Am 8. März sorgte Angela Merkel nach mehr als zwölf Jahren Amtszeit für eine Premiere: Erstmals veröffentlichte sie zum Weltfrauentag eine Video-Botschaft. Und der Ton der kurzen Ansprache – explizit nur an Frauen gerichtet – war betont kämpferisch. Die Frauen hätten zwar viel erreicht, aber das reiche bei weitem nicht. «Wir wollen Politik gestalten, in der Familie und in der Arbeitswelt politische Verantwortung übernehmen.»

Abgesehen davon, dass man rätseln kann, was politische Verantwortung in der Familie eigentlich bedeutet – die Ansprache steht für etwas, das die vierte Amtszeit Angela Merkels auszeichnen könnte: Denn zu Beginn der vermeintlich letzten Legislaturperiode entsteht der Eindruck, dass die Kanzlerin energischer und ungeduldiger als früher Akzente bei Themen setzen will, die ihr selbst wichtig sind – Frauen, Europa, Digitalisierung und der Kampf gegen das Auseinanderdriften der Gesellschaft.

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Fast wirkt sie wie ein US-Präsident in seiner zweiten und letzten Amtszeit: Befreit vom Schielen auf eine Wiederwahl und die dafür nötigen Kompromisse kann gelöster regiert, können eigene Schwerpunkte gesetzt werden. Merkel selbst sprach die Endlichkeit ihrer Kanzlerschaft an, als sie im Februar darauf verwies, dass nach zwölf Jahren Amtszeit klar sei, dass keine weiteren zwölf Jahre folgen würden.

Begrenzter Handlungsspielraum für Merkel

Tatsächlich wird eine Entschlossenheit und Befreiung nach der langwierigen Regierungsbildung auch in ihrer Umgebung wahrgenommen. Allerdings werden zugleich die Erwartungen gedämpft, was etwa eine mögliche «Basta»-Kanzlerin betrifft. Zudem ist die Gestaltungsfreiheit einer deutschen Regierungschefin begrenzt: «Es gibt eben fundamentale Unterschiede zu einem US-Präsidenten», sagt etwa der Politologe Gero Neugebauer. «Merkel wird sich nie ganz gehen lassen können, schon weil sie als CDU-Chefin auch will, dass ihre Partei 2021 wieder stärkste Kraft wird.»

Auch im Merkel-Lager wird betont: «Der Rahmen für ihr Handeln wird und kann nur immer die Koalition und der Koalitionsvertrag sein.» Das begrenzt ihren Handlungsspielraum erheblich – genauso wie die Abhängigkeit von anderen Akteuren, vom Bundesrat bis zu den EU-Partnern oder den Eskapaden eines US-Präsidenten. Dennoch, so heisst es übereinstimmend bei vielen Unions-Politikern, hat sich bei Merkel zu Beginn der vierten Amtszeit etwas verändert.

Angela Merkel erhält von Frank-Walter Steinmeier die Ernennungsurkunde zur Bundeskanzlerin

Bundeskanzlerin Angela Merkel erhält von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ernennungsurkunde.

Quelle: Michele Tantussi / Getty Images

Mission Digitales

«Im Kanzleramt gibt es ja auch noch eine Bundeskanzlerin. Und die hat glücklicherweise einen Kanzleramtsminister. Dem helfen Staatsminister.» Mit dieser leicht schnippischen Bemerkung beendete Merkel am 12. März die wabernden Spekulationen, wer in der neuen grossen Koalition eigentlich für das Thema Digitalisierung zuständig sein wird. Und der bei der Pressekonferenz neben ihr sitzende CSU-Chef Horst Seehofer brachte nur ein «Ja, genau so ist es» heraus.

Dabei hatten die Christsozialen tagelang getrommelt, die CSU-Politikerin Dorothee Bär werde als Staatsministerin im Kanzleramt nun die zentrale Figur der Digitalisierung in der Bundesregierung werden. Aber Merkel betrachtet dieses Technologiethema schon seit Jahren als Schicksalsfrage für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas – und damit als Chefsache. Und die Politikerin, der oft Zögern vorgeworfen worden war, dringt jetzt auf Tempo.

Dorothee Bär CSU

Dorothee Bär: Die CSU-Politikerin will die Digitalisierung in Deutschland ordentlich voranbringen.

Quelle: NurPhoto/Getty Images

Schon vor der Wahl hatte eine unzufriedene Merkel angesichts des schleppenden Tempos etwa beim Breitbandausbau betont, dass sie die Koordinierung künftig bei sich bündeln wolle. Zwar war dies in den Koalitionsverhandlungen mit SPD und CSU zunächst nicht durchsetzbar. Aber Merkel zeigte kurzerhand, wie trickreich sie sein kann, wenn ihr etwas wirklich wichtig ist.

Weil die CSU bei drei männlichen Ministern zumindest einer Frau einen Posten bieten wollte, holte die Kanzlerin Bär ins Kanzleramt – aber eher als eine Art Öffentlichkeitsbeauftragte für das Thema. Das Heft, das macht Merkel auch hinter den Kulissen klar, werde sie diesmal selbst in der Hand halten, zusammen mit ihrem Kanzleramtschef Helge Braun.

Zu drängend findet die Kanzlerin mittlerweile das Problem – und zu klein das Karo der Berliner und Brüsseler Debatten angesichts der rasend schnellen technologischen Entwicklungen etwa in China und den USA. Schliesslich warnt Merkel seit 2013, dass die EU von den IT-Giganten in den USA und China komplett an den Rand gedrängt werde. Bis 2021 will sie zumindest den Versuch unternehmen dagegenzuhalten, versucht mit gleichgesinnten EU-Regierungschefs Allianzen für den Aufbau einer eigenen Wertschöpfungskette im IT-Sektor zu schmieden.

Die Crux: Sie kann die Aufholjagd nicht alleine bewältigen, sondern braucht eine Vielzahl von Mitspielern, die am selben Strang ziehen. Dabei hat Merkel bereits die Erfahrung gemacht, dass sich deutsche Firmen ungern für gemeinsame strategische Ziele verhaften lassen - während sich China oder die USA sehr gezielt und oft im Schulterschluss zwischen Politik und Wirtschaft für dieses Jahrhundert aufstellen.

Breitbandausbau

Ein Arbeiter legte ein Glasfaserkabel in Bayern.

Quelle: Michael Gottschalk/Getty Images

Mission Europa

Dass zumindest Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihre Leidenschaft für die Digitalisierung teilt, erklärt zum Teil die enge Zusammenarbeit der beiden. Fast noch wichtiger ist aber die gemeinsame Überzeugung, dass sich Europa weiterentwickeln muss, wenn es nach dem britischen EU-Austritt im April 2019 nicht vollends kollabieren soll. Bisher hat Merkel vor allem die Rolle einer «Mrs. Fix-it» spielen müssen – sie eilte von einer Krisenentscheidung zur nächsten, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Aber nun sieht sie die EU vor der nächsten Phase. Nachdem alle Euro-Staaten wieder wachsen, «geht es jetzt darum, den Euroraum nachhaltig zu stabilisieren», unterstrich Merkel am Montag.

Mit anderen Worten: Nach dem Pflichtprogramm soll jetzt die Kür folgen - und Merkel hat eigenhändig mit SPD und CSU das wohl weitreichendste Europa-Kapitel in einem deutschen Koalitionsvertrag ausgehandelt. Es reicht vom Bekenntnis, mehr Geld nach Brüssel überweisen zu wollen, über die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion bis zum Einstieg in eine engere Zusammenarbeit in der Verteidigung, des Aussengrenzschutzes, der Migration, bis hin zu sozialen Fragen.

Auch wenn Macron und Merkel unterschiedliche Konzepte für die Euro-Zone haben, sind sie sich in einem völlig einig: Die Antwort auf die weltweiten Gefahren und Fliehkräfte soll eine beschleunigte EU-Integration sein. Und die will Merkel auch gegen die Kritiker in den eigenen Reihen durchsetzen, die reflexhaft vor einer «Transferunion» warnen.

Angela Merkel und Emmanuel Macron

Angela Merkel und Emmanuel Macron ziehen am gleichen Strang.

Quelle: Anadolu Agency/Getty Images

Mission gleiche Lebensbedingungen

Was Merkel offensichtlich gleichermassen bewegt, ist die Angleichung der auseinanderdriftenden Lebensverhältnisse in Deutschland und die Entpolarisierung der Gesellschaft. Dies hat einen doppelten Grund: Zum einen hat die Kanzlerin selbst gemerkt und auch öffentlich eingeräumt, dass sie durch die Flüchtlingskrise ihre Rolle gewechselt hat. War ihr früher ein eher präsidialer Regierungsstil vorgeworfen worden, wurde sie durch ihr Agieren in der Flüchtlingskrise plötzlich zur Polarisiererin.

Ende 2016 begründete sie ihr langes Zögern bei der Frage einer vierten Kanzlerkandidatur genau mit dieser Unsicherheit, ob sie selbst nicht die deutsche Gesellschaft vielleicht mehr spaltet als eint. Bis 2021 will Merkel nun die Gräben wieder schliessen helfen – sicher mit Blick auf ihre Regierungsbilanz, aber auch darauf, der rechtspopulistischen AfD das politische Wasser abzugraben.

Aber mit dem blossen Feilen am EU-Aussengrenzschutz oder dem im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Asylpaket ist es dabei für Merkel nicht getan. Vielmehr sieht die CDU-Chefin, die ihren Wahlkreis im äussersten Nordosten der Republik hat, vor allem in ländlichen Gebieten die wachsende Verunsicherung der Menschen, die sich trotz boomender Wirtschaft immer mehr abgehängt fühlen.

Bei Touren in ihrem Wahlkreis bekommt Merkel hautnah zu spüren, wie sehr Landflucht die Grundversorgung bei Medizin, Einkaufen oder dem öffentlichen Nahverkehr zusammenbrechen lassen. Trotz insgesamt sinkender Arbeitslosenzahlen drohen ärmere Gegenden immer ärmer und reiche Regionen immer reicher zu werden. Und in den Städten spaltet der Wohnungsmangel und die steigenden Mieten ebenfalls die Bevölkerung.

Landarzt in Deutschland

Ärztemangel auf dem Land: Mediziner wollen nicht in die Provinz, sie bevorzugen die Stadt.

Quelle: Carsten Koall / Getty Images

Wer den Kampf für mehr Chancengleichheit für blosse Rhetorik bei Merkel hält, sollte an ihre erste Legislaturperiode nach 2005 denken. Damals setzte die ostdeutsche Kanzlerin gegen starken Widerstand in SPD, CSU und auch CDU den umstrittenen Gesundheitsfonds durch - der für sie vor allem eine regionalpolitische Bedeutung hatte. Auf einen Schlag wurden die grossen regionalen Differenzen bei den Krankenkassenbeiträgen in Deutschland radikal beseitigt. Denn bis dahin wurden wohlhabende Regionen auch noch dafür belohnt, dass die Krankenkassen dort Versicherten und Firmen billigere Krankenkassenbeiträge anbieten konnten.

In Merkels Heimat Mecklenburg-Vorpommern sorgten dagegen eine hohe Arbeitslosigkeit und die Überalterung der Bevölkerung für erheblich höhere Kassenbeiträge – was Firmen zusätzlich abschreckte.

Die Landflucht hat die damalige Reform dennoch nicht beseitigt – hier sollen nun der Breitbandausbau und intelligente Verkehrskonzepte ansetzen. Zumindest das alltägliche Problem einer immer prekärer werdenden ärtzlichen Versorgung in ländlichen Gebieten hatte Merkel bereits einen Tag vor der Bundestagswahl im September 2017 im wahrsten Sinne des Wortes auf die Knie gezwungen: Auf einer Bühne auf dem Marktplatz in Greifswald übte sie vor 500 Gleichgesinnten die Wiederbeatmung von Patienten. Das war keine abstrakte Übung, sondern schlichtes Überlebenstraining: Denn im dünn besiedelten Merkel-Wahlkreis kann es lange dauern, bis im Notfall ein Arzt kommt.

Nun hat sie mit CSU-Chef Seehofer einen starken Verbündeten, der das Problem auch mit seinem «Heimatministerium» adressieren will. Die Crux: Er kommt ausgerechnet aus Bayern, einem der reichsten Bundesländer, dessen Vertreter in Berlin gerne mit dem Anspruch «Bayern first» auftreten. Mit Stolz hat CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt schon darauf verwiesen, dass die Regionalpartei über 75 Prozent aller Investitionsmittel der großen Koalition bestimmen kann.

Angela Merkel und Horst Seehofer

Starke Verbündete: Angela Merkel und Horst Seehofer.

Quelle: Anadolu Agency/Getty Images

Mission Frauen

Mehrfach hat die CDU-Chefin in den vergangenen zwölf Jahren als Kanzlerin zudem betont, dass Gesellschaften weltweit besser funktionieren und stabiler sind, wenn Frauen gleichberechtigt in Politik und Wirtschaft mitarbeiten. Und auch wenn in ihrem Umfeld bestritten wird, dass Merkel bereits an ihren Platz in den Geschichtsbücher denkt – sie selbst hat im Hinblick auf Frauenförderung durchaus an die Nachwelt gedacht: «Wenn ich eines Tages auf mein politisches Leben zurückblicke, möchte ich da nicht lesen: selber Karriere gemacht, aber für andere Frauen nichts getan», hatte sie schon 2005 gesagt.

Merkel arbeitet seit Jahren ohne grosses öffentliches Aufsehen intensiv an Netzwerken von Frauen, sowohl national als auch international. Zwar lehnte sie den Begriff «Feministin» bis zum Frühjahr 2017 für sich ab. Erst als die niederländische Königin Maxima ihr bei einer Veranstaltung mit Ivanka Trump in Berlin erklärte, eine Feministin sei eine Frau, die die Gleichberechtigung aller anderen wolle, sagte Merkel: «Dann bin ich auch eine.» In ihrem vierten Wahlkampf als Kanzlerkandidatin kündigte sie dann erstmals an, dass künftig die Hälfte der CDU-Posten im Kabinett an Frauen gehen werde.

Und zur allgemeinen Überraschung hat die CDU-Chefin dies nun übererfüllt: Am Kabinettstisch sitzen für die CDU mit ihr selbst 4 Frauen und drei Männer – und hinzu kommt als Überraschungscoup die neue Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die «männliche Welt», so flachste Merkel, werde dafür bei den nachgeordneten Parlamentarischen Staatssekretären stärker bedacht.

Annegret Kramp-Karrenbauer

Überraschungscoup: Annegret Kramp-Karrenbauer ist die neue CDU-Generalsekretärin.

Quelle: Keystone

Der Coup, die saarländische Ministerpräsidentin zur engsten Mitarbeiterin an der Parteispitze zu benennen, entlastet die Kanzlerin gleichzeitig von der Programmarbeit - so dass sie sich ganz auf das Regieren konzentrieren kann. Seit langem sei Merkel nicht mehr so glücklich und entspannt gewesen, beschreiben enge Mitarbeiter ihre Stimmung.

Die starke Berücksichtigung für Frauen ist dabei nicht nur eine Form der Machtsicherung für eine Kanzlerin, die sich innerparteilich einer Riege konservativer, vor allem männlicher Kritiker gegenübersieht. Merkel, so heisst es, wolle im Duo mit Kramp-Karrenbauer die weitere Entwicklung der CDU vorprägen – auch für die Zeit nach ihrem Abtreten. Denn beide Frauen sind davon überzeugt, dass die Partei nur den angestrebten zentralen Platz der stärksten Mitte-Partei Deutschlands auf Dauer besetzen kann, wenn sie «weiblicher, jünger, bunter» wird, wie dies der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber bezeichnet hatte. Die Crux: Sowohl in der Bundestagsfraktion als auch beim Unions-Nachwuchs dominieren die Männer.

(reuters/ccr)