«Signor Altrove», Herr Anderswo, heisst er nur im Palazzo Koch, dem Sitz der italienischen Nationalbank in Rom und Draghis heutigem Arbeitsplatz, wegen seiner ständigen Reisen. Im Londoner Bankenviertel, wo er einst tätig war, nennt man ihn noch immer «Super Mario»: Wenn Mario Draghi am 1. November in Frankfurt den Posten als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) antritt, wird sich am Reisen nicht viel ändern. Doch Draghi wird sich mächtig ins Zeug legen müssen, um auch seinem zweiten Spitznamen gerecht zu werden. Denn die Ausgangslage mit einem zahlungsunfähigen Griechenland, mehreren Staaten in Pleitennähe und dem schwachen Euro könnte kaum schwieriger sein. Immerhin billigt man dem 63-jährigen Römer die notwendigen Charaktereigenschaften zu: Draghi gilt als Mann der kühlen Analyse und des geschliffenen Auftritts, als pragmatisch und konsensorientiert, gleichzeitig als hart in der Sache. Als einer, der lieber hinter den Kulissen die Fäden zieht, als grosse Töne zu spucken – kurz, als Antipol zu Silvio Berlusconi.
Den Kurs seines Vorgängers Jean-Claude Trichet wird Draghi beibehalten: Geldpolitik müsse «zuerst und vor allem auf Preisstabilität zielen», so sein Credo. Auch deshalb kann Angela Merkel inzwischen mit seiner Wahl leben.
Die Karriere
Nach dem Wirtschaftsstudium in Rom ging Draghi ans MIT in Boston und wurde Assistent bei Nobelpreisträger Franco Modigliani. Er promovierte bei Nobelpreisträger Robert Solow und Stanley Fischer, dem späteren Chef der israelischen Zentralbank, bei dem sich zwei Jahre später auch US-Notenbankchef Ben Bernanke den Doktortitel abverdiente. Beide eint die Philosophie des moderaten Keynesianismus. Es folgten zehn Jahre als Dozent in Florenz und als Exekutivdirektor bei der Weltbank, bis er 1991 Generaldirektor im italienischen Schatzamt wurde. Dort sorgte er unter zehn verschiedenen Regierungen für die Privatisierung der alten Italia AG, regelte mit der «Legge Draghi» das M&A-Recht und schaffte das Kunststück, die schwache Lira als Gründungsmitglied in die Währungsunion zu führen. 2001 kehrte er der Politik den Rücken, ging nach Harvard und dann als Partner zu Goldman Sachs, wo er unter Peter Sutherland das England-Geschäft verantwortete und die globale Strategie mitprägte. 2005 wurde er Gouverneur der italienischen Notenbank. Als sich Silvio Berlusconi letztes Jahr einem Misstrauensvotum im Parlament stellen musste, galt Draghi als Anwärter auf den Posten des Regierungschefs. Das britische Fachblatt «Financial News» kürte ihn jüngst zum einflussreichsten europäischen Banker, vor Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. Den Chef der Schweizer Nationalbank, Philipp Hildebrand, trifft Draghi regelmässig im Financial Stability Board, das er präsidiert. Zu Fiat- und Chrysler-Chef Sergio Marchionne hat er ein herzliches Verhältnis.
Die Gegner
Eigentlich war Axel Weber, Chef der Deutschen Bundesbank, der heisseste Anwärter auf den Job des EZB-Präsidenten. Doch der störte sich immer mehr an der Politik des scheidenden Präsidenten Trichet und kritisierte diesen öffentlich – ein Tabubruch unter Zentralbankkollegen. Weber nahm sich mit seinem Rücktritt schliesslich selbst aus dem Rennen und wird in zwei Jahren neuer UBS-Präsident (siehe auch «Herr Teflon»). Die Politik Draghis in der Tradition Trichets dürfte ihm auch in Zukunft nicht gefallen.
Der Chefredaktor der deutschen «Bild»-Zeitung, Kai Diekmann, lancierte eine regelrechte Kampagne, um die Wahl Drahgis zu verhindern. «Mamma Mia, bitte nicht dieser Italiener!», titelte er, schliesslich gehöre «bei den Italienern Inflation zum Leben wie Tomatensauce zur Pasta» – bis er ihn nach dem Abgang Webers schliesslich mit Preussenhelm abbildete: «Er ist so deutsch!» Den italienischen Finanzminister Giulio Tremonti kritisierte Draghi wiederholt öffentlich für seine Ausgabenpolitik. Kein Wunder, dass sich Regierungschef Silvio Berlusconi nur zögerlich für Draghis Kandidatur einsetzte.
Die Förderer
Nicolas Sarkozy schlug Draghi für den EZB-Job vor – unter der Bedingung, dass Italien dafür seinen zweiten Mann im EZB-Direktorium, Lorenzo Bini Smaghi, abzieht zugunsten eines französischen Vertreters. Der Kuhhandel funktionierte. Support bekam Draghi von Ex-Premier Romano Prodi: «Ich mache keine Witze, wenn ich sage, dass Draghi als Zentralbanker zur Welt kam.» Auch der einflussreiche Wirtschaftsprofessor Nouriel Roubini äusserte (via Twitter) seine Unterstützung für Draghi, ebenso wie die deutschen Spitzenpolitiker Wolfgang Schäuble (CDU) und Peer Steinbrück (SPD). Da hatte Jean-Claude Trichet längst signalisiert, dass er Draghi als seinen Wunschnachfolger sieht.
Die Bilderberg-Connection
Draghi nahm achtmal an der Bilderberg-Konferenz teil, das letzte Mal im Mai 2009 in Vouliagmeni bei Athen. Bei der geheimnisumwitterten Zusammenkunft der weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik traf Draghi auf 130 Teilnehmer, darunter auch auf vier Schweizer: auf den Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, den ehemaligen Bundesrat Christoph Blocher, auf Verleger Michael Ringier und auf Novartis-Präsident Daniel Vasella. Ebenfalls dabei war Martin Taylor, Verwaltungsratspräsident des Schweizer Saatgutherstellers Syngenta.
Die Familie
So unaufgeregt wie Draghis Charakter ist auch sein Privatleben: Seit 38 Jahren ist er verheiratet mit der Anglistin Maria Cappello, zusammen haben sie zwei erwachsene Kinder. In der knappen Freizeit spielt er Golf im Circolo del Golf di Roma Acquasanta, geht wandern oder in die Dolomiten bergsteigen – nie ohne Bergführer.
Bereits Draghis Vater arbeitete (in subalterner Position) bei der italienischen Nationalbank, die Mutter war Apothekerin. Weil er im Teenageralter beide kurz hintereinander verlor, musste Mario Draghi schon früh Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen. Als Kind besuchte er die Jesuitenschule Massimiliano Massimo, die inzwischen als Kaderschmiede gilt. Zu seinen Klassenkameraden gehörte Ferrari-Chef Luca Cordero di Montezemolo.