Die Herren geben sich ausgesprochen distinguiert. Anfangs noch in tadellosem Smoking, die schwarze Fliege nahezu perfekt ausgerichtet. So stehen sie jedes Jahr im November in Stanley Manns Auditorium auf der Fruit Farm im englischen Radlett. Die runden Tische sind geschmackvoll dekoriert, jeder hält ein Glas 96er Château Croizet Bages Pauillac in der Hand. Und wenn der Durst übermächtig wird, erhebt meist ein rüstiger Endsiebziger seine Stimme fürs wichtigste Tischgebet, bevor dem automobilen Übervater Walter Owen Bentley (W.O.) für dessen Lebenswerk gedankt wird: «Thank you, God, for turning water into wine. And thank you, gentlemen, for turning it back again.» Die etwa 70 anwesenden Männer murmeln grinsend Zustimmung und beginnen mit der Wein-Metamorphose, während die ringsum sorgsam aufgestellten Vorkriegs-Bentleys aus lecken Ölwannen feinstes Edelöl ausdünsten: Dinner-Abend beim Benjafield’s Racing Club (BRC).
Darauf haben die Mitglieder ein Jahr lang gewartet: unter sich zu sein. Keine Fremden, keine Neugierigen und vor allem keine Frauen. An einem echten Herrenabend wird die bessere Hälfte höchstens als Chauffeuse geduldet, wenn auch einige des Inner Circle selbst bei klirrender Kälte im offenen Tourer vorfahren. So muss das auch schon vor rund 90 Jahren gewesen sein, als Gentlemen wie Woolf Barnato und Dudley Benjafield das «gentle» ablegten, um nur noch wilde «men» zu sein. Bentley Men. Oder besser: Bentley Boys. Grosse, reiche, wilde, draufgängerische Jungs (siehe «Die klassischen Bentley Boys» unter 'Nebenartikel').
Fünftwagen gesucht
Skurriles aus Britannien. Und so huldigen die modernen Bentley Boys des BRC mit ihren Bentleys der Baujahre 1919 bis 1931 den historischen Vorbildern. Das Zentrum ihres Wirkens ist das Anwesen von Stanley Mann. Er ist unter den Vintage-Bentley-Händlern und -Restauratoren bereits eine Legende. Er ist einer der BRC-Gründer und stellt für die Freunde jährlich seinen sehenswerten Verkaufsraum zur Verfügung. Dort stehen dann zum Dinner unter anderem Preziosen wie der «Mother Gun», einer der originalen Le-Mans-Siegerwagen aus den zwanziger Jahren, die später umgebaut wurden zu einem Einsitzer für Temporekordversuche. Oder einer der 50 originalen Blower-Sechszylinder, die damals mit ihren Kompressoren die Rennwagenszene mächtig erschreckten, aber nie ein Rennen gewannen. Oder ein gerade angekommener Acht-Liter-Bentley. Einige der Wagen sind käuflich – vielleicht sucht der eine oder andere Kollege ja zufällig gerade einen passenden Fünftwagen.
Am Dinner-Abend, der meist erst frühmorgens endet, stehen nicht profane Benzingespräche im Vordergrund, sondern hauptsächlich hochgeistige Bentley-Diskurse. Unterbrochen werden die Anekdoten immer wieder von Preisverleihungen der ungewöhnlichen Art: Wanderpokale gehen auf die Reise.
Die seltsamen Trophäen des Clubs, dessen Motto «Helping to preserve the spirit of camaraderie and sportsmanship which inspired Dr. J. Dudley Benjafield and the Great Racing Team for whom he drove» nicht wirklich ins Deutsche übersetzt zu werden braucht, müssen vom Vorjahresgewinner wieder mitgebracht werden. Etwa der ausgestopfte Hasenkopf, der 1925 auf ein abgesägtes Propeller-Endstück genagelt wurde. Dieser Wandschmuck wird für den «haarigsten Moment des Jahres» verliehen. Den hat schon mal ein Mitglied erhalten, weil es zu heiraten wagte. Aber auch Pokalchampion Chris Williams (fast 50 Auszeichnungen) durfte ihn kassieren, der bei einem heftigen Unfall während einer Vintage-Gruppenreise in Kalifornien glimpflich davonkam. Auch ein Deutscher bewunderte den Hasenkopf schon zwölf Monate auf seinem Schreibtisch: Peter Godehardt brach die Lenksäule seines Achtliter-Bentley bei einer Tour in Italien auf einer verflixt engen Bergstrasse.
Vollgas spottet den Spritpreisen
Bodenständiger ist «The President’s Bowl», nicht unähnlich einer Jugendstil-Blumenvase. Dieses Gebilde gehörte bis vor kurzem dem Fotografen und Werbefachmann Nigel Ormond-Smith für «die besten Rennergebnisse in einem seriennahen Vintage-Bentley». Kein Wunder, denn der jungenhafte 47-Jährige geht sowohl auf dem Racetrack als auch auf der Strasse ordentlich zur Sache. Wenn er auf einer seiner Fernreisen mit seinem Birkin Blower unterwegs ist, driftet der engagierte Engländer gerne spektakulär um die Kurven. Etwa beim Rallye von Wien nach Antalya – auf der Höhe von Bukarest hängte er die genervte Autobahnpolizei mit seinem 79 Jahre alten Briten-Monster ab. Den 190 Stundenkilometern hatten die Beamten in ihren alten jugoslawischen Dacias nichts entgegenzusetzen. Vollgas kostet zwar rund 40 Liter pro 100 Kilometer, aber um Spritpreise werden sich die historischen Vorbilder auch nicht gekümmert haben. Selbst im Fluchttempo reicht Ormond-Smiths Tank für 450 Kilometer.
Und nicht zuletzt gibt es die Auszeichnung «Nil Desperandum». Die viktorianisch anmutende Schüssel gibt es «für die beste Aktion gegen alle Regeln». Besonders im Gedächtnis geblieben ist die Aktion von Bentley-Jünger Robert Harley. Der damalige Mittsiebziger flüchtete einst aus dem Krankenhaus, in dem er zur Genesung lag, um beim altehrwürdigen Rennen von London nach Brighton in einem Auto von 1905 zu fahren, das er vorher noch nie gelenkt hatte.
Reger Tausch der Freundinnen. Auch Kjeld Jessen wäre ein Kandidat für den Regelbrecherpokal. Der kleine Däne – mit seinem Vorkriegs-Bentley ein erfahrener Teilnehmer des brutalen Rallyes Paris–Peking – kommt bei Reisen grundsätzlich ganz gross heraus. Er führt bei seinen Marathonausfahrten stets eine selbst gebaute Kartoffelkanone mit sich. Meistens schiesst er damit Bonbons in die staunende Passantenmenge, befeuert vom Treibgas eines bekannten Achselsprays. Neulich allerdings lud er das Rohr im Speisesaal eines russischen Hotels mit zwei alten Lappen. Augenzeugen behaupten, es habe sich um gepflegte Socken mit Monogramm gehandelt, gestiftet vom Eigentümer, Prinz Michael of Kent, dem Enkel von König George V. Seine Lordschaft ist seit mehr als 15 Jahren treues BRC-Mitglied. Sicher ist, dass die textile Ladung in der maroden Sowjetdecke stecken blieb. «Es ist nicht das erste Mal», sagt Bentley Boy Philip Strickland, «dass uns die Wumme fast in den Knast gebracht hätte. Dieses Mal konnten wir den Sicherheitsleuten weismachen, dass wir das Kanonenrohr als Ersatzteil für einen Auspuff mitgebracht hätten …»
Benzingespräche unter Fernsehstars
So plätschert der Abend dahin, und später wankt der eine oder andere in Stanley Manns Büro in der ersten Etage. Der Raum beherbergt Bentley-Bücher, -Modelle und -Devotionalien, und die kleine Theke sieht so aus, als hätte W.O. persönlich seine Gäste bewirtet. Hier sassen etwa die autoverrückten Fernsehstars Rowan Atkinson (Mr. Bean) und Jay Leno (Mr. Talk) für Benzingespräche. Hier vermittelte Mann dem amerikanischen Schriftsteller Clive Cussler zwei dieser englischen Klassiker, und in den Sesseln diskutierte er mit Rick Wakeman, dem genialen Keyboarder der Musikgruppe «Yes», über die Vor- und Nachteile von Bentley und Rolls-Royce.
Manns Glück ist es, dass die meisten seiner verkauften Autos irgendwie und irgendwann wieder den Weg zu ihm finden. Obwohl der Fundus stark begrenzt ist: Insgesamt wurden von den riesigen Sportwagen der Baujahre 1919 bis 1931 nur 3051 Chassis gebaut, gut 1100 existieren noch. Aber Mann gehen die Aufträge nicht aus. Nicht etwa, weil die Autos schlecht wären, sondern weil der Kunde von Welt gerne mal seine Freundin (Autos sind bei den Briten grundsätzlich weiblich) wechselt. Einige Exemplare hat Mann bereits zwölfmal verkauft.
So wie der originale Bentley Boy Dr. Dudley Benjafield 1928 den British Racing Drivers’ Club gründete – noch heute die Dachorganisation aller britischen Rennfahrer mit dem Präsidenten Derek Warwick –, so schufen die modernen Bentley Boys den Benjafield’s Racing Club in einem dunklen Wintermonat 1990. Ihnen war der grosse Bentley Owners Club zu gewöhnlich geworden. Der Grund für die Namensgebung: Der Bakteriologe Benjafield gilt als echter Gentleman, perfekter Teamplayer und Gründer der Tradition des Dinierens in voller Abendgarderobe.
Die wichtigsten Punkte aus der Satzung des Benjafield’s Racing Club:
- 1. Der Club wird nie aus mehr als 85 Mitgliedern bestehen.
- 2. Jedes Mitglied bekommt eine Nummer, die es lebenslänglich besitzt. Sollte ein Mitglied zu W.O. in den Himmel abberufen werden, wird diese Nummer niemals neu vergeben.
- 3. Mitglied kann nur werden, wer von einem BRC-Mitglied vorgeschlagen wird.
- 4. Das vorschlagende Mitglied verbürgt sich dafür, dass das neue Mitglied für den BRC charakterlich geeignet ist.
«Die bedingungslose Akzeptanz des Grundsatzes ‹Alle für einen, einer für alle›», erläutert Eddie McGuire, langjähriger BRC-Jünger und hartgesottener Vintage-Fahrer. Der Aspirant muss bereit sein, auch nachts um vier Uhr schwer verölt unter ein Auto zu liegen – selbst dann, wenn es nicht sein eigenes ist. Er sollte verinnerlichen, dass Wattestäbchen ausschliesslich der Körperpflege dienen und nicht dem Polieren verwinkelter Karosserie-Ecken. Und er hat zu akzeptieren, dass nur Weicheier bei Regen das Verdeck ihres Oldies aufspannen. Im Grund ist der BRC ein Haufen grosser Jungs mit verdammt teuren Spielzeugen, eine spleenige Clique von bestens situierten Abenteurern, eine liebenswerte Gang mit dem verstorbenen Walter Owen Bentley als Guru.
Grosse Jungs mit teuren Spielzeugen unter sich
Je verrückter ein Club-Aspirant ist, umso besser für ihn – «normal sein kann jeder». Der Besitz eines Vintage-Bentley ist für die Zugehörigkeit zum BRC nicht zwingend, dennoch hat fast jedes Mitglied mindestens einen – nebst anderen netten Vehikeln wie Gordini, Aston Martin, Bugatti, Vorkriegs-MG und Ähnlichem. Der Amerikaner Frank Solano kommt oft mit seinem Lagonda V12 und darf damit sogar in den Reihen der Bentleys parken – denn der Motor stammt von W.O. höchstselbst.
Der Gigant unter Giganten. Die Teilnahme an den wochenlangen Touren ist kein Muss – wer Zeit und Lust hat, fährt mit. Allerdings lassen sich viele der BRC-Mitglieder die begehrten jährlichen Ausfahrten nicht nehmen: das italienische Bassano-Rallye, den Besuch der Classic Days auf Schloss Dyck bei Jüchen in Deutschland, den Spring Start des Vintage Sports-Car Club auf der Rennstrecke in Silverstone und natürlich die Reise zum Eldorado aller Upperclass-Herrenfahrer, nach Goodwood, wo man sich bei Lord March so richtig heimisch fühlt. Grundsätzlich wird auf der eigenen Achse angefahren, und man bleibt gerne unter sich.
Einmal im Jahr allerdings geht eine Einladung an befreundete Fahrer «fremder» klassischer Autos. Dann sind Lord und Lady Rotherwick hocherfreut, denn durch den Vorgarten ihres Domizils, des ehemaligen Jagdschlosses Cornbury Park in Oxfordshire, donnern Boliden aus sieben Jahrzehnten. Immer mittendrin das Monster unter den Bentleys: der Napier Bentley von Chris Williams, der klingt, als würde ein Bluthund Suppe schlürfen. Das Auto ist ein zum Einsitzer umgebauter Vintage-Bentley mit 24-Liter-Napier-Flugmotor. Mit seinem Giganten hält Williams in seiner Klasse die beste je gefahrene Zeit beim Vaughan Davis Sprint: 44,13 Sekunden. Auch Mr. Davis, W.O. Bentley habe ihn selig, war natürlich BRC-Mitglied.
«Bei uns spielt soziales Ansehen keine Rolle», sagt Eddie McGuire, «Geld sowieso nicht.» Wobei Letzteres durchaus zweideutig zu verstehen ist. Denn einige der Clubherren könnten dank Patentrechten oder ähnlichen Einkommensgaranten manchem Kleinstaat aus der Schuldenfalle helfen. Oder anders ausgedrückt: Es ist selbstverständlich, das Angebot von lächerlichen 75 000 Euro für ein nur dreistelliges altes Nummernschild eines Vorkriegs-Bentley auszuschlagen, weil es dort so schön hinpasst und das auch so bleiben soll. So eine Summe ist lächerlich im Vergleich zu den Preisen der Autos. Ein gut erhaltener Einstiegs-Vintage, der 3-Liter-Bentley, ist ab etwa 270 000 Euro zu haben. Einer der seltenen, echten und kompressorbeatmeten 4,5-Liter-Blower-Bentleys kostet dagegen etwa 1,6 Millionen Euro.
Über Geld wird beim BRC-Dinner nicht geredet, umso mehr dafür über eine unglaubliche Regelverletzung seitens der Clubführung: Unter den altehrwürdigen Autos und Männern durften während 15 Minuten zwei wohlgeformte Blondinen tänzeln, um das neue BRC-Outfit zu präsentieren.
Da vergassen die Bentley Boys nicht nur kurz ihren W.O., sondern sogar die Umwandlung von Wein zu Wasser.