Noch gar nicht lange ist es her, da waren die Vorzüge des Freihandels unbestritten. Der Abbau von Handelshemmnissen – seien es Zölle, Subventionen oder nicht tarifäre
Beschränkungen – führe zu einer produktiveren Nutzung der vorhandenen Ressourcen und stimuliere das gesamtwirtschaftliche Wachstum. So lautete bis vor wenigen Jahren das Mantra der Globalisierungsbefürworter.
Inzwischen räumt selbst der Internationale Währungsfond (IWF) ein, mit seiner Politik der radikalen Marktöffnung zuweilen über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Staaten wie das einstmals florierende Argentinien laborieren heute an den Folgen der vom IWF angeheizten Deregulierungsmanie. Am dynamischsten scheinen sich ausgerechnet jene Nationen zu entwickeln, die sich den Schocktherapien des Währungsfonds widersetzten, um ihren Binnenmarkt geordnet und im eigenen Rhythmus für ausländische Konkurrenten zu öffnen. So macht sich China erst heute daran, seine Wirtschaft flächendeckend zu liberalisieren – zwanzig Jahre nachdem erste zaghafte Schritte in Richtung Marktwirtschaft unternommen worden sind.
Trotz ihrer nach wie vor sozialistischen Staatsform zieht die Volksrepublik mehr ausländische Direktinvestitionen an als jeder andere Staat der Erde. Allein in den vergangenen zwölf Monaten haben ausländische Investoren im Reich der Mitte über 50 Milliarden US-Dollar in neue Produktionsanlagen gesteckt (siehe «Das Schweizer China-Wunder» auf Seite 80). In China lässt sich mittlerweile derart effizient und kostengünstig produzieren, dass der Güteraustausch mit dem Rest der Welt aus dem Gleichgewicht zu geraten droht. Bereits liefert der asiatische Gigant sechsmal mehr Industriegüter in die Vereinigten Staaten, als er von dort bezieht. Folge: Das Handelsdefizit der Amerikaner gegenüber China betrug im abgelaufenen Jahr über 120 Milliarden Dollar. Tendenz steigend.
Wo die Furcht vor der «jobless recovery» umgeht, ist man mit der Benennung von Sündenböcken schnell bei der Hand. China sauge Industriearbeitsplätze aus den USA ab, echauffieren sich amerikanische Branchenvertreter und fordern von ihrer Regierung entsprechende Schutzmassnahmen. Die Bush-Administration, die sich in offiziellen Statements stets für ein uneingeschränktes Spiel der Marktkräfte stark macht, verhängte im November 2003 Importbeschränkungen für chinesische Textilien, etwa Büstenhalter, Bademäntel und Strickwaren. Um die unliebsame Billigkonkurrenz einzudämmen, erheben die Rhetoriker des freien Welthandels neuerdings auch Einfuhrzölle von bis zu 46 Prozent auf Fernsehgeräten chinesischer Provenienz.
Dabei wirkt die Bedrohung, die von chinesischen Werkbänken auf Industriearbeitsplätze im Westen ausgeht, geradezu harmlos, verglichen mit dem, was in Zukunft im Dienstleistungsbereich auf uns zukommen könnte. Hier sind es nicht die Chinesen, sondern die Inder, die im globalen Kräftemessen zusehends das Tempo diktieren. Zwar scheint Indien – auch dieser volkswirtschaftliche Gigant verfügt über ein Arbeitskräftereservoir von über einer Milliarde Menschen – eben erst zu erwachen. Die Vorboten der künftigen Dienstleistungs- und Technologiekonkurrenz sorgen in unseren Breiten indessen schon heute für Kopfweh.
Längst beschränkt sich das Angebot der Inder nicht mehr auf die Softwareentwicklung und standardisierbare Dienstleistungen, wie sie zum Beispiel in Call-Centers erbracht werden. Immer mehr westliche Konzerne lagern Kernbereiche wie die Lohnbuchhaltung, ihr Beschwerdewesen oder sogar derart wertschöpfungsintensive Funktionen wie die Aktien- und Finanzanalyse auf den Subkontinent aus. So hangeln sich die Inder ebenso rasant wie beharrlich die Wertschöpfungskette empor und dringen in Domänen vor, die bis vor wenigen Jahren ausschliesslich den reifen, an Überalterung leidenden Volkswirtschaften vorbehalten waren.
Schmerzhaft wird uns heute bewusst, dass die Globalisierung keine Einbahnstrasse ist, die es unseren Multis ermöglicht, neue, bisher noch ungesättigte Märkte zu erschliessen. Globalisierung bedeutet eben auch, dass europäische Finanzinstitute wie zum Beispiel die Credit Suisse ihre Informatikdienste aus Kostengründen nach Indien auslagern und hier zu Lande deswegen Tausende von Arbeitsplätzen verloren gehen. Wie hiess es doch beim Zauberlehrling: Die Geister, die ich rief, werd ich nun nicht los!