Urs Baumberger lässt die Jalousien hochfahren und zeigt mit der Hand zum Fenster. Nach und nach tauchen sattgrüne Wiesen, ein paar Bauernhöfe und die Bergkette mit dem Stanserhorn auf. «Die Aussicht ist mehr als Kulisse, sie ist Teil der Therapie», sagt der Spitaldirektor und öffnet die gläserne Schiebetüre zum Badezimmer. Dort ist das Waschbecken extra so platziert, dass die Patienten beim Zähneputzen das Panorama geniessen können.

Die Postkartenaussicht ist nur die halbe Miete. Mindestens so wichtig sind die inneren Werte des Patientenzimmers. Alles, was an ein Krankenhaus gemahnen könnte, liess Baumberger verbannen: Wo früher grelle Leuchtstoffröhren flackerten, erleuchten indirekte und dimmbare Designerlichtquellen den Raum, Eichenparkett hat den Linoleumboden ersetzt, die weissen Wände wurden mit Beigetönen überstrichen. Ein Sofa in skandinavischem Design lädt zum Relaxen ein. Nicht einmal der Dispenser für das Desinfektionsmittel stört das Auge – er wurde in eine Nische in der Wand eingelassen.

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Jeder Privatpatient erhält eine Suite

Seit Baumberger vor knapp zehn Jahren die Leitung des Kantonsspitals Nidwalden (KSNW) übernommen hat, treibt er die Veredelung des Hauses voran. Krönung ist die Privatabteilung in der vierten Etage mit neun Suiten, die punkto Ambiente und Komfort einem Fünf-Sterne-Hotel in nichts nachstehen. Jeder Privatpatient erhält eine Suite, jeder Halbprivatversicherte ein Einzelzimmer. «Niemand geht gerne ins Spital», sagt er, «darum müssen wir schauen, dass sich die Patienten wie Gäste in einem Hotel aufgehoben fühlen.» Die medizinische und pflegerische Leistung müsse natürlich top sein, das sei Voraussetzung, aber das reiche heute nicht mehr.

Urs Baumberger, Spitaldirektor des Kantonsspital Nidwalden in Stans

«Aussicht ist mehr als Kulisse»: Urs Baumberger, Direktor des Kantonsspitals Nidwalden, in einer Business-Suite, mit Blick auf Wiesen und Weiden.

Quelle: Herbert Zimmermann

Besonders seit der Einweihung von vier edlen Business-Suiten im August braucht die Hotellerie am Regionalspital den Vergleich mit luxuriösen Privatkliniken nicht zu scheuen – gerne melden sich Spitalmanager aus der ganzen Schweiz in Stans zur Konkurrenzbeobachtung an. Die rund 50 Quadratmeter grossen Räume lassen sich durch Öffnen von Durchgangstüren um ein Mehrfaches vergrössern.

Federnden Schrittes geht Baumberger auf den Schreibtisch mit PC und Bildschirm zu und öffnet einen Korpus, aus dem lautlos eine Drucker-Scanner-Einheit zum Vorschein kommt. Aus Befragungen weiss er: Geschäftsleute mögen es nicht, wenn sie ihre häufig vertraulichen Dokumente im Spitalbüro ausdrucken lassen müssen. Für den Fall, dass sie Meetings und Präsentationen abhalten wollen, gibt es in den Suiten höhenverstellbare Tische und 75-Zoll-Flachbildschirme.

Suiten und Eingang des Kantonsspital Nidwalden in Stans

Kantonsspital Nidwalden: Patienten geniessen eine Postkartenaussicht.

Quelle: Herbert Zimmermann

Privatpatienten im Visier – und Ausländer

Rekonvaleszenz erhält damit eine ganz neue Qualität: «Ein Spitalaufenthalt bedeutet nicht mehr automatisch einen Jobunterbruch», sagt Baumberger. Wer eine Hüftoperation über sich ergehen lassen müsse, sei im Spital durchaus in der Lage, seinen Geschäften nachzugehen. Die ersten Privatpatienten zeigten sich von den nagelneuen Business-Suiten begeistert.

Neben einheimischen Geschäftsleuten – der Kanton ist ein Steuerparadies – will das KSNW mit den Suiten auch ausländische Selbstzahler anlocken: Vermögende Araber, Russen oder Chinesen, die im zum Bürgenstock Resort gehörenden Waldhotel einen Check machen lassen, können sich unten im Tal in gewohnter Grandezza einer stationären Behandlung unterziehen. Die Summe dafür, mitunter sechsstellig, müssen sie vor dem Eintritt überweisen.

Suiten und Eingang des Kantonsspital Nidwalden in Stans

Kantonsspital Nidwalden: Im ganzen Gebäude sorgen Holz und natürliches Licht für ein wohliges Ambiente.

Quelle: Herbert Zimmermann

Medizinisch sind die Spitäler heute mit modernsten Computertomografen und Operationsrobotern auf einem Spitzenniveau angelangt, nun folgt die Aufrüstung der Hotellerie. «Komfort und Service verschaffen heute entscheidende Wettbewerbsvorteile», sagt Baumberger, der zuvor die zur Hirslanden-Gruppe gehörende Privatklinik Belair in Schaffhausen geleitet hat. Die Dienstleistungen reichen bis zur Erfüllung höchst privater Wünsche, etwa wenn ein Patient nur in einer bestimmten Mondphase operiert werden will.

Der Umbau der Business-Suiten am KSNW kostete 600 000 Franken – viel Geld für ein Regionalspital. Es ist eine Investition, die nur eine Klientel wieder einspielen kann: die Zusatzversicherten. Die Einführung von Fallpauschalen hat dazu geführt, dass Spitäler mit Grundversicherten praktisch kein Geld mehr verdienen. Lukrativ sind nur noch die Zusatzversicherten, die in den edlen Halbprivat- und Privatabteilungen untergebracht werden. Von den Regionalspitälern über die Privatkliniken bis zu den Universitätsspitälern setzen die Krankenhäuser alles daran, den Anteil der zusatzversicherten Patienten zu erhöhen. Im KSNW beträgt er mittlerweile 24 Prozent. Zum Vergleich: In der grössten Schweizer Privatklinikgruppe Hirslanden ist gut die Hälfte aller Patienten zusatzversichert, in den Universitätsspitälern ungefähr jeder fünfte.

Suiten und Eingang des Kantonsspital Nidwalden in Stans

Komfort und Service: Zum Angebot gehören Minibar und Nespresso-Maschinen im Zimmer.

Quelle: Herbert Zimmermann
Zum Angebot gehört neben einer Minibar mitunter schon mal ein privater Assistent.

Während in Privatspitälern Komfort und Service schon immer einen hohen Stellenwert hatten, ziehen nun die öffentlichen Spitäler mit allen Schikanen aus der Luxushotellerie nach. Zum Angebot gehören Minibar und Nespresso-Maschinen im Zimmer, Taxiservice, Valet Parking, Dusch-WCs oder private Assistenten. Das Kantonsspital Baden bietet Privatversicherten unter dem Titel «Coming Home» einen kostenlosen Chauffeurdienst bis vor die Haustüre. Das Dienstleistungspaket «Excellence» vom Kantonsspital Nidwalden wird nach und nach auch beim Kooperationspartner Luzerner Kantonsspital eingeführt; Urs Baumberger ist dort stellvertretender CEO. Die Hirslanden-Gruppe nennt ihren Rundumservice «Privé». Die Merian Iselin Klinik in Basel hat vor einem Jahr mit «Premium Gold» eine neue Luxusklasse eingeführt, die «Massstäbe setzen» und «neuen Mehrwert schaffen» soll.

Im Rahmen eines Umbaus hat die Basler Privatklinik in einem Flügel zwei Etagen im Stil eines Top-Resorts ausgebaut. Um den Privatpatienten den Kontakt mit den Allgemeinversicherten zu ersparen, werden sie an einer separaten, in edlem Holz gehaltenen Réception empfangen und in luxuriösen Einzelzimmern und Suiten von bis zu 40 Quadratmetern einquartiert. Auf Wunsch steht eine Ein- und Auspackhilfe bereit. Die Türen sind golden, die Akustik gedämpft, das Licht weich. Die Annehmlichkeiten reichen vom Taxiservice über Körperpflegesets bis zu einer eigenen, rund um die Uhr geöffneten Lounge. Erstmals wurden Hotelfachangestellte ins Pflegeteam integriert.

«Enthusiastische» Patientenrückmeldungen

CEO Stephan Fricker zieht nach einem Jahr eine «absolut positive Bilanz» für die 28 neuen Premium-Gold-Zimmer. Die Zahl der Fälle sei gegenüber dem Vorjahr um zehn Prozent gestiegen, die Patientenrückmeldungen seien mitunter «enthusiastisch». Dies drückt sich in einer wachsenden Zahl von Upgrades aus von Patienten, die es sich während des Spitalaufenthalts gut gehen lassen wollen: Wer sich von allgemein auf privat hochstuft, zahlt eine Eintrittspauschale von 2400 Franken und zusätzlich 950 Franken pro Tag. Die allermeisten davon sind Schweizer.

Direktor von der Merian Iselin Klinik CEO Stephan Fricker im frisch renovierten Spitalteil. © Photo Dominik Pluess / 19. October 2012

CEO Stephan Fricker zieht nach einem Jahr eine «absolut positive Bilanz» für die 28 neuen Premium-Gold-Zimmer.

Quelle: Dominik Pluess
«Die Bedürfnisse der Bevölkerung gehen weit über die von der Grundversicherung gedeckten Leistungen hinaus»

Pius Gyger, Gesundheitsökonom

Trotz ständig steigenden Versicherungsprämien sind viele Schweizerinnen und Schweizer bereit, immer noch mehr Geld für die Gesundheit auszugeben. «Die Bedürfnisse der Bevölkerung gehen weit über die von der Grundversicherung gedeckten Leistungen hinaus», stellt Gesundheitsökonom Pius Gyger fest. Die Zahlungsbereitschaft bei Gesundheitsleistungen über das zwangsfinanzierte Angebot hinaus sei in der Schweiz immer noch hoch, man ist darin sogar Weltmeister.

Gyger hat für den Vergleichsdienst Comparis die Gesundheitsausgaben analysiert. Demnach zahlten Schweizerinnen und Schweizer von den 80 Milliarden Franken Gesundheitsausgaben 24 Milliarden aus der eigenen Tasche. Davon entfielen 5,4 Milliarden Franken auf Zusatzversicherungsleistungen. Trotz einem Prämienanstieg von jährlich sechs Prozent in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Halbprivat- und Privatversicherten laut Gyger in den letzten Jahren konstant geblieben.

Dass das Interior Design in den Spitälern angekommen ist, liegt nicht nur an veränderten ästhetischen Ansprüchen, sondern an verschiedenen Studien, die auf die heilende Wirkung von Architektur hinweisen: Ruhe, Komfort und Behaglichkeit tragen erwiesenermassen zum Therapieerfolg bei. Das Fach «Healing Architecture», das sich mit dem Raum und dessen Wirkung auf Körper und Psyche befasst, ist zur eigenen wissenschaftlichen Disziplin geworden, die in der Planung und der Renovation von Spitalbauten immer mehr berücksichtigt wird. Die Stiftung für Patientensicherheit weist darauf hin, dass in einer gesundheitsfördernden Umgebung Medikamentenkonsum und Komplikationen zurückgehen. Sie hat das Projekt «Mehr Patientensicherheit durch Design» ins Leben gerufen, das vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) finanziert wird. Wann immer ein Spital neu gebaut oder umgebaut wird, fliessen die Erkenntnisse ein.

Vier-Sterne-Niveau für Normalverdiener

Wer angesichts der Aufwertung der Privatabteilungen wachsende Anzeichen einer Zweiklassengesellschaft erkennt, dem entgegnen die Spitalmanager, dass von den Renovationen alle Patienten profitieren würden. Tatsächlich erreichen in vielen Spitälern und Kliniken mittlerweile alle Einrichtungen und Zimmer der Normalversicherten ein Vier-Sterne-Niveau.

Spital Merian Iselin Klinik

«Premium Gold»: Die Merian Iselin Klinik hat 28 neue luxuriöse Patientenzimmer.

Quelle: Herbert Zimmermann / 13 Photo

Im Alpenchic-Stil

Urs Baumberger hat den Klinikmief nicht nur der Privatstation, sondern dem ganzen Haus ausgetrieben: Die Eingangshalle mit dem geschwungenen Empfangstresen, dem hellen Holz und den verschiedenen Sitzgelegenheiten gleicht einer Hotellobby im Alpenchic-Stil. In einem Shop werden Konfitüren, Teemischungen, Glaswaren und Kosmetika aus der Region verkauft; Zahnbürsten und -paste werden schon gar nicht ausgestellt. In Korridoren herumstehende Betten gibt es hier nicht.

Mit der Aufwertung des Ambiente weht in den Spitälern auch ein neuer kulinarischer Zeitgeist. Viele haben begonnen, Punkte- und Sterneköche zu verpflichten, welche die Patienten mit raffinierten À-la-carte-Spezialitäten verwöhnen: Anstatt Bouillon nature und gedämpfte Karotten kommen Erbsenschaumsuppe und Rindsfilet-Carpaccio auf den Tisch. Privatpatienten können zwischen Geniesserfrühstück, Businesslunch und Galadinner wählen und obendrein kostenlos eine Begleitperson einladen. Dass Kliniken für Spitzenköche zu attraktiven Arbeitgebern geworden sind, zeigt unter anderem der Wechsel von Sternekoch Roland Schmid, der vom Grand Resort Bad Ragaz in die Klinik Gut im bündnerischen Fläsch wechselte. Viele Spitalrestaurants sind heute auch öffentlich.

Suiten und Eingang des Kantonsspital Nidwalden in Stans

«Hip»: Das Restaurant im Kantonsspital Nidwalden steht für «herzlich, individuell, professionell».

Quelle: Herbert Zimmermann

Auch kulinarisch hip

Um innovativ zu bleiben, messen sich die Küchenchefs der Privatklinikgruppe Swiss Medical Network (SMN) sogar untereinander am Kochherd: Der Wettbewerb «Culinary Challenge», der von einer namhaften Jury begleitet wird, dient dazu, die gastronomische Handschrift der Gruppe weiterzuentwickeln, die für «Genuss und Ausgewogenheit» steht. Ende August fand die zweite Austragung statt; unter anderem musste aus einem Überraschungswarenkorb eine vegetarische Vorspeise erschaffen werden. Aus der Deutschschweiz gelangten die Teams der Privatklinik Bethanien und Lindberg in die Schlussrunde, am Ende gewann Silvia Habegger, Küchenchefin der Lausanner Clinique de Montchoisi.

Auch im Kantonsspital Nidwalden sind die Ansprüche an die Kulinarik gestiegen: Vor zwei Jahren wurde die unbediente Cafeteria im Erdgeschoss in ein einladendes Restaurant umgewandelt. Schalenförmige Sessel stehen auf hellem Parkett, die Tagesspezialitäten lassen sich auf einer Schiefertafel ablesen. Der Küchenchef verarbeitet marktfrische Lebensmittel und holt Inspiration vom Nidwaldner Kochbuch «Guets vo hie», das Patienten und Gäste auch gleich kaufen können. Bei schönem Wetter wird auf der Sonnenterrasse mit freiem Blick aufs Stanserhorn aufgetischt. Spitaldirektor Urs Baumberger hat auch in der Gastronomie nichts dem Zufall überlassen: Der Name des Lokals bringt seine Strategie auf eine prägnante Kurzformel. Die Strategie heisst «herzlich, individuell, professionell», das Restaurant ganz einfach: «hip».

Dieser Text ist in der November-Ausgabe 11/2018 der BILANZ erschienen.