Um kurz vor drei Uhr morgens ist alles bereit für den grossen Moment. Wenige Stunden vorher war die Rakete aufgetankt und die über hundert Meter hohe Startrampe aus 4500 Tonnen Beton in einem gewaltigen Kraftakt zur Seite geschoben worden. Jetzt halten nur noch zwölf Bolzen die Delta IV Heavy an ihrem Metallgerüst. In 38 Minuten soll sie abheben. Konzentrierte Anspannung liegt über dem Startgelände am Cape Canaveral.

Das Kontrollzentrum fragt die Stationen ab:
«Hydraulik?», schallt es aus den Lautsprechern. – «Go!», kommt die Antwort.
«Triebwerkssteuerung?» – «Go!»
«Bordelektronik?» – «Go!»
Minutenlang geht das so, eine Station nach der anderen gibt grünes Licht. Und dann:
«Telemetrie»? – «No go!»

Schmerzvolle Stille legt sich über das Kennedy Space Center. «Abbruch!», tönt es schliesslich aus dem Lautsprecher. Die grosse Countdown-Uhr bleibt stehen, die Hunderte Fotografen, die die ganze Nacht in vier Kilometer Abstand auf der anderen Seite des Banana Rivers ausgeharrt hatten, bauen frustriert ihre Teleobjektive ab. Der grosse Moment findet nicht statt. Vorerst nicht.

«Natürlich war ich enttäuscht», wird Thomas Zurbuchen später sagen. «Aber es gehört zum Prozess, dass wir mit solchen Situationen umgehen können.»

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

L –3 Tage, 21 Uhr

Drei Tage vor dem geplanten Launch, am späteren Abend, war der gebürtige Berner Oberländer in Florida eingetroffen, mit einem Linienflug von Washington, wo die NASA ihre Zentrale hat und Zurbuchen sein Büro. Seit zwei Jahren ist er «Associate Administrator, NASA Science Mission Directorate», wie sein offizieller Titel lautet, anders gesagt: Forschungsdirektor der US-Weltraumorganisation. Zurbuchen definiert die wissenschaftliche Strategie der NASA mit ihren 17 000 Mitarbeitern, lanciert die Weltraummissionen und entscheidet über ein jährliches Budget von sechs Milliarden Dollar. 400 Mitarbeiter sind ihm direkt unterstellt, alleine 20 kümmern sich um seinen Terminkalender. «Ein ähnlich hohes Amt hat in den USA noch nie ein gebürtiger Ausländer bekleidet», sagt er selber. Sein Schwiizerdütsch hat dabei einen amerikanischen Unterton, sein Amerikanisch einen schweizerischen. Zurbuchen (50) lebt seit 24 Jahren in den USA.

Die Delta IV Heavy ist mit 70,7 Meter Höhe die grösste Rakete in Diensten der NASA. Ein Start kostet 350 Millionen Dollar.

Lastesel: Die Delta IV Heavy ist mit 70,7 Meter Höhe die grösste Rakete in Diensten der NASA. Ein Start kostet 350 Millionen Dollar.

Quelle: Gregg McGough für BILANZ

Es gibt wohl kaum eine staatliche Institution mit einer ähnlichen Strahlkraft wie die NASA. Und keine mit einer grösseren Bedeutung für die Wissenschaft. Alle zehn Jahre, das nächste Mal 2020, wird die Gemeinde der Weltraumforscher im ganzen Land gefragt, welches die wichtigsten Themen sind, die die NASA in den nächsten zehn Jahren angehen soll. «Ich bin sehr froh über diesen Prozess. Das hilft mir, Prioritäten zu setzen», sagt Zurbuchen. Das Wie bleibt dann ihm überlassen. Gleichzeitig ist so sichergestellt, dass wissenschaftliche Kriterien den Ausschlag für eine Weltraummission geben und nicht politische.

L –2 Tage, 13 Uhr

Gegen 13 Uhr sitzt Thomas Zurbuchen vor Medienvertretern in einem Konferenzgebäude des Kennedy Space Centers. Nur die quietschbunten Ringelsocken, sein Markenzeichen, setzen einen Gegenakzent zur formellen Garderobe des NASA-Offiziellen. Neben ihm sitzt Eugene Parker (91). Seit der Astrophysiker in den fünfziger Jahren errechnete, dass die Sonnenwinde Schallgeschwindigkeit erreichen, ist er unter Weltraumforschern ein Star.

Nach ihm ist die Sonde an Bord der Delta IV Heavy benannt, zum ersten Mal nach einem lebenden Wissenschaftler. Sie soll seine Theorien auch durch Messungen beweisen und Sonnenstürme besser vorherzusagen helfen, die Stromund Funknetze auf der Erde massiv stören können. Und sie soll Aufschluss darüber geben, warum die Corona der Sonne 350 Mal heisser ist als die Oberfläche – eine Tatsache, die allen physikalischen Gesetzen zu widersprechen scheint. Als würde Wasser bergauf fliessen. «Eine solche Mission stand seit 60 Jahren auf der Wunschliste der Astronomen», erklärt Zurbuchen den Journalisten. «Aber bislang gab es keine Materialien, die eine Sonde beim Anflug auf die Sonne hätten schützen können.»

Die bunten Ringelsocken (r.) sind das Markenzeichen von Thomas Zurbuchen. Im Hintergrund der Namensgeber der Sonnensonde, Eugene Parker.

Die bunten Ringelsocken (r.) sind das Markenzeichen von Thomas Zurbuchen. Im Hintergrund der Namensgeber der Sonnensonde, Eugene Parker.

Quelle: Gregg McGough für BILANZ

Zehn Jahre dauerte die konkrete Vorbereitung der Mission, 1,5 Milliarden Dollar kostet sie – eine der teuersten jener 107 Missionen, die Zurbuchen unter sich hat. Obwohl die Sonde mit bis zu 700 000 Stundenkilometern das bisher schnellste von Menschen geschaffene Objekt ist, wird sie erst 2024 den Höllenritt auf der Corona antreten und deren Daten zur Erde funken. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist Zurbuchen dann schon nicht mehr im Amt.

Dennoch ist die Mission für ihn «auch persönlich ein grosser Höhepunkt». Sie bringt ihn zurück zu den Anfängen seiner Karriere in Bern: In seiner Diplomarbeit in Astrophysik am International Space Science Institute konstruiert Zurbuchen ein Instrument, um den Sonnenwind zu messen – im Auftrag der NASA. 50 000 Franken Budget stellt ihm die Uni dafür zur Verfügung, viel für eine Diplomarbeit, wenig für solch eine Entwicklung. Doch das Gerät funktioniert – und tut es an Bord des Wind-Satelliten noch immer.

«Thomas interessiert sich nicht für stufenweise Verbesserungen, sondern will den grossen Wandel.»

Marc Weiser, ehemaliger Geschäftspartner und heute Freund Zurbuchens

Nach dem Doktortitel 1996 wechselt Zurbuchen zur University of Michigan, einer der grössten der USA. Eigentlich will er nach einem Jahr zurückkehren, doch die Karriere läuft zu gut dafür: Er baut eine Reihe weiterer Instrumente für die NASA und wird engagiert, um ihre Missionen zu beurteilen. Als Anfang der nuller Jahre mehrmals hintereinander und unter umstrittenen Umständen andere Messgeräte seinen vorgezogen werden, verlagert er seinen Schwerpunkt auf das Administrative. Er wird Dekan seiner Fakultät, später Provost (in der Schweiz am besten vergleichbar mit Prorektor) der Universität. Und obwohl er selber null unternehmerische Erfahrung hat, baut er das Center for Entrepreneurship auf, um unter den Studenten den Gründerspirit zu wecken und der wirtschaftlich gebeutelten Region zu helfen.

«Er hat das Denken der ganzen Universität mit ihren 55 000 Studenten verändert», sagt Lennard Fisk, langjähriger Förderer Zurbuchens in Michigan und in den achtziger Jahren ebenfalls NASA-Forschungsdirektor. «Thomas interessiert sich nicht für stufenweise Verbesserungen, sondern will den grossen Wandel», sagt Marc Weiser, Venture Capitalist (VC), ehemaliger Geschäftspartner und heute Freund Zurbuchens. «Dabei scheut er auch Risiken nicht.»

Thomas Zurbuchen

Der Berner ist als NASA-Forschungsdirektor der mächtigste Schweizer Wissenschaftler.

Quelle: Gregg McGough für BILANZ

Später leitet Zurbuchen ein nationales Innovationsnetzwerk. Er lernt so das Funktionieren der US-Administration verstehen und verkehrt mit Leuten wie Amazon-Gründer Jeff Bezos, Google-Gründer Larry Page oder Tesla-CEO Elon Musk. Nebenher betätigt er sich als VC.

Erfolg hat er, weil er hart und fokussiert arbeitet. Aber auch, weil er unheimlich wissbegierig ist: «Er interessiert sich für vieles und stellt immer Fragen. Mit ihm zusammen zu sein, kann auch ein bisschen anstrengend sein», sagt Simon Hefti, Ex-Kommilitone, später Mitarbeiter und heute Freund von Zurbuchen.

L –2 Tage, 20 Uhr

Am Abend eilt Zurbuchen zu einem der grossen Hangare auf dem Gelände. 150 Mitarbeiter sind dort versammelt, mit ihren Familien. Thomas Zurbuchen dankt den Ingenieuren für ihren Extraeinsatz: Die letzten drei Monate haben sie auf Cape Caneveral verbracht statt daheim in Washington. Denn im Vorfeld der Mission ging nicht alles glatt. «Wir hatten zwei, drei technische Probleme», sagt er. «Normalerweise sind die alle gelöst, wenn wir eine Raumsonde von Washington hierherschicken.» Diesmal dauerte es bis zum letzten Tag.

«Er ist unglaublich motivierend. Die Leute gehen für ihn durchs Feuer»

Rudolf von Steiger, Direktor International Space Science Institute Bern

Seine Dankesrede kommt an beim Publikum. Sie ist typisch für Thomas Zurbuchens Führungsstil: «Er ist unglaublich motivierend. Die Leute gehen für ihn durchs Feuer», sagt Rudolf von Steiger, Direktor am International Space Science Institute in Bern und langjähriger Weggefährte. Zurbuchen ist fordernd, setzt hohe Ziele und will Resultate sehen. Aber er lässt die Leute machen und fördert sie: Wenn seine Studenten in Michigan bis Samstag Projektaufgaben abliefern mussten, kam er Freitag nachts an die Uni und schaute, wie es den Teams ging. Und er ist nahbar, auch wenn ihn bei der NASA die meisten mit «Doctor Suhrbucken» ansprechen oder mit «Dr. Z» (nach seinem Twitter-Handle). Er kann mit allen, von der Putzfrau bis zum Kongressabgeordneten, den Boss hängt er nicht raus: «Thomas weiss um seine Fähigkeiten und seine Reichweite, aber im Alltag bleibt er bescheiden», sagt Hefti.

Hoch angerechnet wird ihm auch, dass er ohne Vorurteile an Entscheidungen herangeht: «Ich verbringe viel Zeit damit, die richtigen Leute um den Tisch zu bringen, Leute, die verschiedene Ideen haben», sagt er. Am Schluss geben harte Fakten den Ausschlag: «Er erklärt immer, welche Daten ihn zu seiner Entscheidung bewogen haben. Deswegen folgen ihm die Leute», sagt Marc Weiser. Nur mit In kompetenz kann er nicht umgehen: Bei der NASA hat Zurbuchen 70 Prozent der Leute unter ihm ausgetauscht oder an andere Stellen versetzt.

Die wichtigsten NASA-Missionen

Das James Webb Space Telescope ist Zurbuchens Sorgenkind: Ursprünglich hätte der Nachfolger des berühmten Hubble-Teleskops schon im Jahr 2007 ins Weltall geschickt werden sollen. Zahlreiche technische Probleme verzögern den Start. Momentan plant man für März 2021. Mit geschätzten Gesamtkosten von – derzeit – 9,66 Millarden Dollar ist James Webb die mit Abstand teuerste NASA-Mission. Von einem Orbit, rund 1,6 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, soll das Teleskop mit hundertfach genauerer Auflösung als Hubble den Ursprung des Universums klären helfen.

Die weitere Erkundung des Mars steht im Zentrum der Mission Mars 2020. Ein Marsmobil soll an verschiedenen Stellen des roten Planeten mindestens 20 Bodenproben entnehmen und an Sammelpunkten im Gelände ablegen. Eine Landesonde soll in der zweiten Hälfte der kommenden Dekade in der Nähe niedergehen und mit Hilfe eines weiteren Rovers die Proben einsammeln. Diese sollen mittels einer einstufigen Rakete auf die Erde geschossen werden. Derzeit entwickelt die NASA die dafür notwendigen Triebwerke – konventionelle Raketen funktionieren ohne Sauerstoff auf dem Mars nicht. Mit einer Landung der Proben auf der Erde ist frühestens in den 2030er Jahren zu rechnen. Das Gesamtbudget für die Mission beträgt 2,46 Milliarden Dollar.

Die Lunar Orbital Platform soll zwischen 2023 und 2025 in Zusammenarbeit mit fünf privaten Unternehmen entstehen. Geplant ist sie als bemannte Basis, die um den Mond kreist. Von ihr aus sollen spätere Mond- und Marslandungen unternommen werden. Gleichzeitig sollen Menschen dort lernen, auf sich alleine gestellt längere Zeit im All zu überleben. Die NASA lässt sich den Aufbau der Station in den nächsten sechs Jahren 2,975 Milliarden Dollar kosten, hinzu kommen die Betriebskosten. Neben der NASA sind auch verschiedene andere Organisationen an dem Projekt beteiligt, etwa die russische oder die europäische Weltraumagentur (ESA).

L –1 Tag, 9 Uhr

Im Pressezentrum des Kennedy Space Centers hängt eine Bildergalerie: US-Präsident Donald Trump, Vizepräsident Mike Pence, NASA-Direktor James Bridenstine, daneben Robert Cabana, Leiter des Kennedy Space Centers. Die ersten drei Bilder werden in zweieinhalb Jahren abgehängt werden oder spätestens in sechseinhalb, das amerikanische Wahlvolk ist da manchmal seltsam. Trump berief Bridenstine im April an die NASA-Spitze – eine umstrittene Entscheidung, weil der frühere Kongressabgeordnete kein Naturwissenschaftler ist. Eine politische Entscheidung. Bei Zurbuchen ist es anders. Zwar ist sein Job ein «Schleudersitz», wie er selber sagt, aber der Schweizer ist das, was man in den USA einen «Civil Servant» nennt: «Ich habe einen Management-Job und einen Leadership-Job, aber keinen politischen Job.»

«Wenn die Demokraten dran sind, ist das Ziel mehr der Mars, wenn die Republikaner dran sind, mehr der Mond.»

Thomas Zurbuchen

Doch natürlich muss er die Seelen massieren im Kongress und im Weissen Haus. 20 bis 30 Prozent seiner Zeit verbringt er damit. Zurbuchen, der unter Barack Obama ins Amt kam, kann mit Republikanern wie mit Demokraten gleichermassen: «Die NASA ist ein Symbol des Nationalstolzes für beide Parteien», sagt er. Verschoben hat sich mit der Trump-Administration die Ausrichtung: «Wenn die Demokraten dran sind, ist das Ziel mehr der Mars, wenn die Republikaner dran sind, mehr der Mond.» Dass der langjährige Klimawandelleugner Bridenstine nach nur zwei Monaten an der NASA-Spitze plötzlich doch an die menschgemachte Erderwärmung glaubt, liegt nicht nur, aber auch am faktenorientierten Zurbuchen: «Selbstverständlich spreche ich mit ihm darüber. Wir müssen der Natur zuhören. Wissenschaft darf nicht parteiisch sein.»

Natürlich wird der Job als NASA-Forschungsdirektor nicht über Headhunter vermittelt und erst recht nicht über Stellenanzeigen. «Man bewirbt sich erst am Schluss», sagt Zurbuchen. «Am Anfang kommen Leute, die wichtig sind und die sagen: Du bist der richtige Mann für diesen Job jetzt, aus diesen und jenen Gründen.» Bei ihm waren die Gründe seine Vielschichtigkeit: Er hatte die theoretische Grundlage als Wissenschaftler, er hatte die praktische Erfahrung dank der NASA-Projekte an der Uni, er hatte Erfahrung mit der Verwaltung, und er hatte das wirtschaftliche Verständnis als VC und Start-up-Förderer.

Neue Materialien wie dieses Schutzschild aus Carbon (l.) erlauben es, näher an die Sonne zu fliegen als jemals zu vor.

Neue Materialien wie dieses Schutzschild aus Carbon (l.) erlauben es, näher an die Sonne zu fliegen als jemals zu vor.

Quelle: Gregg McGough für BILANZ
21 Milliarden Dollar beträgt das Budget der NASA dieses Jahr – mehr als jemals zuvor.

Die NASA-Stelle stand ganz oben auf Zurbuchens Wunschliste, als er genug hatte vom Universitätsbetrieb, eine Auszeit nahm und einen Career Coach engagierte, um neue Karrieremöglichkeiten abzuchecken. Er hatte auch ein Angebot von Amazon auf dem Tisch als einer von weltweit zehn Technologieführern, doppelt so gut bezahlt wie sein 250 000-Dollar-Salär bei der NASA, Boni und Aktienoptionen obendrauf. «Ich habe Entscheide nie wegen des Geldes getroffen, ich habe sie immer wegen des Impacts getroffen», begründet er seine Wahl. «Hier geht es darum, die ganze Menschheit weiterzubringen.»

An diesem Morgen telefoniert Zurbuchen mit Bridenstine, insgesamt drei Stunden. Themen sind das Budget für nächstes Jahr und die Vorausplanung für die nächste Dekade. Mit 21 Milliarden Dollar hat die NASA derzeit das grösste Budget ihrer Geschichte, auch dank Zurbuchen. «Ja, wir haben genug Geld, mehr als jede andere Organisation auf der Erde», sagt er. «Wenn ich doppelt so viel hätte, könnte ich auch das sinnvoll ausgeben.» Sein Erfolg wird daran gemessen, ob er mit diesem Geld das wissenschaftliche Programm von Amerika vorwärtsbringt. Ob er sein Team gut führt. Ob er die Buchhaltung im Griff hat. Ob die Budgets rechtzeitig erstellt werden.

«Die Rede für den Worst Case habe ich immer dabei. Darum bin ich auch hier.»

Thomas Zurbuchen

Klar ist aber auch: Geht eine Mission schief, passiert eine Katastrophe wie bei Apollo 1 oder den Raumfähren Challenger und Discovery, hat das für ihn Konsequenzen. «Keine Ahnung, welche, sicher keine positiven», sagt er. «Wir wissen, dass das passieren kann. Die Rede für den Worst Case habe ich immer dabei. Darum bin ich auch hier.» Auch das ist typisch Zurbuchen: «The science of success is to be totally prepared», dieses Schild hing in Michigan in seinem Büro.

Sein bisher grösster Misserfolg ist vergleichsweise harmlos, aber teuer: Das James-Webb-Teleskop wurde vor seiner Zeit aufgegleist. Wegen technischer Probleme verschiebt sich das Projekt immer und immer wieder. Zurbuchen musste eine weitere Verschiebung verkünden und erneute Mehrkosten von 800 Millionen. Dafür musste er vor dem US-Kongress unangenehme Fragen über sich ergehen lassen. «Ich hatte nach Amtsantritt innerhalb von zwei, drei Wochen den richtigen Instinkt, wo das Problem sein wird», erinnert er sich. «Aber ich wusste noch nicht, wie ich Fragen stelle in dieser komplizierten Umgebung.»

L –11:58:00

Zwölf Stunden vor dem Launch besichtigt Zurbuchen die Startrampe. An seiner Seite: Tory Bruno, CEO der United Launch Alliance (ULA), eines Joint Ventures von Boeing und dem Rüstungskonzern Lockheed Martin.

Es stellt die Delta IV Heavy her, die derzeit grösste und schwerste Rakete in NASA-Diensten. Jeder Start kostet 350 Millionen Dollar. Bruno und Zurbuchen machen vor der Rakete ein paar Selfies, besprechen die gewonnenen Erkenntnisse und die nächsten Projekte. Die beiden können zu diesem Zeitpunkt sowieso keinen Einfluss mehr nehmen: «Es ist bewusst so gemacht bei der NASA, dass die Leute, die emotional verbunden sind mit einer Mission, nichts mehr mit ihr zu tun haben, wenn es um den Launch geht», sagt Zurbuchen.

Sonnenmission. Nun werden die letzten Stunden auf der grossen Countdown-Uhr im Kennedy Space Center angezeigt

Countdown: Zehn Jahre dauerten die Vorbereitungen für die Sonnenmission. Nun werden die letzten Stunden auf der grossen Countdown-Uhr im Kennedy Space Center angezeigt.

Quelle: Gregg McGough für BILANZ

Die NASA-Raketen stammen heute fast alle aus der Privatindustrie: Im Kennedy Space Center steht ein Gebäude von Blue Origin, der Weltraumfirma von Jeff Bezos, auf dem Weg zur Startrampe kommt man an einem Gebäude von SpaceX vorbei, der Weltraumfirma von Elon Musk. Die NASA hilft diesen Firmen: «Erfolg ist nicht, dass wir noch immer dasselbe tun wie vor 50 Jahren, sondern dass das jetzt andere Firmen tun können. Sodass wir dafür jetzt die Parker-Sonde tun können», sagt Zurbuchen. Den Mars werde die NASA nicht vor oder nach Elon Musk erreichen, sondern mit ihm: «Wir sehen uns nicht als Konkurrenten, wir sind ein Amerika. Wenn SpaceX Fortschritte macht, hilft das uns allen.» Diese Partnerschaften zu gestalten, gehört ebenfalls zu Zurbuchens Aufgaben.

L –6:33:00

Abends um neun trifft die Familie in Florida ein: Frau Erin (48), eine Jazz- und Klassik-Bassistin, die Thomas Zurbuchen kennenlernte, als sie in Michigan in einer Saftbar jobbte, Sohn Lukas (15) und Tochter Maria (14). «Meine Familie erdet mich», sagt der Astrophysiker, ebenso wie wöchentlich 50 bis 60 Kilometer Joggen in der Natur. Zurbuchen selber hatte keine einfache Kindheit. Er wächst auf in Heiligenschwendi oberhalb von Thun, einem Kuhdorf mit 700 Einwohnern. Sein Vater ist Prediger einer Freikirche («Die Fähigkeit, Leute mit Worten einzunehmen, hat Thomas von ihm», sagt ein Freund), die Familie lebt von den Gaben der Mitbürger. Von Naturwissenschaften hält man wenig: inkompatibel mit der Schöpfungsgeschichte.

«Wo ich Steuern zahle, will ich wählen dürfen.»

Thomas Zurbuchen

Die Sekundarschule in Hünibach ist der erste Blick des jungen Thomas in eine neue Welt: «Dieser Schritt war der grösste in meiner Karriere, grösser als der von Bern nach Michigan», sagt er später. Bei Ferienjobs auf dem Feld und in der Fabrik lernt er anpacken. Als sich Zurbuchen mit dem Studium endgültig der Wissenschaft zuwendet, brechen die Eltern den Kontakt ab. Ein Wiedersehen und die Versöhnung erfolgten erst letztes Jahr am Totenbett des Vaters. Zuvor hatte Zurbuchen in seiner neuen NASA-Funktion dem «Thuner Tagblatt» ein Interview gegeben. «Ich wusste, dass mein Vater das sehen würde.»

Zwei bis drei Mal ist Zurbuchen pro Jahr in der Schweiz, gibt Gastlesungen in Bern oder besucht Freunde. 2005 hat er auch die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen – eine Grundvoraussetzung, dass er elf Jahre später überhaupt bei der NASA landen konnte. Für die Karriere habe er den blauen Pass nicht gewollt, sagt er: «Sondern, weil ich mich in Amerika total wohl fühle. Und weil ich an Demokratie glaube – wo ich Steuern zahle, will ich wählen dürfen.»

Dr. Eugene Parker (seated in the foreground), a pioneer in heliophysics and S. Chandrasekhar distinguished service professor emeritus for the Department of Astronomy and Astrophysics at the University of Chicago, watches the launch of NASA's Parker Solar Probe. This is the first agency mission named for a living person. Standing behind Parker is Nicky Fox, Parker Solar Probe project scientist at Johns Hopkins Applied Physics Laboratory.

Thomas Zurbuchen (ganz links) mit Familie beim Raketenstart. Zuvorderst Eugene Parker.

Quelle: For PAO/Released Imagery Only: For copyright and restrictions refer to http://www.nasa.gov/multimedia/guidelines/index.html

L –00:03:00

Thomas Zurbuchen hat erneut auf der Besucherterrasse Platz genommen, mit Frau und Kindern, mit Namensgeber Eugene Parker und anderen hohen Offiziellen. Diesmal geht alles glatt. Das Kontrollzentrum geht durch die technischen Checks, eine Station nach der anderen gibt ihr «Go!». «Launch Director?», lautet die letzte Frage. «You have permission to launch!», ertönt die Antwort aus den Lautsprechern. Freude, Erleichterung, Anfeuerungsrufe aus dem Publikum.

Kurz darauf beginnt jene Sequenz, die später Millionen Menschen im Fernsehen und auf den sozialen Kanälen sehen werden: «10 – 9 – 8», zählt eine sonore Stimme teilnahmslos herunter. Bei 5 zünden die drei Raketentriebwerke, ein Fauchen ertönt, gleissend helles Licht erleuchtet das Dunkel der Nacht. Bei 3 steigen gewaltige Rauchsäulen an der Startrampe hoch. Bei 0 werden die letzten zwölf Haltebolzen weggesprengt. Und dann, getrieben von 51 Millionen PS und trotzdem ganz langsam, erhebt sich die Rakete aus ihrem Gerüst, «Lift off of the mighty Delta IV Heavy Rocket with NASA’s Parker Solar Probe», verkündet die Stimme nun deutlich euphorischer.

51 Millionen PS heben die Delta IV Heavy mit der Sonnensonde an Bord in den Nachthimmel von Florida.

Im zweiten Anlauf klappt es schliesslich: 51 Millionen PS heben die Delta IV Heavy mit der Sonnensonde an Bord in den Nachthimmel von Florida.

Quelle: Gregg McGough für BILANZ

Das Fauchen wird zum Dröhnen, immer mehr schwillt es an, die Beobachter können die Donnerwalze über das Wasser auf sich zurollen sehen, während die Rakete langsam beschleunigt und in den Nachthimmel steigt, es tönt, als würde das ganze Kennedy Space Center von einem gewaltigen Subwoofer beschallt, bis die Delta IV Heavy immer kleiner wird und nur noch ihr Feuerschweif am Himmel zu sehen ist.

Auf der Besucherterrasse Jubel und Euphorie, Frau und Kinder fallen Zurbuchen um den Hals, der gratuliert Parker und dankt ihm für seine lebenslange Arbeit, viele haben Tränen in den Augen. «Es war super, diesen Erfolg mit meiner Familie zu teilen», wird Zurbuchen später sagen. «Es war ihr erster Raketenstart.»

L +1:50:00

Applaus, High Fives, Umarmungen: Thomas Zurbuchen trifft im Pressezentrum ein und feiert mit den NASA-Kollegen. Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die Sonde sei in einer stabilen Flugbahn, verkündet er den Reportern, und könne sich nun über die Solarpanels selbst mit Strom versorgen. Abgesehen von einer kurzen Zeitspanne, in der die Datenübertragung ausgefallen war, sei alles nach Plan verlaufen: «Jetzt können wir anfangen zu arbeiten!», sagt er in seiner typischen, energischen Art.

Die Rede für den Worst Case hat er die ganze Zeit in der Jacketttasche. Er braucht sie heute nicht.