Der Neurobiologe Paul Herrling, 50, leitet die pharmazeutische Forschung des weltgrössten Pharmakonzerns. Um die weltweit verstreuten Forschungsaktivitäten von Novartis zu überwachen und mit den zahlreichen Tochterfirmen und Kooperationspartnern in ständigem Austausch zu sein, legt er pro Jahr mehr als 100 000 Flugmeilen zurück. Wenn er sich nicht gerade im Ausland aufhält, lebt Herrling in Bern. In seiner spärlich bemessenen Freizeit liest er naturwissenschaftliche Klassiker und Science-fiction-Romane. Herrling bevorzugt zeitlose Werte und gutes Design. Er ist verheiratet und hat eine volljährige Tochter.

Als Gymnasiast trieb er sich gerne im Biologiesaal herum; er besah sich in den Zwischenstunden die Heuschreckensammlung des Schulvorstehers. Als Doktorand zog es ihn in die Wüste Tunesiens. Während Jahren erforschte er dort das Navigationsverhalten der Rennameise. Heute faszinieren ihn vor allem transgene Mäuse. Mit 50 Jahren ist Paul Herrling, gelernter Biologe und Forschungsleiter des weltgrössten Pharmakonzerns, seinen Jugendvorlieben treu geblieben. Im dreizehnten Stock eines gesichtslosen Industriegebäudes, direkt hinter der Basler Grossmetzgerei Bell, befindet sich heute sein Arbeitsplatz. Im Untergeschoss vom Bau Nummer 683, dem biologischen Forschungszentrum von Novartis, riecht es meistens ziemlich streng.

Auf engstem Raum werden hier Tausende von Versuchstieren gefangengehalten: Affen, Hunde, Ratten sowie Labormäuse sonder Zahl. Bereitet es ihm keine Mühe, wenn im Keller täglich Dutzende von unschuldigen Lebewesen zu Tode gequält werden, während er ein paar Stockwerke höher an seinem Mahagonichefpult die neuesten Forschungsberichte durchsieht? «Nein», sagt Paul Herrling. «Solange Hoffnung besteht, dass Krankheiten wie Schizophrenie, Alzheimer oder Krebs aufgrund von Tierversuchen gelindert oder eventuell sogar geheilt werden können, nehme ich dies als das kleinere Übel in Kauf.» Wegen seiner offenen Art und der Lässigkeit, mit der er selbst auf die heikelsten Fragen eingeht, erscheint Herrling wie das Antibild von einem verbohrten Naturwissenschaftler. Einzig die randlose Brille, die er trägt, signalisiert, dass man es hier mit einem Intellektuellen zu tun hat. Ansonsten aber erinnert sein Äusseres eher an den weltgewandten Typ aus der Ralph-Lauren-Werbung.

Dass er keine genügend klare Position einnähme oder diese in der Öffentlichkeit zuwenig deutlich zum Ausdruck brächte, kann man dem smarten Chefforscher von Novartis nicht vorwerfen. Im Gegenteil: Er hält an Symposien aufklärerische Vorträge, debattiert in der «Arena» von Fernsehen DRS über die Genschutz-Initiative und profiliert sich in Sachen Xenotransplantation - der Verpflanzung tierischer Ersatzteile in den menschlichen Körper - als beredter Spokesman einer ganzen Branche. «Paul Herrling ist einer der überzeugendsten Vertreter, den die Pharmaindustrie auf dem Gebiet der Biotechnologie vorzuweisen hat», urteilt der Konsumentenschützer der Nation, Urs P. Gasche. Der frühere «Kassensturz»-Chef muss es wissen, ist er doch Herrlings leiblicher Grosscousin. Die Grossväter der beiden waren Brüder. Wohlwollend äussert sich auch der Zürcher Immunologe und Nobelpreisträger Professor Rolf Zinkernagel: «Herr Herrling hat wesentlich zur Diskussion über die Wichtigkeit von Tierversuchen beigetragen.»

Solche Qualitäten müssen seinerzeit bereits dem Sandoz-Patriarchen Marc Moret aufgefallen sein, als er den gewandten Neurobiologen 1994 zum Forschungschef von Sandoz Pharma ernannte. Für Branchenkenner war es daher nicht weiter erstaunlich, als bekannt wurde, dass der ranghöchste Forschungsmanager im Novartis-Konzern ebenfalls Paul Herrling heisst. Nebst seiner geringen Scheu, im gesellschaftspolitischen Diskurs Stellung zu beziehen, ist Herrlings Ernennung auch Ausdruck davon, dass sich der Forschungsansatz von Sandoz gegenüber demjenigen von Ciba als überlegen erwiesen hat. Dahinter steht die Erfahrung, dass sich Ideen, die aus der pharmazeutischen Grundlagenforschung kamen, oftmals nur schwer oder viel zu langsam in verwertbare Produkte umsetzen liessen. Auf eine zentralisierte Forschungseinheit, wie diese bei Ciba existierte, wurde deshalb bewusst verzichtet. Statt dessen unterscheidet man heute im Novartis-Konzern klar zwischen sieben therapeutischen Forschungsbereichen mit jeweils 150 bis 350 Mitarbeitern. «Jede der sieben Einheiten hat alle zur Erfüllung ihres Auftrags notwendigen Instrumente zur Hand und wird daran gemessen, wieviel Substanzen sie in die Forschungspipeline einzuspeisen vermag», präzisiert Herrling. Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden und die Geschwindigkeit im Entscheidungsprozess auf ein Maximum zu erhöhen, wurde ausserdem eine ganze Hierarchieebene eliminiert. Anstelle einer Vielzahl von regionalen Forschungsleitern werden die sieben Therapiebereiche - Immunologie, Herz-Kreislauf, Zentralnervensystem, Krebs, Dermatologie, Endokrinie und Asthma - neuerdings global koordiniert und überwacht. Die dafür zuständigen Hauptbereichsleiter bilden das Kernteam um Paul Herrling.

Mit jährlichen Ausgaben in Höhe von 2,3 Milliarden Franken für die Medikamentenforschung liegt der Fusionsriese weltweit an der Spitze. Und dennoch bleiben die zur Verfügung stehenden Mittel knapp. Weil man in der pharmazeutischen Industrie mehr als eine halbe Milliarde Franken aufwenden muss, um eine neuartige Substanz zur Marktreife zu führen und die Forschungs- und Entwicklungskosten in Zukunft weiter eskalieren dürften, verwundert es nicht, dass tunlichst Projekte ausgewählt werden, von denen man annimmt, dass die getätigten Gewaltsinvestitionen dereinst auch wieder zurückfliessen. Dass dabei weitverbreitete Krankheiten wie Malaria - eine Geissel der Menschheit, die jedoch unpässlicherweise gerade in Weltregionen mit unterdurchschnittlicher Kaufkraft besonders häufig auftritt - auf der Strecke bleiben, gehört zu den gnadenlosen Gesetzen des internationalen Kapitals. Die Börse jedenfalls honoriert den zielgerichteten Wissensdrang. Gewissermassen auf Vorschuss, zumal die aktuellen Aktienkurse ja nichts anderes wiedergeben als die abdiskontierten Zukunftsgewinne der Pharmabranche. Gemäss eigenen Angaben stecken in der Produktepipeline von Novartis gegenwärtig nicht weniger als 67 vielversprechende Substanzen, wovon 12 kurz vor der Markteinführung stehen und sich weitere 29 bereits im Endstadium (Phase III) der klinischen Tests befinden sollen. Tatsächlich verfügt heute kein zweiter Pharmakonzern über ein ähnlich vielversprechendes Entwicklungsportfolio.

Sobald in einem der weltweit 750 Novartis-Forschungslabors eine valable Projektidee entsteht, wird ein multidisziplinäres Team gebildet, dem neben den involvierten Wissenschaftlern auch Leute aus der präklinischen und klinischen Entwicklung sowie mindestens ein Marketingvertreter angehören. «Damit», so Herrling, «stellen wir von Anfang an sicher, dass wir über eine direkte Antenne zum Markt verfügen und nicht versehentlich an den kommerziellen Gegebenheiten vorbeiforschen.» «Paul, die reine Forschung ist nichts für dich!» hatte ihm bereits sein Doktorvater, der international bekannte Ameisenforscher Rüdiger Wehner, ans Herz gelegt und dem jungen Biologen folglich zu einer Industriekarriere geraten. Zusammen mit Professor Wehner, Ordinarius für Zoologie an der Universität Zürich, und zwei gleichaltrigen Doktoranden war Herrling in den frühen siebziger Jahren verschiedentlich für mehrere Monate in die südtunesische Wüste gefahren, um in einem arabischen Nest namens Maharès, 30 Kilometer südlich von Sfax, den Orientierungssinn der Rennameise zu erforschen.

Mit ihren langen Beinen kann die Ameise Cataglyphis bicolor auf dem glutheissen Wüstenboden bis zu einem Meter pro Sekunde zurücklegen. In monatelangen Testreihen, bei denen man auf die Augen der Cataglyphis winzige Kontaktlinsen applizierte und die bebrillten Insekten mit Hilfe von Käsepartikeln dergestalt abrichtete, dass sie bereit waren, wiederholt in Nord-Süd-Richtung über ein tennisplatzgrosses Koordinatennetz zu spurten, gelangte Herrling schliesslich zu folgender Hypothese: Im Facettenauge der Ameise muss es eine bestimmte Stelle geben, die ähnlich wie ein Polarisationsfilter wirkt und es dem Tierchen ermöglicht, sich anhand des Einfallswinkels der Sonnenstrahlen äusserst zielgenau zu orientieren. Zu Hause unter dem Elektronenmikroskop gerann die Arbeitshypothese dann auch tatsächlich zum empirisch erhärteten Beweis. Obschon sie in der Wüste manchmal über Wochen hinweg nichts als Büchsennahrung zwischen die Zähne bekamen, denkt der Expeditionsleiter Professor Wehner mit Freude an diese «Pionierzeit der Neuroethologie» zurück. Die beiden anderen Doktoranden, die damals in Tunesien mit dabei waren - beide politisch links und mit langer Haartracht - «stachen farbig und lebhaft von Paul Herrlings Erscheinung ab», entsinnt er sich. Statt dessen trug Herrling, dessen politische Gesinnung schon damals in Richtung Freisinn wies, seine Haare lieber kurz. «Paul war ein intelligenter Bursche mit gewissen Starallüren, der sich gegenüber seinen Kommilitonen durchzusetzen wusste», lautet die Einschätzung des Ameisenforschers. Demgegenüber rühmt Andreas Burkhalter, heute Neurologie-Professor an der Washington University in St. Louis Missouri, Herrlings ausgleichendes Temperament: «Paul war der Diplomat in Tunesien. Er orchestrierte den Besuch beim Schweizer Botschafter in Tunis und verhandelte mit dem Gemeindepräsidenten am Ort unserer Forschungsstation.» Wie dem auch sei: Herrling hörte auf den Rat seines Doktorvaters und bewarb sich bei der Basler Chemie. Der Grund, warum er als überzeugter Wissenschaftler in die Industrie gegangen sei, erklärt er im Rückblick, sei der gewesen, «dass ich etwas machen wollte, bei dem ich noch zu Lebzeiten einen praktischen Nutzen erkennen kann». Herrlings Karriere sei ein «Exempel der Vision eines Grundlagenforschers, Wissen nutzbar zu machen», bekräftigt Andreas Burkhalter. «Er hat diese Vision in die Tat umgesetzt und sich mit den Gesetzen der Wirtschaft im Auftrag des heute Möglichen arrangiert.»

Den promovierten Biologen zog es zunächst allerdings noch für ein Jahr an die Universität von Los Angeles (UCLA), wo er seine akademischen Studien am Mental Retardation Research Center weitertrieb. 1977 trat er dann als Laborchef in der präklinischen Forschung bei Sandoz ein und nutzte in den Folgejahren die Gelegenheit, sein Wissen bezüglich der Gehirnstrukturen bestimmter Versuchstierarten weiter zu vertiefen. Anfang der achtziger Jahre liess sich Herrling zur Sandoz-Tochter Wander nach Bern versetzen. Relativ schnell stieg er dort zum stellvertretenden Leiter der präklinischen Forschung auf. 1987 wurde ihm die Gesamtleitung des in Sandoz Research Institute Berne umbenannten Forschungszentrums anvertraut, und ab Mitte 1992 verantwortete er die präklinische Forschung mit 600 Mitarbeitern im Basler Stammhaus. Anderthalb Jahre später war Herrling bereits an der Spitze der Forschungspyramide von Sandoz Pharma angelangt.

Laut Aussage seines Vorgängers Stephan Guttmann, der Herrlings Ernennung beim Verwaltungsratspräsident Moret damals unterstützte, ist dieser «ganz natürlich in die neue Aufgabe hineingewachsen». Abgesehen von seiner «ausgeprägten Bereitschaft, Entscheide zu fällen», rühmt der Pensionär Herrlings «sehr direkten und einfachen Zugang in den mitmenschlichen Bereich». Im Executive Committee von Sandoz Pharma stiess Herrling 1994 auf den Senkrechtstarter Daniel Vasella, damals noch Entwicklungschef. Auf sein jetziges Verhältnis zum Konzernleitungsvorsitzenden von Novartis angesprochen, verrät Herrling, dass er Vasellas kritisches Feedback sehr schätze, weil die praxisnahe Sicht eines Mediziners für ihn besonders «challenging» sei. Bei dieser Wortwahl fast schon erstaunlich, dass Herrling sich bis dato offenbar nicht dazu durchringen konnte, den neudeutschen Rufnamen seines Vorgesetzten zu adaptieren: «Ich nenne ihn nicht Dan, sondern immer noch Daniel!» An einem multikulturellen Defizit kann das nicht liegen. Geboren und aufgewachsen ist Paul Herrling in Alexandria, verheiratet ist er mit einer Italienerin, er verständigt sich fliessend in vier verschiedenen Sprachen und legt jedes Jahr über 100 000 Flugmeilen zurück. Sein Grossvater mütterlicherseits war um die Jahrhundertwende nach Ägypten ausgewandert, wo er in die Baumwollverarbeitung einstieg. Im Zweiten Weltkrieg beschäftigte die Spinnerei, welche der Grossvater aufgebaut hatte, über zehntausend Personen und produzierte im grossen Stil Baumwollstoffe, unter anderem für die britische Armee. Paul Herrlings Vater diversifizierte erfolgreich ins Hotelfach und führte während Jahren das weltberühmte «Mena-House» bei den Pyramiden von Gizeh. Neben Scharen von illustren Gästen gaben sich an diesem noblen Ort die Staatsoberhäupter Churchill, Stalin und Roosevelt ein historisches Stelldichein. Später siedelte der Vater an die Mittelmeerküste nach Alexandria um, wo im Dezember 1946 Paul Linus Herrling als Zweitgeborener das Licht der Welt erblickte. Kurz nach der Suezkrise zog es die Herrlings dann in die Schweiz zurück, wo der Vater Ende der fünfziger Jahre die Leitung des «Kulm-Hotels» in St. Moritz übernahm.

Den elfjährigen Paul steckte man zunächst in Samedan ins Internat. Später wurde er im Lyceum Alpinum in Zuoz einlogiert. Der Rektor der alpinen Kaderschule, der gleichzeitig Biologie unterrichtete, muss auf den jungen Herrling einen prägenden Einfluss gehabt haben. Eines der Lieblingsthemen des Rektors, erinnert er sich, seien die Wanderungen der Fauna während der Eiszeiten gewesen. Und als weitere Reminiszenz aus Bündner Gymnasialtagen: «Als Strafaufgabe mussten wir jeweils seine Heuschreckensammlung ordnen.» Jeweils in den Sommerferien stattete Paul seiner Oma, die in Ägypten sesshaft geblieben war, einen Besuch ab. Geld besass die Industriellenfamilie dort in Hülle und Fülle - vor allem solches, das sich nach dem Regimewechsel nicht mehr ausser Landes transferieren liess. Also liess man es sich im Land der Pharaonen gut gehen, residierte in piekfeinen Absteigen und schipperte in Luxuskähnen den Nil auf und ab. Auch als Student konnte Herrling seine gutbetuchte Herkunft nicht verleugnen. Er schwor auf teure Hermes-Gürtel, fuhr eine schwere BMW-Maschine und artikulierte sich im rechten Spektrum der Unipolitik. «Schulterklopfen und Biertischallüren liegen ihm gar nicht», fasst Rüdiger Wehner seine Neigungen zusammen.

Sein Faible für zeitlose Werte und gutes Design hat sich Herrling bis heute erhalten. «Paul hat Geschmack und Stil», weiss Studienkollege Burkhalter. «Seinen Hang zum Luxuriösen hat er nie abgestritten.» Als passioniertem Bücherliebhaber haben es ihm insbesondere naturwissenschaftliche Klassiker wie die frühen Schriften von Darwin angetan, deren seltene Erstausgaben er - in edles Leder gebunden - sammelt. In der Beschäftigung mit seinen bibliophilen Schätzen findet Herrling den nötigen Ausgleich für seinen verantwortungsvollen Job. Letztlich hängt ja nichts weniger als das langfristige Wohlergehen eines 125-Milliarden-Konzerns mit 100 000 Beschäftigten von der Treffsicherheit seiner Entscheidungen ab. Wie geht er mental mit dem damit verbundenen Erwartungsdruck um? «Im täglichen Leben muss ich bis zu einem gewissen Grad von meiner Verantwortung abstrahieren können», sagt er. «Ansonsten liefe ich Gefahr, davon paralysiert zu werden.»

Bereitet es ihm als Naturwissenschaftler keine Schwierigkeiten, unter dem emotionslosen Diktat der Börse zu arbeiten? «Nein», lautet seine Antwort. «Schliesslich arbeiten wir nicht mit unserem eigenen Geld, sondern mit dem unserer Shareholder.» Im Prinzip, postuliert Herrling, halte er es deshalb für «völlig normal, dass diese auch wissen wollen, was wir damit anfangen».

«Drug target» und «medical need» sind Ausdrücke, die bei Herrling zur Umgangssprache gehören. Und von der Sinnhaftigkeit des vieldiskutierten «human genome programs» - der wissenschaftlichen Kartierung des menschlichen Erbguts - ist er ohnehin fest überzeugt: «Wir erhalten dadurch laufend neue Hinweise, welche menschlichen Gene mit bestimmten Krankheiten in Zusammenhang stehen könnten.» Insofern, betont der Forschungschef, sei ohne die «Herstellung neuer Krankheitsmodelle» in Zukunft kaum mehr auszukommen. «Wir haben ein menschliches Gen genommen und im Labor eine für die Alzheimer-Krankheit typische Mutation ausgelöst», illustriert Herrling das Vorgehen an einem konkreten Beispiel. «Darauf haben wir das mutierte menschliche Gen in die Eizelle einer Maus implantiert und auf diesem Weg eine Maus erzeugt, welche das krankhafte Gen in Abertausenden von Kopien ausbildet.» Was dabei herausgekommen ist? Das manipulierte Versuchstier zeigte sämtliche Alzheimer-Symptome, wobei vorher weltweit kein einziger Fall bekannt war, bei dem eine Maus an Alzheimer litt. «Wir haben dadurch einen wunderbaren Beweis gewonnen, dass die betreffende Genmutation eine Möglichkeit darstellt, wie Alzheimer entstehen kann», frohlockt Herrling, springt auf und lädt auf seinen PC-Bildschirm einen mikroskopischen Querschnitt durch ein seziertes Mäusegehirn. Sieht aus wie eine Infrarotaufnahme von einer zerbombten Stadt. «Bestimmt können Sie sich vorstellen, dass man an den gezüchteten Alzheimer-Mäusen auch relativ einfach eine Reihe neuartiger Therapien testen kann.»

Weil Herrling die diffusen Ängste der Bevölkerung in bezug auf die Gentechnologie durchaus erst nimmt, nimmt er auf diesem Gebiet bewusst kein Blatt vor den Mund. Auch über die möglichen Risiken der Xenotransplantation, ein Thema, das zur Zeit vor allem in England für Schlagzeilen sorgt, hält er eine öffentliche Auseinandersetzung für unabdingbar. Überspitzt formuliert, stehe es heute doch jedem Chirurgen frei, einem Patienten, der dies wünsche, ein Schweineherz einzupflanzen. «Das Hauptproblem», glaubt Herrling, «besteht im Moment darin, dass die Xenotransplantation überhaupt nicht reguliert ist.» Folglich hält er es für dringend nötig, dass das Thema endlich seriös untersucht, dokumentiert und die gewonnenen Erkenntnisse offen auf den Tisch gelegt werden. «Wenn Sie mich persönlich fragen: Ich glaube nicht, dass das Risiko einer Virusinfektion bei einer Xenotransplantation grösser ist, als wenn sie in Peking oder Bombay in irgendeinem Restaurant zu Abend essen.» Paradox, aber wahr: Während das Problem der pharmazeutischen Industrie in den siebziger und achtziger Jahren darin zu bestehen schien, genügend sogenannte «drug targets» zu finden, sind es infolge der gentechnischen Erkenntnisse nun auf einmal viel zu viele. Dazu kommen völlig neue Möglichkeiten in der kombinatorischen Chemie. Früher konnte ein Chemiker pro Jahr durchschnittlich 40 bis 50 verschiedene Substanzen isolieren und auf ihre wichtigsten Eigenschaften hin überprüfen. Durch die Entwicklung der Nanotechnologie und unter Zuhilfenahme von Industrierobotern lassen sich heute im gleichen Zeitraum Millionen von unterschiedlichen Wirkstoffen produzieren. Um die einzelnen Arbeitsschritte bei Bedarf zurückverfolgen und wiederholen zu können, kommen im automatisierten Forschungsprozess selbstverständlich auch die jeweils aktuellsten Computertechnologien zum Einsatz.

Herrling ist fasziniert von den neuen Möglichkeiten. In seiner spärlichen Freizeit konsumiert er nebst den erwähnten Klassikern deshalb auch spezifische Science-fiction-Romane, in denen vom Zusammenwachsen von Gentechnik und Computerwissenschaft die Rede ist. Der ehemalige Sandoz-Manager Max Link hält es denn auch für «beeindruckend, wie es Herrling immer verstanden hat, die Informations- mit der Biotechnologie zu verbinden». Was aber nützt der Einsatz modernster Technologien und eine supereffiziente Forschungsorganisation, wenn sich in Zukunft bewahrheiten sollte, was sich anhand der Entdeckungsgeschichte des Umsatzrenners Sandimmun sowie einer Vielzahl anderer Medikamente eindrücklich belegen lässt: dass nämlich der pharmazeutische Innovationsprozess im Grunde gar nicht planbar ist? «Jede Forschungstätigkeit und insbesondere die Entdeckung beinhaltet ein grosses Zufallselement», räumt Herrling ein. Planbar sei jedoch das Netz, in dem die Entdeckungen hängenbleiben: «Wir können dieses Netz enger oder weitmaschiger weben, und wir können seine Fläche grösser oder kleiner machen. So gibt es zum Beispiel bei Novartis derzeit keine spezifische Forschungsgruppe, die sich mit dem Magen-Darm-Trakt befasst. Sie können also sagen, wir hätten hier ein Loch in unserem Forschungsnetz. Alle anderen wichtigen Bereiche des menschlichen Körpers wie das Gehirn, das Herz, Knochen, Lungen, Zellsysteme und Genetik decken wir hingegen ab.»

Nach Auffassung von Professor William Meier-Ruge, dem in den achtziger Jahren bei Sandoz die gerontologische Abteilung unterstand, «hält Herr Herrling keinem Vergleich mit früheren Forschungsleitern stand». Meier-Ruge beschreibt den obersten Novartis-Forscher als Technokraten, dem der Bezug zur Basis zweitrangig geworden sei. «Aus meiner Sicht ist Herr Herrling lediglich ein Forschungsverwalter, der seine Aufgabe nicht in einer Förderung von Forschungsresultaten seiner Labors sieht, sondern in der Durchsetzung von verwaltungstechnischen Direktiven der Konzernleitung.» Rolf Soiron, Exchef von Sandoz Pharma und heute für die Jungbunzlauer-Gruppe tätig, widerspricht dieser Einschätzung vehement. Herrlings besondere Qualität liege eben gerade darin, dass er auch auf benachbarten Wissengebieten «ausgesprochen alert und wach» sei. «Er hat nicht nur chemische Formeln im Kopf, sondern besitzt die Fähigkeit, sich auch auf anderes einzulassen, als auf das, was sich in seinem Reagenzglas abspielt.» Wissenschaftlich präzise bringt es der Ameisenexperte Rüdiger Wehner auf den Punkt. Mit der ihm eigenen Mischung aus Forscherinteresse und Marketing-Flair «passt Paul Herrling genau auf den Posten, den er heute innehat.»

 

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