Mario Greco fehlt. Wer das Entrée der «Zürich»-Zentrale im Stadtteil Enge betritt, findet dort seit einiger Zeit ein Billboard mit den wichtigsten Meilensteinen der 145-jährigen Unternehmensgeschichte. Der expansionswütige Rolf Hüppi wird üppig gewürdigt, und auch dessen verstorbenen Nachfolgern Jim Schiro und Martin Senn wird ergeben gehuldigt. Nur eine Schlüsselperson ist nicht erwähnt: der aktuelle Chef Mario Greco. Für das Jahr 2016, in dem der Süditaliener seinen Posten antrat, wird zwar ausführlich über die neue Strategie fabuliert. Doch von «Iron Mario», der die Firma mit harter Hand umpflügt? Kein Wort.
Es war sein Wunsch. Eigens hat der 58-Jährige angeordnet, dass er auf der Heldentafel noch nicht erwähnt wird. Botschaft: Meine Mission ist noch lange nicht abgeschlossen. Dabei hat er die «Zürich» schon stärker durchgewirbelt als sein Vorgänger Senn in fünf Jahren vor ihm: die Führungsstruktur verschlankt, die Löcher im kriselnden US-Geschäft gestopft, das Sparprogramm von 1,5 Milliarden Franken bis 2019 schon fast erfüllt – und mit all dem den Aktienkurs seit seinem Antritt im März 2016 erstaunlich schnell um 30 Prozent in die Höhe getrieben. Doch das waren schnelle Schnitte – immerhin war diebestens kapitalisierte «Zürich» ja nur leicht aus dem Tritt geraten und kein Sanierungsfall wie der italienische Rivale Generali, den Greco vorher vor dem Absturz gerettet hatte.
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Tristesse bei der Aktie
Doch jetzt ist leichte Tristesse eingekehrt. Der Kurs legte in diesem starken Börsenjahr gerade fünf Prozent zu und hinkt damit dem SMI deutlich hinterher. Die Analysten von der Deutschen Bank sprechen der Aktie für die nächsten zwei Jahre das geringste Potenzial unter den fünf grossen europäischen Versicherern zu und schreiben von einer «unberechtigten Prämie» auf dem Titel – die Aktie wird mit dem 12,7fachen des Jahresgewinns um mehr als 20 Prozent höher gehandelt als etwa Allianz oder Axa.
Die Ertragszahlen für dieses Jahr sind solide, auch der jüngste Zukauf des Lebensversicherungsgeschäfts der australischen Bank ANZ stimmt positiv. Doch die Frage, die sich auch viele Mitarbeiter stellen, lautet: Ist der asketische Sanierer Greco wirklich der Richtige, wenn es um Visionen, Wachstum und Aufbruch geht?
Kein grosses Thema in der Öffentlichkeit
Eigentlich hat er keinen Druck. Die dunkle Wolke, die nach den Selbstmorden von Finanzchef Pierre Wauthier und dem entlassenen Konzernlenker Martin Senn über dem 54'000-Mitarbeiter-Konzern hing, ist verflogen. In der Öffentlichkeit ist die«Zürich» kein grosses Thema mehr. Als etwa die Credit Suisse Ende November ihren Investorentag abhielt, berichteten die Medien grossflächig und kolportierten brav jede Prognose, ungeachtet der Tatsache, dass schon die letzten nicht stimmten. Dass Greco zwei Wochen zuvor ebenfalls in London zu einem ganztägigen Investorentag gebeten hatte, war selbst in der Fachpresse kaum ein Thema. Dabei liegt seine «Zürich» mit 45 Milliarden Franken Börsenwert vor der CS und ist nach UBS und Swiss Re der am dritthöchsten bewertete Finanzkonzern des Landes.
Doch die Verästelungen von «Combined Ratio» oder «Underwriting Expense Strategy» sind eben nur etwas für sehr spezielle Feinschmecker. Als Greco etwa zur Überraschung seiner Mitarbeiter in boulevardeske Niederungen abstieg und dem «SonntagsBlick» ein zweiseitiges Interview gewährte, kam der Geschäftsverlauf gar nicht vor. Parliert wurde über das Dauerthema Digitalisierung und die Arbeitswelt von morgen. Versicherungen? Tiefgrau.
Machtbasis gestärkt
Doch Greco ist ein Getriebener. Dass er sich quälen kann, zeigt sein grösstes Hobby: Schon mehrmals ist der passionierte Velofahrer den «Maratona dles Dolomites» mitgefahren, einen Radmarathon über 138 Kilometer mit 4190 Höhenmetern. Selbst in den kühlen Wintermonaten ist der Neapolitaner, wohnhaft in Küsnacht ZH, auf den Strassen rund um den Zürichsee unterwegs. Ruhe ist Stillstand.
Bisher hat er vor allem seine Machtbasis gestärkt. In einer ersten Phase lief das über die Struktur: Senn hatte sich in einem schwerfälligen Organigramm eingerichtet, das zu weit vom Markt entfernt war. Da waren alle Konzernfunktionen sauber vertreten, doch die in der Versicherungswelt so wichtigen Länderchefs sassen eine Etage tiefer. So merkte Senn zu spät, dass im US-Geschäft der Brand ausbrach.
Einige wurden abgesetzt
Greco nahm einfach eine Führungsstufe heraus und liess die Verantwortlichen direkt an ihn rapportieren. Dieser ersten Welle fiel etwa die bisherige Personalchefin Isabelle Welton zum Opfer, als frühere Schweizer IBM-Chefin und NZZ-Verwaltungsrätin eine Schaufenster-Rekrutierung Senns: Erst musste sie die Konzernleitung verlassen und den Personalbereich abgeben, dann wurde ihr auch noch der Kommunikationsbereich entzogen. Am Ende waren die Gemeinsamkeiten zwischen Welton und Greco vollständig aufgebraucht – Welton verliess den Konzern im Frühjahr.
Die zweite Welle traf Konzernleitungsmitglieder in der neuen Struktur. Zuletzt musste die Risikochefin Cecilia Reyes, seit 16 Jahren im Konzern und in der Investoren-Community bestens verankert, die «Zürich» verlassen, sie wird zu Jahresbeginn durch die langjährige Swiss-Re-Frau Alison Martin ersetzt.
Davor räumte auch Nordamerika-Chef Mike Foley, ein enger Vertrauter Senns, seinen Posten. Zehn Jahre, befand Greco, seien genug. Seine Nachfolgerin Kathleen Savio erhielt höchstes Vorschuss-Lob vom Chef: Sie sei «neu denkend» und «menschenfokussiert» – wer darin eine Kritik an ihrem nicht ganz so dynamischen Vorgänger sehen will, liegt wohl nicht ganz falsch.
Kompetenz First
Greco hat damit insgesamt sechs der elf Konzernleitungsmitglieder neu berufen. Entscheidendes Auswahlkriterium: Kompetenz. Dass seine beiden Vorgänger nicht direkt aus dem Versicherungsgeschäft kamen, lässt der neue Chef schon mal durchblicken. Der Mann aus gutem Haus – sein Vater war Verwaltungsratspräsident bei der Banco di Roma – betreute bei McKinsey in Mailand seinen ersten Versicherungskunden und ist dem Geschäft seitdem treu geblieben. Jim Schiro stammte vom Revisionsriesen PwC, Martin Senn kam von der CS und war Anlagemann – beides keine Sozialisierungen, die Greco für das spezialisierte Assekuranzgeschäft als ideal erachtet. «In den Konzernleitungssitzungen ist die Kompetenz massiv gestiegen», berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter. «Da wird jetzt wieder über Versicherungsfragen diskutiert.»
Jedoch: Strategisch ist erstaunlich wenig passiert. Als Greco vor einem Jahr an seinem Drei-Jahres-Plan 2017 bis 2019 tüftelte, lautete die grosse Frage im Vorfeld: Was passiert mit der Dividende? Unter Schiro und Senn hatte die «Zürich» ihre Aktionäre vor allem mit ihrer rekordhohen Ausschüttung bei Laune gehalten, was aber auch eine gewisse Ideenlosigkeit offenbarte. Die Erwartungen waren gross, dass der Versicherungsprofi Greco diese Abhängigkeit stoppen könnte und mehr Geld in Wachstumsinitiativen stecken würde.
Greco liess sich dann auch wenige Wochen nach Amtsantritt im Sommer 2015 von den ZKB-Analysten zitieren, die «Zürich» müsse «aus der Dividendenfalle herauskommen». Doch dann geschah: nichts. Auch für 2016 schüttete er mit 17 Franken pro Aktie wieder üppig aus. Und damit nicht genug: Die zentrale Botschaft, die vom Investorentag hängen blieb, war die Ankündigung Grecos, «über die Zeit umfangreichere Ausschüttungen an die Aktionäre zu leisten».
Der Dividendenkönig
Unter den grossen europäischen Versicherern bleibt die «Zürich» weiter der Dividendenkönig. Ein Grund ist, dass der abtretende VR-Präsident Tom de Swaan im April mit einem Kurshoch gehen will. Doch Fakt ist auch: Die Ausrichtung des weit verzweigten Konzerns hat Greco bisher kaum verändert.
Am Investorentag etwa fanden «Zürich»-Kenner viel Bekanntes: Ausbau des Lebensgeschäfts, Expansion in Lateinamerika und Asien, Effizienzsteigerungen – der Grossteil war unter Senn schon angerissen. Greco setzt es nur konsequenter um. Neue Strategie? Eher nicht.
Neue Konsumentenwelt
Doch da ist er in guter Gesellschaft. Alle grossen Versicherungen suchen derzeit den Weg in die neue Konsumentenwelt. Bisher haben sie zwar eine beneidenswerte Kundenzahl – 60 Millionen sind es bei der «Zürich» –, doch die Veredelung dieses Datenschatzes steht erst am Anfang. «Allianz, ‹Zürich›, Generali sind die Wettbewerber von heute», betont Thomas Buberl, der bis 2012 die «Zürich» Schweiz leitete und seit letztem Jahr an der Axa-Spitze steht. «Ich habe aber sehr klare Indizien, dass die Wettbewerber von morgen Google, Apple und Facebook heissen.»
Die grossen Plattformen haben direkten und positiven Kontakt zum Kunden – Versicherungen dagegen bescheren meist negative Emotionen: Rechnungen und Schadenfälle. Grosse Übernahmen sind out, auch für die im Vergleich mit Axa und Allianz eher kleine «Zürich».
Die grosse Herausforderung lautet vielmehr für alle: Wie erhöhen wir die Qualität der Kundenbeziehung? «Es ist eine vollkommen andere Welt da draussen», impft Greco seinen Leuten ein. Jüngst veranstaltete er einen Workshop, bei dem er zusammen mit Jugendlichen ein digitales Versicherungsprodukt entwickeln liess. Für die Weiterentwicklung der Strategie hat er unter 2000 Mitarbeitern 40 Leute aus allen Bereichen des Konzerns ausgewählt, die die Welt aus der Sicht des Versicherungskunden neu erfinden sollen. Externe Berater kommen ihm da nicht ins Haus. Sein Credo: «Wenn die unsere Strategie besser verstehen, haben wir ein Problem.»
Misstrauischer Chef
Doch sein Führungsstil wirkt noch nicht so ganz modern. «Er ist sehr misstrauisch und glaubt, er könne alles am besten», sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. So weit Senn oft von den Details weg war, so nah ist Greco dran – zum Leidwesen mancher Mitarbeiter. «Selbst die Konzernleitungsmitglieder sind nur noch Befehlsempfänger», tönt es aus dem Konzern.
Keine Frage: Greco ist der mächtigste Chef seit Hüppi. Daran wird auch der neue VR-Präsident nichts ändern. Den früheren Swiss-Re-Chef Michel Liès kennt Greco seit Jahren – sowohl bei der Generali als auch bei der «Zürich» hat er dieRückversicherungs-Tarife mit ihm ausgehandelt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass der frühere «Zürich»-Finanzchef Dieter Wemmer den Präsidentenposten gewollt habe, doch Greco ihn verhindert habe, weil sich der selbstbewusste UBS-Verwaltungsrat kaum mit einer Aufsichtsrolle begnügt hätte. Beim eher gleichmütigen Liès besteht diese Gefahr kaum.
Visionen? Nein, danke
Grecos Herausforderung bleibt, dem verzettelten Konzern eine Identität zu vermitteln. Das Versicherungsgeschäft ist lokal, eine länderübergreifende Markenbildung fast unmöglich. Schiro hatte es mit dem «Zurich Way» versucht, jetzt tüftelt man an einer Neuauflage mit dem Ziel, die Marke als Premiumanbieter zu verankern. Doch selbst im Heimmarkt ist das schwierig.
Unter Buberl wollte die «Zürich» noch die Nummer eins werden, doch mittlerweile hat die agile Mobiliar sie auf den dritten Platz verdrängt. Länderchef Joachim Masur ist abgetaucht, nachdem ein Interview in der Sonntagspresse zu Jahresbeginn beim Chef Missfallen erregt hatte. Die 5100-Mitarbeiter-Organisation, die einst mit ihrer «Relax»-Kampagne für Aufsehen gesorgt hatte, strahlt wenig Aufbruchgeist aus. Dafür gönnt sie sich eine Führung mit 13 Köpfen – der Konzern zählt nur 11.
Für den Optimierer Greco gibt es also noch einiges zu tun. Doch er leidet auf hohem Niveau. Das Eigenkapital beträgt üppige 32 Milliarden bei – im Vergleich zu Banken – tiefem Risiko, der diesjährige Reingewinn dürfte bei mehr als drei Milliarden liegen, und die hohe Ausschüttungsquote federt etwaige Kurs-Tristesse ab. Für Greco gilt: Wenn er Visionen hat, steigt er vom Rennrad und geht zum Augenarzt.
Dieser Text erschien in der Januar-Ausgabe 01/2018 der BILANZ.