Nichts an der unscheinbaren Halle in Bäch am Zürichsee deutet von aussen darauf hin, dass hier aufregende Unikate hergestellt werden: Pedrazzini-Boote. Für Kenner sind sie die weltweit besten ihrer Art, offene Sportboote, so genannte Runabouts, vornehmlich aus Mahagoni und Teak in reiner Handarbeit gefertigt. Sie gelten als «Rolls-Royce auf dem Wasser», ein Vergleich, der sich auch angesichts der Preisklasse aufdrängt. Mit ihrer klassischen Linienführung – schmaler Bug, sanft gerundetes Heck – erweisen sie sich als traumhaft schöne schwimmende Objekte. Satt leuchtet das Rotbraun des Holzes. Die Lichtreflexe unterstreichen die elegante Kurvigkeit des Bootskörpers. Vierundzwanzig hochglanzpolierte Lackschichten fangen das Wolkenspiel am Himmel ein.
Claudio Pedrazzini (43), der Erbauer dieses exklusiven Gefährts, dreht den Schlüssel, die Instrumentennadeln am Armaturenbrett aus feinstem Wurzelholz zucken, eine fast unmerkliche Vibration geht durch den Rumpf. Die Fahrt beginnt. 300 Meter vom Ufer weg heisst es dann: volle Kraft voraus. Der sonore Bariton des V8-Motors schwillt kraftvoll an. Nach wenigen Sekunden, bei 35 Kilometern pro Stunde, geht das Boot in den Gleitzustand über. Es scheint zu schweben, ohne Spritzwasser, eine kompakte Gischt hinterlassend. Plötzlich verliert sich auch das Motorengeräusch, nur noch Wind und Wasser sind zu hören, ein Gefühl von Freiheit, Glück und Macht stellt sich ein. «Alles fällt von einem ab», sagt Claudio Pedrazzini.
Die spezielle Rumpfform, eine Eigenentwicklung der Firma, Resultat aus fast hundert Jahren Familien-Know-how, erlaubt eine stabile Bootsführung bei jeder Art von Manöver, auch auf dem Meer. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 85 Kilometer pro Stunde, was bei so viel luxuriösem Komfort ein sehr sportliches Tempo ist. Ganz wie es sich für einen Rolls-Royce geziemt eben.
Wer sich für nächsten Sommer eine dieser Raritäten sichern möchte, sollte sich jetzt auf die Warteliste setzen lassen, denn nur sechs bis acht Exemplare verlassen das Werk jährlich. Gerade ist Nummer 1116 in Bau. Die edlen Einzelanfertigungen bestehen aus einer Summe akkurater Details. Bis zu 4000 Stunden qualifizierter Handarbeit stecken darin. Und über jeden Handgriff wacht der Chef höchstpersönlich: Claudio Pedrazzini, der mit seinen schwarzen Jeans von Dolce & Gabbana und dem halblangen blonden Haar seine Produkte optisch ideal ergänzt.
Seine Arbeit geht jedoch weit über das Modeln für die eigenen Prospekte hinaus. Sie beginnt mit der Materialsuche beim Holzhändler und endet damit, dass er bei der Endmontage auf die horizontale Ausrichtung der Schraubenschlitze achtet.
Dazwischen liegen alle Etappen der Monate dauernden Herstellung. Besonders aufwändig gestaltet sich die Konstruktion des Rumpfes, eine hochkomplexe «doppeldiagonale Formverleimung». Zunächst werden zwei je 4,5 Millimeter dicke Mahagonischichten übers Kreuz auf das Spantengerüst geleimt, anschliessend die dritte, die längs über das ganze Boot verläuft. So entsteht im Laufe von sechs bis sieben Wochen eine dünne hölzerne Aussenhaut mit einer einzigartigen Festigkeit: die hohe Schule des Bootsbaus, wie sie weltweit kaum mehr praktiziert wird.
Steht die Grundkonstruktion einmal, geht es an den Ausbau. Das Vordeck erhält Intarsien, filigrane Leistchen aus kanadischem Fichtenholz werden in die millimetergenau gefrästen Nuten des Decksperrholzes eingelegt. Darauf kommt das Flaggstöckchen: zwei Schichten helles Holz, sechs Millimeter stark, alternierend verleimt mit dunklem Holz, zehn Millimeter, von Hand rundgehobelt, nachgefeilt, geschliffen, lackiert, innert zweier Wochen mit 14 weiteren Schichten überzogen. Im chromstahlblitzenden Bugbeschlag stecken 15 Stunden Handarbeit des 70-jährigen Schlossers, der seit 40 Jahren im Betrieb arbeitet.
15 qualifizierte Fachleute hantieren, still und in sich versunken, mit Klappmetern, Schraubzwingen, Hobeln. Nur manchmal jault kurz eine Maschine auf. Seit Jahrzehnten haben hier keine neue Technologien mehr Einzug gehalten. An den Wänden hängen Hunderte von Sperrholzschablonen für die Einzelteile sämtlicher Boote, die in den letzten 30 Jahren das Haus verlassen haben.
Seit 1993 führt Pedrazzini das Familienunternehmen in dritter Generation. Die Manufaktur umfasst zwei Werkhallen, eine weitere mit Boots-Trockenplätzen, einen Showroom, ein kleines Büro und einen firmeneigenen Hafen mit Tanksäule. Pedrazzini sieht seine Aufgabe darin, für Kontinuität zu sorgen: «Ich achte darauf, dass sich unser Name als Marke festigt und in Erscheinung tritt.» Gedenkt er zu expandieren? Die Körpersprache offenbart sein tastendes Naturell. Der Bootsbauer verschränkt die Arme, zieht die Schultern hoch, sein Kopf schiebt sich fast unmerklich nach vorne, die Augen weiten sich. Ein Pulsieren der Nasenflügel setzt ein. Er beginnt zu murmeln, um sich eine halbe Minute später ein Nein abzuringen.
Claudios Herzstück liegt im Hochhalten der Familientradition. Grossvater Augusto, geboren 1884, emigrierte 22-jährig vom Lago di Como an den Zürichsee, fand Arbeit in einer Werft, eröffnete 1914 eine eigene in Zürich Wollishofen, übersiedelte 1929 nach Bäch an den heutigen Sitz. Das Schwarzweissfoto zeigt einen typischen italienischen Einwanderer mit schwarzem Schnauz und Hut. Seine Gewohnheit, mit Zoccoli um sich zu werfen und mit geladener Pistole zu reisen, ist Legende. Zunächst wurden Fischer- und Ruderboote produziert, später Segeljollen und -yachten, nach dem Zweiten Weltkrieg auch Skiffs, die bis nach Russland exportiert wurden.
Sohn Ferruccio, Jahrgang 1918, arbeitete von Kindsbeinen an mit, studierte in Livorno an der Schule für Nautik und Design. Bereits als Zwanzigjähriger flitzte er im ersten selbst konstruierten Motorboot übers Schwyzer Wasser, mit einem etwas grösseren stiess er an der Landesausstellung von 1939 auf viel Beachtung. Ein kraftvoller, ideenreicher Lebenskünstler, der seine Italianità mit rauschenden Festen zelebrierte. Nachdem er 1951 nach dem Tod des Vaters, zunächst zusammen mit den Geschwistern, das Geschäft übernommen hatte, entwarf er das bis heute gültige Firmenlogo. Eine Zeit lang ging die Produktepalette der Werft in die Breite. So verkehrt ein Pedrazzini-Passagierschiff von 1956 noch immer auf dem Vierwaldstättersee.
Doch je mehr der Markt von billigen Polyester-Schaluppen überschwemmt wurde – das stabile, schnelle Kunststoffmotorboot entwickelte sich bald zum weltweit dominanten Massenprodukt –, umso gründlicher vertiefte sich Ferruccio in den Bau reiner Holzmotorboote. Neue Verleimungstechniken und Materialien wie Sperrholz sorgten in den fünfziger Jahren für einen technologischen Schub im Holzbau. 1955 legte er den Grundstein für die spätere Pedrazzini-Linie: Er designte das Modell Capri Super Deluxe, das heute noch in leicht abgewandelter Form zu haben ist. Der visionäre Tüftler scheute keinen Aufwand, um immer exklusivere Holzmodelle herzustellen. Damit schaffte er die Nische, die der Firma fortan ihr Gepräge gab.
Seinen Kindern liess er viel Freiheit, sie pflegten in der Werfthalle Verstecken zu spielen. Claudio, Jahrgang 1962, bekam als Siebenjähriger sein erstes eigenes Ruderboot. Nach Lehr- und Wanderjahren in Deutschland und Schweden stieg er in die Firma ein. Da sein Vater an kaufmännischen Fragen kaum interessiert war, blieb für den künftigen Chef genügend Raum neben dieser dominanten Figur.
1993, im Todesjahr von Ferruccio, übernahm der Enkel des Gründers eine Firma mit klarer Produktelinie: Mahagoni-Sportboote in kleiner Serie, luxuriöse Sonderanfertigungen mit Edelimage. Claudio Pedrazzinis Motto: «Man kann nicht im Grossen überzeugen, wenn man im Kleinen nachlässig ist.»
Es sollte schliesslich elf Jahre dauern, bis sich die Leidenschaft und die Akribie Pedrazzinis kreativ heauskristallisiert hatten und er sein erstes selbst designtes Modell in Produktion gehen liess: das Modell Vivale, traumhaft schöne 8,87 Meter, die von bootsbauerischer Meisterschaft zeugen. Es präsentierte sich noch eleganter, noch reduzierter, mit einer raffiniert integrierten Badeleiter am Heck.
Soeben läuft in der Werkhalle Sohn Alessandro (16) vorbei. Ein schlaksiger blonder Junge mit Brille und Zahnspange, der hier voller Begeisterung seine Lehre absolviert. «Sensationell» findet er die raffinierte Komplexität des Rumpfbaues, die er gerade kennen lernt. Er blickt bereits nach vorn: «Wenn ich den Betrieb mal übernehme, wird sich in den ersten Jahren mit Bestimmtheit nicht viel ändern.»