abreise 4000 bis 5000 Franken aus, die er in Form von Kommissionen wieder hereinholen muss.» Das sei im Übrigen weder unmoralisch noch illegal. «So funktioniert das Vermittlungsbusiness überall auf der Welt.» Das System hat einen wunden Punkt: die Solidarität der Retailer. So soll es immer wieder vorkommen, dass einzelne Händler aus diesem Gentlemen’s Agreement ausscheren und sich mit ein paar zusätzlichen Prozenten die Gunst des Reiseveranstalters zu sichern versuchen. Dann hält der Reisecar mit den spendierfreudigen Chinesen plötzlich vor einem anderen Uhrengeschäft. Oder schlimmer noch: an einem anderen Ort. Etwa in Interlaken. Dort ist Jürg Kirchhofer der Platzhirsch, am Höheweg besitzt er gleich drei Uhrengeschäfte. Und Kirchhofer, so hört man in Luzern, locke die Reiseveranstalter mit zusätzlichen Prozenten von der Zentralschweiz ins Berner Oberland. «Das machen die in Luzern doch selber auch», spielt Kirchhofer den Ball zurück. Ja, es stimme, je nach Umsatz zahle er zusätzlich zu den zehn Prozent an den Tour Guide auch noch ein bis fünf Prozent an den Reiseveranstalter. «Schliesslich trägt dieser das Risiko.»
China über alles. Es seien aber nicht nur finanzielle Zuwendungen, auf denen eine gute Kooperation fusse, sagt Kirchhofer. «Wir sind Partner, wir kümmern uns umeinander. Wenn sich ein Chinese auf der Jungfrau etwas bricht und ins Spital muss, der Reisecar der Gruppe aber eine Stunde später nach Mailand weiterfährt, dann kümmern wir uns um ihn. Wir bringen chinesisches Essen ins Spital und chauffieren den Patienten danach an den Flughafen.» Das persönliche Engagement von ihm und seinen Mitarbeitern sei ausschlaggebend, so Kirchhofer. «Es ist ein Geben und Nehmen.» Auch Jürg Kirchhofer profitiert von den Chinesen. «Im Moment leben wir den Traum», sagt er ohne Umschweife, während er eine 150 600 Franken teure Breguet Tourbillon aus einer Vitrine nimmt. «Von diesem Modell haben wir schon zwei Stück verkauft. Und zwar in dieser Woche.» Klar, das seien Ausnahmen. Aber Uhren, die zwischen 20 000 und 50 000 Franken kosten, gingen bei ihm täglich, oft sogar stündlich über den Ladentisch. «Die Chinesen machen 66 Prozent unseres Umsatzes aus», rechnet er vor. «Nimmt man Hongkong und Taiwan dazu, sind es sogar 70 Prozent.» Um keine Sekunde seines Traums zu verpassen, hat Kirchhofer 35 Chinesen angestellt, ausserdem vergrössert er seine Ladenfläche derzeit um 250 Quadratmeter. Auch Jürg Schmid, dem obersten Touristiker des Landes, sind diese Grabenkämpfe bekannt. Er spricht von einer «natürlichen Konkurrenz zwischen den Schweizer Leistungsträgern». An den Kommissionen stört er sich nicht: «In einem preissensitiven Markt wie China ist der Konkurrenzdruck zwischen den Anbietern im Reisemarkt sehr gross», schreibt er. «Dementsprechend spielen Kommissionen für den Veranstalter bei der Produktgestaltung eine wichtige Rolle.» Es ist aber nicht nur der Standortwettbewerb, der den vom China-Geschäft zunehmend abhängigen Touristikern und Fachhändlern Sorgen bereitet. Viel schlimmer ist die Vorstellung, die Touristenströme aus China könnten plötzlich magerer werden oder sogar ganz versiegen. Neben politischen Veränderungen und neuen Gesetzen, die ganz plötzlich in Kraft treten können und rigoros durchgesetzt werden, fürchtet man insbesondere den Freihandel. Derzeit profitiert der Schweizer Tourismus davon, dass Luxusprodukte in Europa deutlich billiger sind als auf dem chinesischen Festland – für viele Chinesen ein gewichtiges Argument für einen Europatrip. Fällt die Luxussteuer im Rahmen eines Freihandelsabkommens weg, dürften die Besucherzahlen darunter leiden.
Hoffen auf Individualtouristen. «China ist sicherlich einer der Märkte mit den grössten Fragezeichen», fasst Luzerns Tourismusdirektor Marcel Perren zusammen. «Man kann viel gewinnen, muss aber auch einiges riskieren.» Trotzdem ist er zuversichtlich, dass Luzern die Spitzenposition verteidigen kann. Die Strategie sehe so aus, dass neben der Kooperation mit den Veranstaltern auch der direkte Kontakt mit den Chinesen angestrebt werde – via Grossanlässe, aber auch mittels Medienarbeit und PR. «Das Ziel ist, dass die Chinesen ganz gezielt nach Luzern und nach der Zentralschweiz als Reisedestination fragen», so Perren. Nur so könne die Abhängigkeit von den Reiseveranstaltern verringert werden. Eine nachhaltige Veränderung erhofft er sich auch vom langsam aufkommenden Individualtourismus. Im Vergleich zum dünnmargigen Gruppengeschäft weisen Individualtouristen eine deutlich höhere touristische Wertschöpfung auf, was insbesondere der Hotellerie zugute komme. Nach Ansicht von Perrens China-Repräsentanten dürften die selbständig Reisenden aber noch eine Weile auf sich warten lassen. «Im Moment ist der Anteil Individualreisender immer noch sehr, sehr klein», sagt Alex Wang. «Aber der Trend geht schon in diese Richtung. Immer mehr Chinesen haben die Möglichkeit, eine solche Reise zu machen, und der Anteil jener, die das unabhängig tun wollen, wächst.» Kurt Haerri, Präsident der Wirtschaftskammer Schweiz–China, sieht das genau gleich: «Die zunehmende Kaufkraft der selbständigen, englischsprechenden Chinesen wird diesen Strukturwandel herbeiführen», ist er überzeugt (siehe Interview). Vorläufig geht die Party weiter, ob in Luzern oder Interlaken. Getreu dem Spruch, der auf dem 1599 erbauten Haus zu lesen ist, in dem Jürg Kirchhofer seine chinesischen Kunden betreut: «Lasset uns am Alten, so es gut ist, halten.»