BILANZ: Mark Fuller, Sie sind seit fast 30 Jahren Unternehmensberater. Wie hat sich die Consulting-Industrie in dieser Zeit verändert?

Mark Fuller: Sie hat sich ganz gewaltig verändert. Viele Unternehmensberater würden mir heute gar nicht glauben, wenn ich die damaligen Zustände schildere. Natürlich gab es kein Fax und keine Handys und keine Computer und keine Powerpoint-Präsentationen und keine Excel-Tabellen. Wenn man damals an einer grossen Übernahme oder einer Fusion arbeitete, dann nahm man den Taschenrechner, setzte sich in der Mitte eines grossen Raumes auf den Fussboden und rechnete auf gewaltigen Papierrollen monatelang den Wert einer Firma aus. Vor allem aber fehlten die Konzepte: Consulting war nicht nur eine Branche ohne Technologie und ohne Rechenpower, es war auch eine Branche, die gerade erst anfing, methodische Ansätze zu akzeptieren.

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Woher kam dann das Fachwissen, für das die Berater Geld verlangten?

Aus der Erfahrung in der jeweiligen Industrie: Als Berater war man schon lange mit dabei und hatte entsprechend viel gesehen. So konnte man Empfehlungen abgeben. Aber nur Empfehlungen, nie Implementierung und Ausführung. Das wäre Kontaminierung gewesen.

Warum?

Damals dachte man, das sei der Job des Managers, nicht unserer. Wir sind die unabhängigen Dritten, die Rat geben. Wenn wir uns um die Ausführung hätten kümmern müssen, wären wir nicht mehr unabhängig gewesen. Ich glaube nicht, dass heute noch ein Consultant so denkt. Heute geht es darum, Sachen wirklich umzusetzen. Die Branche hat sich fundamental geändert – übrigens ungefähr alle zehn Jahre, seitdem ich mit dabei bin.

Wobei die Branche in den letzten Jahren nicht unbedingt ein positives Bild abgegeben hat: Beim Untergang von Swissair, Enron oder WorldCom haben auch die Berater eine Rolle gespielt.

Für die ganze Beraterindustrie gilt, dass unsere Kunden sich in einem immer globaleren und härteren Wettbewerbsumfeld behaupten müssen. Enron war im Energiegeschäft tätig, das vorher stark reguliert war und in das nun der Wettbewerb Einzug hielt. Swissair war in einer Industrie tätig, die ebenfalls zunehmend liberalisiert wurde. Diese Unternehmen mussten sozusagen ihr Flugzeug während des Fluges umbauen. Und dabei kann man leicht die Orientierung verlieren. Insbesondere die moralischen Werte.

Was meinen Sie damit?

Ich bin überzeugt, dass keine Firma langfristig wettbewerbsfähig sein kann, wenn sie nicht mit moralischen Werten geboren wurde. Das waren häufig die Werte des Gründers, der Familie, manchmal derjenigen, die das Unternehmen gross gemacht haben, oder manchmal sogar nationale moralische Werte, wie bei den japanischen Unternehmen, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen Beitrag zum Wiederaufbau ihres Landes leisten wollten. Aber wenn diese Firmen an die Börse gehen, sich globalisieren, wenn die Gründerfamilie nicht mehr da ist und das Unternehmen nicht mehr mit einem Land verbunden ist, sondern Aktionäre und Mitarbeiter rund um den Globus hat, dann lösen sich die moralischen Werte auf. Dann kommt man leicht in solche Probleme wie Enron. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Berater dafür sorgen müssen, dass ihr Kunde echte moralische Werte aufbaut und dass er diese Ziele nicht aus den Augen verliert.

Wollen das Ihre Kunden überhaupt? Consultants ruft man doch nur, wenn es um die Ausarbeitung neuer Strategien oder um Kostensenkungsprogramme geht.

Sie wären überrascht! Ich glaube nicht, dass ein CEO aufstehen und vor den Aktionären oder den Wall-Street-Analysten sagen würde: «Unser Unternehmen hat keine moralischen Werte!» Viele, wenn nicht alle Unternehmensführer haben sich darüber mindestens im Stillen schon Gedanken gemacht. Sie sehen es als Gesamtteil ihrer Strategie- und Führungsentwicklung. Und sie suchen Rat, wie man diese Werte ausarbeitet.

Es ist schon erstaunlich. Da sollen die Berater bei den Unternehmenschefs das nachholen, was deren Eltern bei der Erziehung offensichtlich versäumt haben: ihnen ein Wertefundament mitzugeben.

Um das ganz klar zu sagen: Ich glaube nicht, dass man jemandem moralische Werte lehren kann, der gar keine Werte hat. Aber wir haben herausgefunden, dass 80, 90, manchmal sogar 95 Prozent der Mitarbeiter diese Werte haben und dass sie sich ihnen verpflichtet fühlen. Aber das übersetzen sie nicht in das Unternehmen. Viele sagen, ich gehe jeden Tag acht Stunden für meine Firma arbeiten, und in dieser Zeit hat die Moral Ruhepause. Und dann gehe ich nach Hause, hole meine Werte hervor und beteilige mich an einer Non-Profit-Aktivität, gehe in die Kirche oder was auch immer. Wir wollen, dass sie diese Werte auch am Arbeitsplatz ausleben.

Hehre Ziele, aber wie wollen Sie das bewerkstelligen?

Es geht darum, die moralische Energie der Leute zu aktivieren und so zu kanalisieren, dass sie den Gesamtzielen der Firma zugute kommt. Eine Unternehmensberatung kann diese Mechanismen schaffen. Zum Grossteil geht es doch darum, etwas bereits Existierendes noch transparenter zu machen, noch greifbarer, noch reeller. Es ist, wie wenn man die Kunden und die Assets eines Unternehmens nimmt und mit einem Strategieprozess auf eine neue, konsistentere Art zusammensetzt. In vielen Unternehmen gibt es leider eine historisch gewachsene Abneigung, über diese Themen überhaupt nur zu sprechen. Aber diese Abneigung nimmt von Tag zu Tag ab.

Unternehmensberater wollen immer alles messen und vergleichen: Wie messen Sie, ob und in welchem Mass eine Firma moralische Werte befolgt?

Diese Werte dürfen nicht nur auf das Topmanagement beschränkt sein, sie müssen sich durch die ganze Firma ziehen. Um das zu messen, kann man die Mitarbeiter befragen, an welche Werte sie glauben. Oder man kann jene Verhaltensarten unter den Mitarbeitern identifizieren und zählen, die man diesen Werten zuschreibt. Oder man kann die Kunden und Lieferanten fragen, ob sich die eigenen Mitarbeiter wertegerecht verhalten. Es gibt also durchaus Möglichkeiten. Aber jedes Unternehmen muss für sich die richtige finden, man kann das nicht einfach importieren.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: Zuerst versagt die Beraterbranche bei solchen Fällen wie den oben genannten, bei Enron & Co., und dann macht sie sogar noch ein Geschäft daraus, indem sie moralisches Verhalten zum neuesten Trend erklärt und den Kunden genauso verkauft wie vorher die ISO-Zertifizierung, ein 6-Sigma-Programm oder Business-Process-Re-Engineering!

Sie haben Recht, dass die Beraterbranche während vieler Jahre immer wieder irgendwelchen Trends hinterhergerannt ist. Manche davon waren wertvoll und nützlich, andere reine Zeit- und Geldverschwendung. Die Frage der moralischen Werte ist nicht erst nach Enron aufgekommen, sondern über viele Jahre entstanden. Heute muss sich ein Unternehmen viel mehr Gedanken machen als früher, wie es auf unterschiedliche Ansprechgruppen wirkt – auf die Mitarbeiter, die Kunden, die Aktionäre, die Medien, die Politiker, die NGO. Das geht leichter, wenn man klare und konsistente moralische Werte hat und diese auch lebt. Das heisst natürlich nicht, dass das kein gutes Geschäft für die Unternehmensberater wäre. Doch, es ist ein gutes Geschäft! Aber es ist eines, das den Kunden langfristig echten Nutzen bringt – im Gegensatz zum Jahr-2000-Problem oder zu sonst einem Thema, das während zweier Jahre angesagt ist und danach wieder verschwindet.

Wie wird das Consulting-Geschäft in Zukunft aussehen?

Ich glaube, die bisherige Consulting-Industrie, insbesondere jene des traditionellen Generalmanagements, ist in einer Phase des Niedergangs. Jedes Jahr wird schlechter sein als das vorhergehende. Consulting wird bedroht durch Substitutionsprodukte, wie sie die Forschungsorganisationen anbieten, durch Rückwärtsintegration der Kunden, die einen Grossteil der Arbeit selber machen, durch Vorwärtsintegration von Informatsanbietern usw. Kurz: Es herrscht grösserer Wettbewerb, die Preise sinken, es kommt zu Konsolidierungen wie in jeder reifen Industrie. Sie haben gesehen, was mit Arthur D. Little, A.T. Kearney und Ernst & Young passiert ist …

… Arthur D. Little ist in den USA unter Chapter 11 gegangen, A.T. Kearney soll verkauft werden, Ernst & Young zerschlägt sich gerade selber.

Genau. Und viele der kleinen Beratungsboutiquen werden von den grossen geschluckt. Es gibt härteren Wettbewerb. Das bedeutet, das klassische Beraterteam mit einem Partner an der Spitze, zwei erfahrenen Consultants und ein paar Juniors wird verschwinden. Dieses Geschäft wird über die nächsten fünf bis zehn Jahre sehr stark herausgefordert werden.

Das klingt, als würden die Berater jetzt dringend ein paar Berater brauchen!

Vielleicht. Vielleicht brauchen sie auch mehr Unternehmer. Am Ende müssen die Berater ihr Angebot rücksichtslos erneuern. Sie können nicht mit den Inhalten weiterfahren, die sie heute bieten. Das ist für viele der Unternehmensberatungen sehr schwer, denn die meisten lieben ihre Powerpoint-Präsentationen, sie lieben ihre Projektteams. Wenn man das 20 oder 30 Jahre lang gemacht hat, ist das sehr schwer zu ändern.

Was braucht es also?

Es braucht mehr Rund-um-die-Uhr-Service und weniger sechsmonatige Studien. Es muss mehr Weiterbildung angeboten werden und weniger Consulting. Und es wird darum gehen, mehr echte Veränderungen bei und mit dem Kunden zu erzielen, statt einfach nur fröhlich Ratschläge zu verteilen.

Und wie bereiten Sie Ihr eigenes Unternehmen darauf vor?

Ich predige meinen Mitarbeitern dasselbe, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Wir investieren stark in die Führungskräfte unseres Unternehmens. Es geht darum, nicht nur den IQ zu steigern, sondern auch die Fähigkeit zuzuhören und den EQ, die emotionale Intelligenz, zu fördern. Und wir haben ziemlich radikal neu definiert, wofür die Monitor Group steht. Weg vom reinen Consulting zu einer ganzen Palette an Diensten: 1998 sind wir ins Private-Equity-Business eingestiegen. Wir investieren in neue Märkte, in Start-ups und Ventures. Und wir haben eine Einheit, die sich nur um die Weiterbildung und die Ausbildung neuer Fähigkeiten bei den Kunden kümmert. Das ist unser am schnellsten wachsender Bereich! Und natürlich investieren wir einen grossen Teil unseres Umsatzes in Forschung und Entwicklung, damit wir unseren Kunden neue Inhalte bieten können.

Auf Deutsch, Sie diversifizieren. Und zugleich erzählen Sie Ihren Kunden, sie sollten sich auf ihre Kernkompetenzen fokussieren. Wie passt das zusammen?

Das ist ein sehr valabler Einwand! Zum einen denke ich, dass unsere Kernkompetenz nicht Beratung ist …

… nanu, Monitor nennt sich «internationale Strategieberatung»!

Es ist mehr als das. Unsere Kernkompetenz ist die Entwicklung von Inhalten und das Entwickeln und Aufbauen von Fähigkeiten bei unseren Kunden. Ich sehe Monitor als innovative, differenzierte Inhaltsentwicklungsmaschine. Ich hätte gar kein Problem damit, das Consulting auszulagern und stattdessen Lizenzgebühren für den dabei verwendeten Inhalt zu kassieren, wenn das technisch machbar wäre. Und ja, wir empfehlen vielen Unternehmen, sich auf ihre Kernkompetenzen zurückzubesinnen, weil sie bereits an die Grenze ihrer Fähigkeiten gelangt sind. Aber ich glaube, Monitor hat ausreichend Fähigkeiten, sich über ihr Kerngeschäft hinaus zu entwickeln, solange die neuen Gebiete damit verwandt sind. Es gibt genug Beispiele für eine erfolgreiche Diversifikation aus dem Kerngeschäft heraus.

Aber nicht unbedingt im Beratungsgeschäft.

Wir sind keine erhabene, 150 Jahre alte Institution, deren Sicht der Dinge auf einem religiösen Text basiert und sich nicht ändern darf. Wir sind eine Beratung, die von fünf Unternehmern gegründet worden ist, die alle noch aktiv sind. Das Unternehmer-Gen in unserer DNA ist also ziemlich stark. Und wir probieren durchaus auch einmal ein paar Dinge aus. In 50 Jahren sind wir vielleicht genauso institutionell und bürokratisch wie andere in dieser Branche und haben unseren Unternehmergeist verloren. Aber noch haben wir ihn!