Nur wenige Wirtschaftsgrössen trauen sich den Schlagabtausch mit der Politik wie Wolfgang Reitzle. Mit dem Chef des Gaskonzerns Linde holt Holcim-Präsident Rolf Soiron im Frühjahr einen unbequemen Manager als Nachfolger zum Zementhersteller – und einen der angesehensten. Für Topjobs fällt stets Reitzles Name, zumal er jetzt eine Karriere als Aufseher plant. Manchen gilt er gar als Bestbesetzung, falls der in die Kritik geratene Siemens-Chefkontrolleur Gerhard Cromme zurücktreten sollte. Unerschrocken ist Reitzle. Er kritisiert die Art der Energiewende unter Bundeskanzlerin Angela Merkel, widerspricht ihrer Sicht, mit einem Scheitern des Euro scheitere auch Europa, prangert die angehäuften Staatsschulden in Deutschland an – und lobt die Schweiz diesbezüglich als «ein Vorbild».
Reitzle schätzt Merkel. Doch akribisch, wie der 64-Jährige agiert, folgt er seiner Meinung – meist mit Erfolg. Gestählt bei BMW und Ford, wagte Reitzle als Branchenfremder bei Linde, Kernteile abzustossen, und brachte den Industriegasekonzern zur Blüte. Linde-Aufsichtsratschef Manfred Schneider ist so angetan, dass sich die Indizien mehren, er wolle seinen CEO nach Ablauf der politisch geforderten zwei Jahre Abstand als seinen Nachfolger zurückholen. Als Chefaufseher des Autozulieferers Continental hat sich Reitzle schon bewährt.
Die Verbündeten
Wenige gewinnen das Ansehen des für seine unerbittliche Haltung gefürchteten Volkswagen-Patriarchen Ferdinand Piëch. Wolfgang Reitzle aber zollt der Aufsichtsratschef des Autokonzerns Respekt und tauscht sich gern mit dem Linde-CEO aus. Sie verbindet Detailliebe für Automobiltechnik und strategischer Weitblick. So legte Reitzle bei BMW in den 80er Jahren die Basis für den heutigen Spritsparfokus des Konzerns. Intensiv spricht Reitzle heute mit BMW-Aufsichtsratschef Joachim Milberg über den Industriestandort. Die Liebe zu schnellen Autos teilt der Linde-Chef mit Ulrich Bez, dem CEO von Aston Martin, den er als Ford-Manager zu der Nobelmarke holte.
Sein Wissen koppelt Reitzle längst mit Rafinesse, etwa als Aufsichtsratschef des Autozulieferers Continental. Seinem Rat vertraut Maria-Elisabeth Schaeffler, die das Familienvermögen mit der feindlichen Übernahme des Rivalen durch die Schaeffler-Gruppe riskierte. Nun herrscht Frieden zwischen den Firmen – durch Reitzles geradlinige Art. Die schätzt Gerhard Schröder heute wie zur Zeit als deutscher Bundeskanzler. Linde-Chefaufseher Manfred Schneider ist seinem scheidenden CEO ein enger Vertrauter. Commerzbank-Aufsichtsratschef Klaus Peter Müller, der in Lindes Kontrollgremium sitzt, lobt Reitzles Können in höchsten Tönen. Dem vertraute auch Josef Ackermann, als er ihn bei Linde als Deutsche-Bank-Chef und Linde-Kontrolleur beim Konzernumbau gewähren liess.
Die Gegenspieler
Als Reitzles Karriere bei BMW über Jahre steil nach oben zeigte, bremste ihn Bernd Pischetsrieder – damals Chef des Münchner Autobauers – hart aus. Stets drängte Reitzle bei BMW auf den Verkauf der maroden britischen Marke Rover, doch Pischetsrieder hielt daran fest. Die Manager überwarfen sich deshalb. Das spätere Rover-Debakel kostete Pischetsrieder 1999 den CEO-Posten. Doch bevor er abtrat und Volkswagen-CEO wurde, mobilisierte er die Arbeitnehmerseite unter dem mächtigen BMW-Betriebsratschef Manfred Schoch gegen seinen Widersacher Reitzle. Schoch verbaute diesem den Sprung auf den Posten des Konzernchefs. Die Arbeitnehmer stimmten in der entscheidenden Sitzung gegen ihn. Susanne Klatten und Stefan Quandt, deren Familie Grossaktionär von BMW ist, stellten sich nicht hinter Reitzle und liessen ihn fallen. Intern kursierten daraufhin Spekulationen, die Quandt-Familie habe ihn von vornherein nicht gewollt. Heute finden sich nur wenige, die gegen Reitzle ins Feld ziehen. Im Kampf mit dem Linde-Erzrivalen Air Liquide und dessen CEO Benoît Potier muss sich Reitzle beweisen.
Die Berg-Connection
Wenn sich Reitzle abseits seines Schreibtisches austoben will, zieht es ihn in die Steilwand – mit einer exklusiven Seilschaft: den Similaunern, gegründet 1992 von Ex-McKinsey-Chef Herbert Henzler. Alljährlich besteigt ein Tross Topmanager Berggipfel, geführt von Alpinisten-Star Reinhold Messner. Über Reitzle sagte Messner einst, er sei «ein eleganter, feinfühliger, zäher Ästhet». Auf dem Weg entlang der Hänge begleitet Reitzle Telekom-Chef René Obermann genauso wie Verleger Hubert Burda. Im Kraxlerkreis trifft er auch Adidas-CEO Herbert Hainer, Ex-Daimler-CEO Jürgen Schrempp, Ex-Lufthansa-Aufseher Jürgen Weber und Henkel-CEO Kasper Rorsted.
Die Karriere
Wie ein Turbo schoss Reitzle ins Management. Mit 22 Jahren hatte er das Diplom in der Tasche, kurz darauf den Doktor, nachdem er Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität München studiert hatte – einer Kaderschmiede. 1976 startete Reitzle als BMW-Fertigungsspezialist. Beeindruckt vom Talent des Ingenieurs, holte ihn der damalige BMW-Chef Eberhard von Kuenheim mit gerade 37 Jahren in den Vorstand und wollte ihn zu seinem Nachfolger aufbauen. Doch als Reitzle einen Vertrag als Porsche-Chef in der Tasche hatte, bekam Kuenheim Wind davon und löste verärgert Reitzles lang laufenden Vertrag nicht vorzeitig auf. So war Reitzles Chance bei Porsche vertan. Danach wurde er auch bei der Wahl zum BMW-Chef übergangen. Später stolperte Reitzle im Rover-Skandal über die Ablehnung der Arbeitnehmer, die ihm 1999 den Weg zum BMW-Chef verbauten. Ford-CEO Jacques Nasser griff zu und holte ihn als Chef seiner Luxusmarken Jaguar, Aston Martin und Land Rover. Als Reitzle bei Ford finanziellen Spielraum vermisste, nutzte Linde-Urgestein und Aufsichtsratschef Hans Meinhardt seine Chance. Der mittlerweile Verstorbene betraute Reitzle 2003 mit dem Chefposten beim Industriegasekonzern und liess ihn Linde stark umbauen.
Die Familie
Die Liebe zu schönen, schnellen Autos und exklusiven Partys etwa mit der TV-Moderatorin Nina Ruge (57), die er in zweiter Ehe 2001 heiratete, haben Reitzle ein Glamour-Image verliehen. Dabei liebt er zwar das Schöne, etwa als begeisterter Operngänger an seinem Wohnort München, aber auch das Handfeste – immer mit einer Portion Ehrgeiz. In der Nähe seines Hauses in der Toscana etwa baut Reitzle Wein an und will laut einem Weinhändler «der Premiumproduzent» der weniger bekannten Weinregion Lucca werden. Auch als Golfspieler ringt er um den Sieg, will nicht nur spielen. Aus erster Ehe hat Reitzle zwei erwachsene Töchter, von denen eine promovierte Betriebswirtin ist.