Das Amtsenthebungsverfahren gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist eröffnet. Die Ära der Linksregierung dürfte damit zu Ende gehen. An die Spitze der Übergangsregierung tritt mit Rousseffs bisherigem Vizepräsidenten Michel Temer ein Mann, der schon seit Jahrzehnten Politik macht. Stets edel gekleidet, ein bekennender Freund der Dichtkunst, gilt er als ruhig, fast abwartend - und als Meister der Beherrschung mit Kalkül. Temer ist seit 15 Jahren Vorsitzender der Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB), die sich in der Mitte des politischen Spektrums verortet.

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Sollten zwei Drittel der 81 Mitglieder des Senats am Ende des Verfahrens für eine Amtsenthebung Rousseffs stimmen, wird Temer für den Rest ihrer offiziellen Amtszeit bis zum 31. Dezember 2018 als Präsident bestätigt. Bei den folgenden Wahlen wolle er jedoch nicht kandidieren, sagt er. Das überrascht wenig: Einer aktuellen Umfrage des Instituts Datafolha zufolge würde nur ein Prozent der Befragten Michel Temer wählen.

Gelassene, geduldige Haltung

Dennoch - mit seiner jahrelangen Erfahrung entlang verschiedenster politischer Spektren gilt Temer für seine Partei als unverzichtbar in der Vorbereitung auf die nächste Wahl. Als starken Chef einer Übergangsregierung sieht man ihn allemal.

Wegbegleiter des 75-Jährigen loben seine gelassene, geduldige Haltung, seine Fähigkeit, politischen Verbündeten und Gegnern gleichermassen zuzuhören. Ein Führungsstil, der nicht in stärkerem Kontrast zu dem Rousseffs stehen könnte, deren Äusserungen oft unverblümt und brutal direkt wirken.

Poet und Widersacher Rousseffs

Temer, der in Sao Paulo geboren wurde, ist fünffacher Vater, verheiratet mit der 43 Jahre jüngeren Marcela Temer. Einen Gedichtband hat er veröffentlicht, mit kurzen Versen über die weibliche Schönheit, aber auch mit versteckten Anspielungen auf Brasiliens unruhige Politiklandschaft.

Seine politische Karriere begann der Sohn libanesischer Einwanderer, die 1925 nach Brasilien kamen, in den Sechzigerjahren als Assistent für den Staatssekretär für Erziehung in Sao Paulo. Bevor er 2011 Vizepräsident Rousseffs wurde, gehörte Temer der Abgeordnetenkammer an, wo er sich sowohl mit linken Kräften als auch mit Kräften aus der Mitte des politischen Spektrums zusammentat.

«Bestimmend, aber nicht aggressiv»

Anhänger sehen genau diese Flexibilität, aber auch sein ruhiges Auftreten als Temers grösste Stärke. Fluchen hört man ihn selten, dem Schlachtgetümmel des Kongresses und theatralischen Gestikulieren vieler Abgeordneter hat er sich nie angeschlossen. «Temer ist bestimmend, aber nicht aggressiv. Er redet, aber nie zu viel. Er ist beherrscht. Und er hat gezeigt, dass er mit allen verhandeln kann, ob links oder rechts», sagt etwa Politjournalistin Eliane Cantanhede. Doch obwohl die businessorientierte Politik Temers Aktienmarkt und Währung Brasiliens entlastet, fürchten Investoren, sein Führungsstil sei nicht bestimmend genug, um die Wirtschafts- und Polit-Krise zu bewältigen.

Die Herausforderungen, die auf den zumindest vorrübergehenden Staatschef Brasiliens zukommen, sind beträchtlich. Um der grössten Volkswirtschaft Lateinamerikas den Weg aus der stärksten Rezession seit 1930 zu ebnen und die wirtschaftliche und politische Hängepartie zu beenden, wird Temer schnell handeln müssen. Auf die Unterstützung der Arbeiterpartei kann er dabei nicht bauen. Denn die Gräben zwischen Rousseff und Temer sind tief.

Von der Staatschefin abgewandt

Im Dezember hatte sich der Vizepräsident bereits in einem weitverbreiteten Schreiben von der Staatschefin abgewandt und sie beschuldigt, ihn als Regierungspartner beiseitegeschoben und ausgenutzt zu haben. Rousseff und ihre Arbeiterpartei bezichtigen Temer ihrerseits des Verrats.

Seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie 1985 stand Temers Partei PMDB unterstützend an der Seite der Regierungsparteien. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 aber will sie einen eigenen Kandidaten stellen - den Weg dahin soll nun Michel Temer ebnen.

(reuters/ccr)