Als das Probehemd ihm am Oberkörper sass wie ein inniges Versprechen, bestellte der Kunde bei Margarethe Graf auf einen Streich sechzig Masshemden. Zwanzig Stück für jeden seiner drei Wohnsitze, um immer perfekte Hemden genau nach seinem Wunsch zur Hand zu haben. Seit zwölf Jahren besitzt Margarethe Graf am Kreuzplatz in Zürich die Chemiserie Wellis. Es ist das einzige Atelier der Schweiz, in dem noch Hemden und Blusen nach Feinmass gefertigt werden. «Kunden, die sich ein Hemd nach Feinmass schneidern lassen, tun das in erster Linie für sich selbst», sagt sie. «Das ist kein Statement nach aussen wie eine protzige Uhr. Mit einem solchen Hemd verwöhnt man sich selber.»

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Nur wer ein besonderes Auge hat, erkennt bei jemand anderem das Masshemd. Die Passform ist perfekt, der Stoff aussergewöhnlich. Wer es trägt, findet nirgends zu viel oder zu wenig Stoff. Der Kragen nach Wunsch hoch oder niedrig, weich oder etwas härter, Haifisch oder Kent – aber im Umfang immer passend.

Jedes Stück ist ein Unikat, auf den Körper des Trägers zugeschnitten. Erst wird ein individuelles Schnittmuster für jeden einzelnen Kunden hergestellt, dann wird einmalig ein Probehemd geschneidert. Nach einer Anprobe und Änderungen werden die Hemden von Hand genäht. «Man findet kaum noch Leute, die das können», sagt Margarethe Graf, die mit Böhny an der Zürcher Augustinergasse noch ein zweites Spezialgeschäft für Accessoires, Hemden und Blusen führt. Der Beruf der Weissnäherin ist in der Schweiz ausgestorben, und in der Kunst der Hemdenschneiderei wird niemand mehr ausgebildet.

Margarethe Graf hatte Glück, sie fand Mitarbeiterinnen aus Italien und Polen, die das Handwerk noch beherrschen und im Atelier am Kreuzplatz mit Engelsgeduld Knopflöcher säumen, die Krägen aus Schichten aufbauen und die Teile des Hemdes sorgfältig zusammennähen können. Monogramme oder Familienwappen bringt eine Stickmeisterin am Stickrahmen von Hand an.

Sehnsucht nach handfesten Werten 

Wer ein Feinmasshemd bestellt, sucht sich den Stoff aus ägyptischer Baumwolle aus, den Graf beim appenzellischen Stoffproduzenten Alumo bezieht. Neben den Klassikern in Weiss und Blau gibt es eine riesige Auswahl an Farben und Webmustern – ideal für jeden, der sein persönliches Hemd tragen möchte. «Wir lieben das Kleine, Feine, handwerklich Sorgfältige», sagt Margarethe Graf. «Unsere Kunden sind Gleichgesinnte, die wie wir Wert auf gute, solide und kostbare Verarbeitung legen. Wir freuen uns, wenn die kleinen Unterschiede in der Herstellung bemerkt werden.»

Und von denen, die sie bemerken, gibt es einige. Sie sind all der Produkte überdrüssig, die sich, egal ob man sie in Paris, Zürich, London oder Singapur ersteht, überall auf der Welt zum Verwechseln ähneln. Gesucht sind Schuhe, Anzüge, Hemden oder Taschen, die Individualität ausdrücken. Der alte Ratschlag von Oscar Wilde, «Sei du selbst, jeden anderen gibt es schon», trifft den Zeitgeist genau.

Die Einsicht, dass es wichtig ist, selbst zur Marke zu werden, sowie der Wunsch nach Individualität haben sich in den letzten Jahren tief ins Bewusstsein eingegraben. Auf den Strassen mischen sich unter die dezent gewandeten Anhänger der «Ich will nicht auffallen»-Haltung immer öfters auch bunte Vögel, die ihr Outfit aufpeppen. Mal sachte mit einem farbigen Band an der Uhr, bunten Schnüren am Handgelenk, mal mutiger mit roten Hosen und bunten Socken, einem Anzug im Karomuster oder englisch mit Chalk Stripes. Es scheint, als sehne man sich in unseren Tagen, in denen das Leben oft in den virtuellen Raum abgeglitten ist, nach Handfestem, dessen Wert man spüren kann. Und man findet es bei den Produkten, die man am Leib trägt.

Die Sehnsucht nach Individualität und die Begeisterung für die Handwerkskunst sind die Geschäftsgrundlage von Christine Schuler, die unweit des Paradeplatzes in Zürich die Boutique Brogues and more betreibt. Schuhe kleiner Marken, die man in der Schweiz kaum bekommt, und solche, die auf Bestellung extra gemacht werden, verkauft sie in ihrem kleinen Laden. In einem Regal, das bis unter die Decke reicht, stehen Schuhmodelle, die sich der Kunde passgenau auf den Fuss anfertigen lassen kann. «Auswählen kann er die Farbe, das Leder und natürlich den Leisten», sagt sie. Je nach Leisten ist der Schuh breiter oder enger, hat einen niedrigen oder hohen Rist. Erst wenn man den richtigen wählt, sitzt er auch wirklich gut.

Ausgelagerte Produktion nach Mass 

Christine Schuler greift zu einem Bündel mit Ledermustern. Ein Oxford-Schuh lässt sich nicht nur in Schwarz, sondern auch in Braun oder Beige bestellen. Je nach Geschmack kann er aus glattem Leder oder Wildleder sein, die Sohle klassisch aus Leder oder mit Profil. Brogues kann man klassisch unifarben oder unkonventionell in zwei oder gar vier Farben haben. Der Tragemut findet hier kaum Grenzen. Wer seine Norweger-Schuhe nicht ganz so rustikal mag, kann rotes oder grünes Leder wählen. Auch ein Schlangenleder-Look ist möglich oder – noch ausgefallener – ein Schuh in Lachsleder. «Viele Kunden haben Freude, wenn sie sich damit beschäftigen, wie ihr Schuh aussehen soll.»

Hergestellt werden die Schuhe in Handwerksbetrieben wie der österreichischen Schuhmanufaktur Handmacher. Deren Schuhe sind besonders konstruiert – die Sohle ist mit Holznägeln befestigt. Wer legt beinahe 600 Franken für solche Schuhe auf den Tisch? «Das sind Männer und Frauen, die Qualität und das Handwerk schätzen», sagt Schuler, «und die Schuhkultur besitzen.»

Auf den Wunsch, Schuhe individuell gestalten zu können, haben auch grosse Marken reagiert. Über einen Online-Shop kann man zum Beispiel Sneakers von Nike oder Stiefel von Timberland konfektionieren lassen. Kleine Firmen wie die australische Shoes of Prey, die in ihrem Online-Shop individuell gestaltbare High Heels verkauft, erschliessen über das Netz einen ausreichend grossen Markt. «Männer beschäftigen sich immer mehr mit ihrem Äusseren», sagt Oliver Häberli, der in Basel den Laden Löwenzahn führt.

Massenkonfektion etabliert

In der St.-Alban-Vorstadt bietet er seinen Kunden neben der klassischen Massschneiderei vor allem Masskonfektion für Anzüge an. Richtige Massanzüge im Feinmass fertigen nur noch wenige Herrenschneider hierzulande. «Kunden geniessen es, die Stoffe auszuwählen und die Entscheidungen zu treffen, damit sie am Ende mit ihrem Anzug zufrieden sind», sagt Häberli.

In den letzten Jahren hat sich die Masskonfektion etabliert. Durch computerunterstützte und -gesteuerte Schnitttechnik ist es erst möglich geworden, individuelle Stücke zu den günstigen Kosten der industriellen Fertigung herzustellen. «Ein wirklicher Massanzug wird in 90 Stunden hergestellt und kostet schnell um die 6000 Franken.» Einer aus der Masskonfektion ist für ein Drittel zu haben – dafür passt er auch weniger gut. Häberli nimmt bei seinen Kunden Mass, wählt mit ihnen zusammen die Stoffe aus und legt die Details fest: etwa die Anzahl der Knöpfe, ob man einen Schlitz im Rücken des Sakkos möchte oder lieber zwei Seitenschlitze.

Wenig couragierte Schweizer 

Häberli arbeitet in der Masskonfektion mit Scabal zusammen, einem belgischen Stoffhändler, der Ende der 1980er Jahre das deutsche Textilunternehmen Tailor Hoff bei Saarbrücken gekauft hat und neben Brioni einer der grossen Anbieter in der Masskonfektion ist. Bei Tailor Hoff werden die Anzüge genäht.

Masskonfektion ist auch bei Hackett in Zürich zu haben. «Das Interesse der Kunden ist sehr gross, sich die Anzüge selbst zusammenzustellen», sagt Simone Scalone, Storemanager des Ladens. «Leider sind viele Schweizer bei Anzug und Hemd nicht gerade mutig.» Der Wunsch, die eigene Persönlichkeit zu unterstreichen, wird durch die Angst ausgebremst, im Büro allzu sehr aufzufallen. Besser angezogen zu sein als der Chef, ist für viele ein No-go. Doch einige Kunden trauen sich, Akzente zu setzen. Entweder wenn sie extravagante Anzüge machen lassen oder Stücke von der Stange kaufen, die sonst kaum einer trägt. «Rotkarierte Hosen zum Beispiel», sagt Scalone.

Beim Gedanken an Masskonfektion winkt der Schneider William Skinner ab, der in der Londoner Savile Row Dege & Skinner, eine Herrenschneiderei alter britischer Schule und mit dem Schnitt des Empires, führt. Viermal pro Jahr reist er nach Zürich, um bei seinen Kunden Mass zu nehmen oder einen Anzug zur Anprobe zu bringen. «Nur ein Massanzug passt wirklich perfekt», sagt er. Von modischem Schnickschnack, mit dem ein Anzug aufgepeppt wird, wie farbigen Knopflöchern, Nähten oder einer bunten Innenseite des Kragens, hält er wenig.

Der Anzug müsse die Persönlichkeit des Trägers betonen, sich aber diskret zurückhalten. «Sie möchten, dass man Sie und nicht Ihren Anzug in Erinnerung behält», sagt er. Neben Dege & Skinner haben auch andere Londoner Schneider, wie Henry Poole, die Schweiz auf ihrem Reiseprogramm – das Bedürfnis nach einem wirklich perfekt sitzenden individuellen Anzug jenseits der Masskonfektion ist diesseits des Kanals vorhanden.

Frauen in schwerer Lage

Frauen sind, was individuelle Bekleidung betrifft, im Vergleich zu den Männern in einer schwierigen Lage. Die billigere Option Masskonfektion gibt es für sie nicht, sodass nur der Weg zum richtigen Schneider oder zur Haute Couture bleibt. «Wirkliche Individualität bekommt eine Frau nur, wenn sie ein Einzelstück trägt», sagt Raphael Blechschmidt, der an der Basler Bäumleingasse ein Haute-Couture-Geschäft führt.

Zweimal pro Jahr veranstaltet Blechschmidt eine Modeschau mit seiner neuen Kollektion mit 30 verschiedenen Outfits und etwa 100 Teilen. Das Kleid, Deux-Pièces oder Jupe, das sich die Kundin auswählt, wird nach der Modeschau ihren Massen angepasst. Nach ein oder zwei Anproben sitzt es perfekt. «Meine Kundinnen tragen wirklich Unikate», sagt Blechschmidt.

Weil die Haute Couture ihren Preis hat, kaufen die Frauen eher wenige, dafür qualitativ hochwertige Kleidungsstücke, die sie vielfältig kombinieren. Ein Jupe beispielsweise, der zu einem festlichen Anlass passt, kann mit Jeans auch ohne weiteres zu einem Casual-Anlass getragen werden. Raphael Blechschmidt: «Mit einem solchen Stück verwöhnt eine Frau in erster Linie sich selbst.»