Eines Nachmittags im Juni 1962, ich war gerade auf dem Schulweg, lagen über dem ganzen Fraumünsterhof bis hinunter zum Helmhaus Hunderte von Kränzen, einer neben dem andern. Es hiess, der Dutti sei gestorben. Ich habe ihn nicht gekannt. Mich hat nur der riesige Geleitzug an seiner Beerdigung beeindruckt."

Für Peter Everts ist Gottlieb Duttweiler eine Kindheitserinnerung, mehr nicht. Trotzdem will er dem in der gegenwärtigen Konsumflaute abgebremsten Schiff der Migros durch eine Wiederbelebung des Pioniergeistes ihres Gründers Dampf geben. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern beruft er sich aber nicht auf Duttweiler, weil er die prägende Figur in seinem Leben war. Der neue Präsident der Verwaltungsdelegation (Geschäftsleitung) des Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB) benützt Duttis Vermächtnis für seine eigenen Ziele: "Ich bin kein Fundamentalist. Aber einige der Thesen von Duttweiler haben bis heute nichts an Aktualität eingebüsst. Man muss sie nur richtig deuten. Duttweiler packte gewisse Dinge an, bevor der Rest überhaupt merkte, wohin der Weg führt. Auch heute muss die Migros alles unternehmen, um die Funktion der innovativen Schrittmacherin zu behalten."

Wer nun erwartet, dass Everts die künftigen Innovationen der Migros im Einzelhandel feilbietet, wird freilich enttäuscht. Der neue Migros-Chef lässt sich vor seinem Amtsantritt Anfang 1997 noch nicht in die Karten schauen. Strategische Gespräche laufen zwar bereits. Doch für konkrete Ergebnisse vertröstet Everts auf den nächsten April. Auf diesen Termin sei die Information der Öffentlichkeit über die Strategie der grössten Einzelhandelsorganisation der Schweiz mit ihren 16 Milliarden Franken Umsatz angesetzt. Zu erwarten ist eine Konzentration auf das Kerngeschäft. Für Everts ist dies "das Geschäft mit Einzelkunden in der Schweiz". Ist damit das Thema der Internationalisierung vom Tisch, mit der jüngst in Österreich ein Verlust von 330 Millionen an Land gezogen wurde? Auch hier gibt sich Everts bedeckt: "Nein, diese Frage werden wir genau analysieren. Eine Prognose über eine erneute Expansion ins Ausland will ich aber jetzt noch nicht abgeben."

Duttweilers Erbe, die nicht gewinnorientierte Genossenschaft, die ihren Mitgliedern gehört, hat für Everts nichts an seiner Brauchbarkeit verloren, im Gegenteil. "Heute sprechen viele von Shareholder value und hohen Eigenkapitalrenditen. Aber das Pendel des Zeitgeistes schlägt wieder zurück. Als Genossenschaft stehen wir am anderen Extrem der Wertskala und haben deshalb auch langfristig sehr gute Chancen. Denn Extrempositionen sind strategisch gesehen immer gut." Aus Duttweilers Forderungen, das Gemeinwohl über die Interessen des Unternehmens zu stellen, leitet Everts eine Mission der Migros ab, in der "der Mensch, und nicht der Franken im Zentrum des Handelns steht". Das ist nicht nur eine Frohbotschaft an die über 75 000 Beschäftigten der grössten privaten Arbeitgeberin der Schweiz. Dieser Ton dürfte auch bei den von Zukunftsängsten und Misstrauen gegen "die da oben" geprägten Normalverbrauchern genau richtig ankommen, denn die Migros stellt sich auf ihre Seite. "Wir können uns als Genossenschaft ruhig so positionieren, dass wir zu unserer sozialen Verantwortung stehen und eine gesellschaftspolitische Rolle übernehmen." Folgerichtig will sich Everts in der Landwirtschaftspolitik, in Fragen der Ökologie oder Gentechnik konsequenter für die Interessen der Konsumenten einsetzen.

Der Luzerner mit holländischen Vorfahren ist nicht nur ein gewiefter Kommunikator und Analytiker, sondern auch ein ausgebuffter Marketingprofi. Die Theorie hat er an der Universität Zürich studiert. Dort erwarb der Sohn eines Bauingenieurs aus Erlenbach nach der Matura (Typus C) und einem kurzen Abstecher in die Biologie ein Diplom der Wirtschaftswissenschaften. "Ich hatte nicht die Geduld, stundenlang Präparate unter dem Mikroskop zu betrachten. Mir wurde es schon nach zehn Minuten langweilig. In der Wirtschaft aber ist dieser Makel eine Stärke." Sein Fazit der Studienzeit: "Das wichtigste, was ich auf der Universität gelernt habe, war, systematisch an ein Problem zu gehen."

Trotz aller Systematik war Everts' Weg in die Wirtschaft nicht geradlinig. Als er in den sechziger Jahren studierte, war die Jugend sehr unruhig und er selbst als Journalist für verschiedene Blätter unterwegs. Die Zürcher Globus-Krawalle im heissen Sommer 1968 erlebte er hautnah als Reporter mit. Weil er mehr Sympathien für die Underdogs als fürs Establishment empfand - das gehörte damals zum guten Ton - blieb er in der Armee ein einfacher Soldat. Als 68er will Everts dennoch nicht gelten: "Im parteipolitischen Rechts-links-Schema konnte ich mich nie klar einordnen, auch heute nicht. Meine politische Grundhaltung würde ich als sozial-liberal bezeichnen."

Bereits 1966 hatte sich Everts auch als Radiomacher versucht. Im Studio Zürich des damaligen Radio Beromünster lernte er Roger Schawinski kennen, der heute mit Radio 24 und Tele-Züri im Äther ist. Als Spielwiese des Studentenduos diente ein Nachtmagazin mit gesprochenen Beiträgen. Es war für beide der erste Kontakt mit dem Radio. Schawinski verstand sich mit seinem Radiopartner blendend: "Ich mochte seine Art von Humor. Peter Everts war ein blitzgescheiter und schneller Journalist, der auch gut schreiben konnte." Trotz seines Talents gab Everts diesen Beruf auf. "Ich machte einen Unterhaltungsjournalismus, der auch heute noch modern wäre. Aber nach dem Flugzeugabsturz von Würenlingen hatte ich plötzlich genug. Diese Art der Berichterstattung war nichts für mich."

Während des Studiums war Everts im Rahmen einer Firmenpräsentation auch mit der Migros in Kontakt gekommen. "Damals war mir aber klar: Zur Migros gehe ich nie." Weil er "klassisches Marketing betreiben" wollte und den Duft der weiten Welt dem eidgenössischen Mief der Hörnliverkäufer entschieden vorzog. Also bewarb er sich 1972 bei einer Reihe von Markenartikelherstellern und entschied sich für Nestlé. "Die boten mir gleich eine Stelle im Ausland an. Das war der ausschlaggebende Punkt." In den vier Jahren bei Nestlé brachte er es bis zum Product Manager für Milchprodukte im südlichen Lateinamerika. Doch nachdem er in Argentinien den Wechsel von fünf Präsidenten miterlebt und eine verirrte Gewehrkugel sein Büro in Buenos Aires getroffen hatte, war seine Zeit bei Nestlé abgelaufen. Damals wurde Everts zum ersten Mal Vater. Das war mit ein Grund für den Wechsel. "Aber lassen Sie bitte die Familie aus dem Spiel. Meine Frau hat ihre eigene Praxis, die vier Kinder sind inzwischen erwachsen. Das genügt."

Weil er seine berufliche Laufbahn nicht dem Zufall überlassen wollte, wandte er sich an einen Karriereberater. Der empfahl ihm, in den Finanzbereich zu wechseln, am besten zu einer Grossbank. "Doch die Bankenwelt war nichts für mich", sagt Everts. "Nach reiflicher Überlegung" entschied er sich erneut für einen Job an der Verkaufsfront, und zwar ausgerechnet bei der Migros. In der Genossenschaft Aargau/Solothurn fing er 1975 als Leiter des Marketings an. "Der Umzug von der 10-Millionen-Metropole Buenos Aires nach Schöftland in der aargauischen Provinz war ein Schock." Doch Everts reizte die Aussicht, statt eines Teams von fünf Leuten, wie bei Nestlé, auf einen Schlag 150 Mitarbeiter unter sich zu haben. Und er wollte Marketing, seine Leidenschaft, aus der Sicht der "eher pragmatischen" Detailhändler betreiben. Da sah er offenbar einen Weg, vorwärtszukommen, der aussichtsreicher war als der lange Marsch durch die Institutionen von Nestlé.

"Ich möchte lieber der Erste hier als der Zweite in Rom sein." Das Cäsar-Zitat verwendet Everts im Gespräch zwar für eine mögliche Marktstrategie der Migros im europäischen Einzelhandel. Doch es trifft auch auf den Migros-Chef selber zu; er liebt die Unabhängigkeit und hält die entscheidenden Fäden am liebsten selbst in der Hand. Dabei kommen ihm seine journalistischen Erfahrungen zugut. Seinem Wesen nach eher schüchtern, entwickelte er als Journalist beachtliche Fähigkeiten in der Kommunikation. Everts' schärfste Waffe, um seine Ziele zu erreichen, ist die überzeugende Rede.

In der Genossenschaft Aargau/Solothurn spielte Everts zwar noch die zweite Geige. Doch seine erfolgreiche Verkaufstätigkeit stach auch Jules Kyburz, damals Leiter der Genossenschaft Bern, heute Präsident und starker Mann im MGB, ins Auge: "Er fiel mir auf, weil er Mut zum Experiment hatte. Einmal liess er zum Beispiel einen Lastwagen von einem Künstler bemalen. Das hat gewirkt." Als Kyburz 1984 zum obersten Migros-Manager in Zürich gewählt wurde, machte er Everts zu seinem Nachfolger als Leiter der Genossenschaft Migros Bern. Everts' grösster Erfolg war der Kauf zweier Filialen der französischen Handelskette Carrefour, den er in kurzer Zeit über die Bühne brachte. Bis 1995 trieb er den Umsatz der Berner Genossenschaft um die Hälfte auf 1,5 Milliarden Franken hoch.

In Bern entdeckte er auch seine Liebe zur Kunst: "Gerade aus den neusten, zum Teil schwer verständlichen Entwicklungen der Kunst, etwa im Bereich Video, gehen Einflüsse aus, die auch auf unser Geschäft, den Hörnlihandel, abfärben. Künstler haben oft die Nase etwas weiter vorn als andere. Das interessiert mich." Everts hat mit dem Kulturprozent der Migros nicht nur eine bedeutende Sammlung moderner Schweizer Kunst ermöglicht. Er kauft auch privat Kunst und besitzt Werke von Lichtsteiner, Luginbühl, von Wattenwil, "aber auch Kratky, der mir sehr gefällt. Aber den kennt keiner". Bernhard Luginbühl, der plastische Schwerarbeiter aus Mötschwil, ist mit Everts befreundet und hält viel auf dessen Kunstverstand: "Der Everts hat offene Ohren für die Kunst, das ist eher selten bei der Migros. Er hat ein moderneres Kunstverständnis als ich und fördert auch junge Künstler."

Analytisches Denken, kommunikatives Geschick und intellektuelles Profil sind nicht Everts' einzige Vorzüge. Im Urteil von Kyburz ist er "nicht nur geradlinig, sehr eigenständig, integer und konfliktfähig. Er ist ein Mensch, dem man vertraut, und vor allem ein Teamplayer, der selbst als Chef ein Mitarbeiter bleibt. Das ist sehr wichtig in der Migros-Kultur." Diese Teamfähigkeit wird Everts nötig haben. Denn die genossenschaftlich strukturierte Migros ist keine Organisation, die sich von oben nach unten führen lässt. Allzu glorios agierende Führerfiguren wurden in der Migros bisher zurückgebunden. Pierre Arnold etwa trat nach aussen souverän als "Monsieur Migros" auf. Doch im Genossenschaftsapparat scheiterte er oft am Widerstand der Kollegen und Regionalchefs. Everts, dem zweiten Akademiker auf dem Chefsessel, könnte es ähnlich ergehen. Er wird sich die Loyalität von Hermann Hasen, in dessen Departement Nonfood die neue Fachmarktstrategie umzusetzen ist, und der übrigen Mitglieder der Verwaltungsdelegation sichern müssen. Wie wird er mit dieser heiklen Machtkonstellation umgehen? Dazu Schawinski: "Peter Everts empfindet eine grosse Abneigung gegen machthungrige Mischler. Die Konstellation innerhalb der Migros hat er aber genau analysiert. Er wird seine Macht dort sehr dosiert einsetzen."

Kyburz, der Everts' Wahl massgeblich gefördert hat, wird sich dieses Problems bewusst sein. Sein entscheidender Trumpf ist Everts' Persönlichkeit: Der Migros-Chef ist bei all seinen Fähigkeiten ein bescheidener Mann. Er selbst sagt, dass "es für einen Manager sehr wichtig ist, Bodenhaftung zu behalten. Wer sich täglich vom Haus direkt zum Direktionssitz chauffieren lässt, verliert den Kontakt zu den ganz gewöhnlichen Leuten und ihren Problemen." Deshalb kauft Everts auch gern selbst in der Migros ein: "Wenn Sie als Konsument im Laden etwas suchen, sehen Sie sehr rasch, worauf es im Verkauf ankommt." Auch Everts' Führungsstil ist durch Bescheidenheit und einen fast jungenhaften Charme geprägt. Dazu ein Mitarbeiter aus Bern: "Er ist kein Chef im traditionellen Sinn, sondern ein Coach, der grosszügig delegieren kann." Ein Softie etwa? "Nein, er kann hart durchgreifen, aber er macht es, ohne zu poltern."

Doch wie wird sich Everts im harten Konkurrenzkampf der Einzelhändler schlagen? 1996 muss die Migros erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg einen Umsatzverlust hinnehmen. Sie hat den Bioboom weitgehend dem Konkurrenten Coop überlassen, obwohl sie bereits 1974 mit M-Sano als Pionierin die Lebensmittelqualität neu definierte. Und sie tut sich schwer gegenüber den Harddiscountern Billi und Denner. Sei's drum, Rolf Leuenberger, der frühere Coop-Chef, erteilt der Erzrivalin gute Noten: "Im Preis-Leistungs-Verhältnis ist die Migros etwas leistungsfähiger als die Konkurrenz." Ein grosses Plus sei auch ihre Finanzkraft. "Bei Coop haben wir ihre Reserven auf 700 bis 800 Millionen Franken geschätzt. Als Coop-Chef fürchtete ich immer, dass sich die Migros auf einen richtigen Preiskampf einlassen könnte. Sie hätte dabei ganz klar den längsten Atem."

Der Pferdefuss am Modell Migros sind ihre Produktionsbetriebe, die rund 30 Prozent des Sortiments herstellen. Angesichts sinkender Margen und hoher Produktionskosten am Standort Schweiz stehen sie unter einem gewaltigen Rationalisierungsdruck. Das bestreitet auch Everts nicht. Die Produktionsbetriebe hätten zwar ein "sehr gutes Jahr" hinter sich. "Mir ist aber klar, dass sie noch mehr bieten müssen als bisher, um gegen die internationale Konkurrenz bestehen zu können." Industriechef Anton Scherrer räumt ein, das seit 1994 gültige Ziel einer Produktivitätssteigerung von jährlich sechs Prozent sei bei der gegenwärtigen Preisdeflation "zunehmend schwieriger zu realisieren. Wir müssen aber die europäische Leistungsfähigkeit erreichen." Doch Everts will am Standort Schweiz festhalten. "Ich werde dafür kämpfen, dass die Arbeitsplätze sicher sind. Aber die Mitarbeiter müssen mithelfen, damit wir uns durch bessere Leistungen differenzieren können." Erhaltung der Arbeitsplätze ja, aber nicht um jeden Preis. Da blitzt bei Peter Everts eine Härte auf, die er bei aller Liebe zum Konsens durchaus einsetzt, wenn es denn sein muss. Am Revers seines Vestons trägt er einen Rohdiamanten. Er ist ein Geschenk seiner Frau. Und sie wird wissen, woran sie mit ihrem Mann ist.

 

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