Das Drehbuch zur Diskreditierung einer ganzen Führungsschicht liest sich, als wäre es von Marxisten geschrieben worden: Honoratioren wirtschaften die nationale Fluggesellschaft zu Grunde, Topshots einer Privatbank verheddern sich in landläufigem Projektmanagement, Kader der SBB bedienen sich aufs Ungeschickteste mit Löhnen und Boni, zwei Präsidenten der grössten Kantonalbank greifen in den Topf. Den angestellten Kadern stehen die Eigentümer nicht nach, sie zerstören ihre Firmen gleich selbst: Pierre Borgeaud bei Sulzer, Elisabeth Salina Amorini bei SGS, die Familie André in Lausanne. Oder sie laufen nach der Gründung davon wie bei Fantastic, Day oder Think Tools. Die Medien und das Volk der Kleinverdiener sehen mit Erstaunen und Zorn, dass diese Leute nur mit Wasser kochen – und es auch noch verschütten.
Die hohen Herren hatten in den schwierigen Neunzigerjahren den Anspruch durchgesetzt, mit Fusionen, Auslagerungen und Personalabbau die Volkswirtschaft wieder fit zu machen. Ohne grösseres Murren hatten die Angestellten, die Klein- und Mittelbetriebe mitgezogen, sich mehrfach angepasst. Doch viele der grossen Bosse stehen heute als Dilettanten da, gross sind nur ihre Bezüge und ihr vergoldeter Abgang.
Die Häufung solcher Brüche droht zum Schiffbruch eines Systems zu werden, das seit ein paar Jahren erfolgreich die Köpfe für Aktien, Leistung und rasche Wertschöpfung frei macht. Doch die Führungsschicht sabotiert die Glaubwürdigkeit durch Fehler und Gier. Soll das Schiff wieder flott werden, sind die spezifisch schweizerischen Fehlentwicklungen auszumachen und zu beheben. Sie lassen sich anhand von Archetypen in den Verwaltungsräten und obersten Führungsetagen trefflich beschreiben:
Die Verbindungsleute
Der typisch schweizerische Verwaltungsrat besteht aus Verbindungsleuten. So erhoffte sich die Swissair von der Ständerätin Vreni Spoerry, die auch bei CS und Nestlé im Verwaltungsrat sitzt, einen guten Draht zur Politik. Bankiers wie Lukas Mühlemann sollten den Kreditfluss sichern, Verbandsfürsten wie der Vorort-Präsident wurden eingebunden. Verbindungen kann eine Firma aber viel direkter haben, indem sie diese Leute von Fall zu Fall anspricht. Denn der Verwaltungsrat ist nicht für Verbindungen zuständig, sondern für Strategie und Kontrolle, er hat laut Gesetz «unverzichtbare Aufgaben». Dazu gehört unter anderem die Übersicht über die Finanzen. Die Leute mit den guten Verbindungen dagegen haben ihren Kopf anderswo, ihre Kompetenzen ebenfalls. Ihr Selbstwertgefühl im Rat ergibt sich aus der ehrenvollen Berufung, daraus, dass sie andernorts bedeutend sind und nicht aus der Pflicht, der Firma etwas einzubringen. Das Ratsgremium entwickelt parlamentarisch-repräsentative Umgangsformen, statt eine verschworene Projektgruppe zu werden.
Der Kooptierer
Die meisten Verwaltungsräte und sogar Kadergremien werden in der Schweiz kooptiert, das heisst, die Bisherigen laden bewährte Bekannte ein, neben ihnen Platz zu nehmen. Kommen etwa Aktionäre einmal auf die Idee, jemanden in die leitenden Gremien abzuordnen, stösst das meist auf kühles Befremden. Auch Aufsteiger werden rasch integriert, wie etwa André Kudelski, der künftig bei Nestlé und Swissair den Geist des KMU-Hightech verbreiten soll.
In der Swissair steht Lukas Mühlemann für eine ganze Reihe von Kooptationen, die weite Kreise um die CS-Winterthur-Gruppe in die übrige Wirtschaft hineinzieht. Jahrzehntelang hatten Ulrich Bremi als Übervater und Egon Zehnder als Ziehvater solche Kreise aufgebaut. Breit gestreut sind kooptierte Kader aus der KcKinsey-Beratergruppe, zu denen als Ehemaliger auch Lukas Mühlemann zählt. Wie sich diese gegenseitige Einsitznahme auf die Managerlöhne auswirkt, hat der Finanzspezialist Daniel Broglie schön aufgearbeitet: Im «Compensation Committee» der CS bestimmt der Nestlé-Manager Peter Brabeck den Lohn Mühlemanns, während Mühlemanns ehemaliger Chef Rainer Gut bei Nestlé das Entgelt Brabecks festlegt. Und Daniel Vasella von Novartis entlöhnt als Verwaltungsrat der CS deren GL-Mitglied Hans-Ulrich Doerig, der seinerseits im Novartis-Verwaltungsrat den Lohn Vasellas mitbestimmt. So wird die Machtteilung unterlaufen, welche die Volkswirtschaften vital halten sollte.
Der Wettbewerbsscheue
Die Schweizer leben und lassen leben. Tempo schadet nur, Entscheide kann man vertagen, sie werden dann eher noch besser ausfallen. Dieses verbreitete Lebensgefühl verzichtet dort auf Wettbewerb, wo er weh tut, zwischen dir und mir. Die Probleme von Sulzer beispielsweise wurden unter dem CEO Fritz Fahrni und dem langjährigen Verwaltungsrat auf diese Weise durch Verdrängung entschärft. Die Folge ist nun eine hektische Stagnation, ganz ähnlich wie bei der alten BBC. Und sie beginnt sich auch rund um den intern noch unbestrittenen Boss Hüppi bei der Zurich Financial Services zu zeigen. Vertrauensselig und unangefochten bauten die Strompolitiker der Schweiz riesige Überkapazitäten auf und wollten die Öffnung der Märkte partout nicht zur Kenntnis nehmen, jetzt schreiben die EOS, die BKW, die NOK unter Peter Wiederkehr jährlich Hunderte von Millionen ab, nur wollte Wiederkehr wenigstens kein Staatsgeld dafür.
Der fehlende Wettbewerb im persönlichen Verhältnis entwöhnt die meisten Schweizer des Pokerface. Sie spielen nicht auf zwei Ebenen, sind keine Darsteller, haben kein inneres Gummiband um die Seele. Im entscheidenden Moment fehlt ihnen die skurrile oder verwegene Kreativität der Angelsachsen.
Der Verzicht auf Konkurrenz wird den Schweizern schon in der Schule beigebracht, das Erbrecht behandelt die Nachkommen gleich. Nicht aufzufallen, ist in den meisten Gremien eine wichtige Bedingung, um – verschämt – dessen Leitung zu übernehmen. Denn Streber und Glänzer sind gefährlich für alle andern und werden gerne übergangen. Die schöne Seite dieses hier grob skizzierten Naturells liegt in der Zuverlässigkeit, in Treu und Glauben und darin, dass auch die Leute unterhalb der Spitze mit am Karren ziehen.
Der Duzfreund
«Lasst Duzfreunde um mich sein» wäre wohl das passende Motto für viele früher erfolgreiche Führungsetagen. Das Du kommt heute fast automatisch beim ersten gemeinsamen Essen. Doch das deutsche Du bedeutet mehr als das englische You, denn es unterstellt viel mehr Nähe als das Sie, das die Ausgangsnorm darstellt. Eric Honegger bewegt sich in seiner vertrauten Vaterstadt in solchen Kreisen; er hat sich nie in London und nicht einmal in Basel durchboxen müssen. Mathis Cabiallavettas Bündner Freunde in der UBS waren legendär. Wer aber zu intensiv und zu lange vertrauten Umgang gepflegt hat, kann nicht plötzlich eine Lage oder eine Person kühl von aussen betrachten. Schlimmer noch: Wer sich zu lange dank des vertraulichen Du im innersten Kreise wähnte, trägt alles mit und kann nicht mehr ausscheren. Er hat die erste Stufe zum mafiösen Verhalten unbewusst genommen. In Seilschaften entwickelt sich das gemeinsame Interesse am Ausharren und Zudecken. Kühn wird immerhin die UBS dieses Frühjahr mit dem neuen CEO Luqman Arnold aus England und drei international bekannten neuen Verwaltungsräten diese schweizerischen Duzkreise hinter sich lassen.
Der Patriarch
Den Patriarchen als Archetypen gibt es oft dort, wo der Eigentümer noch viel zu entscheiden hat. Entscheidet er falsch, kann er dabei lernen, bleibt er aber dabei, ruiniert er die Firma. Leider spielen ihm die anderen archetypischen Verhaltensweisen dabei in die Hände: Die anderen Leute stecken zu stark mit drin, oder sie sind als Freunde des Hauses ohne eigene Macht kooptiert, oder sie halten sich als blosse Verbindungsleute nicht für verantwortlich. Pierre Borgeaud vertrat bei Sulzer Familieninteressen, die aus eigenem Antrieb längst drastische Besserung hätten suchen sollen. Elisabeth Salina Amorini hat die internationale Prüfgesellschaft SGS geleitet und geschwächt; sie sieht nicht ein, dass nun die anderen Aktionärsgruppen am Zug sind. Dieter Bührle erschütterte seinen Konzern vor 15 Jahren mit einem einzigen Milliardenprojekt. Rudolf Sprüngli und Karl Schweri sind andere Patriarchen, die nicht aufhören konnten.
Doch haben auch andere Gruppen mit archetypischen Verhaltensweisen verheerenden Anteil am Schlamassel vieler schweizerischer Firmen. In einem System, das sich als Privatwirtschaft versteht, sind an erster Stelle die Aktionäre zu nennen. Kaum einmal riskieren die eigentlichen Besitzer rechtzeitig einen Aufstand. Die Inhaber grosser Aktienpakete drücken sich oft zu lange. Allzu sorglos bestellten seinerzeit die Familien Coninx beim «Tages-Anzeiger» und kürzlich die Vontobels aussen stehende Generalbevollmächtigte, die dann prompt dem Cäsarenwahn verfielen.
Der Pensionskassenverwalter
Die Pensionskassen besitzen einen steigenden Teil des Aktienvermögens. Allerdings setzt ihnen die schweizerische Konsenskultur immer wieder Grenzen, indem Aktionäre oft nicht mehr als drei Prozent der Stimmen ausüben dürfen. Dennoch würden verschiedene Wege offen stehen, um zusammen mit andern Institutionellen dem Management und dem Verwaltungsrat auf die Finger zu sehen.
Die Stiftung Ethos zum Beispiel bündelt die Stimmrechte von Pensionskassen an Generalversammlungen. Doch als sie die Ämterkumulation Lukas Mühlemanns als CEO und Verwaltungsrat der CS bekämpfte, beliessen viele Kassen den grösseren Teil ihrer Stimmen bei den Banken, stimmten also dort zu – über ihre Papiere bei Ethos aber dagegen.
Der Bürokratius
Immer mehr Firmen werden immer bürokratischer. Die sich rasant ausbreitende «Schriftlichkeit der Vorgänge» definiert den bürokratischen Abweg. Manager trauen sich nur noch Entscheide zu, wenn externe Studien in mehreren Ordnern erstellt worden sind. Auch kleine Firmen bekommen nur noch Bankkredite, wenn kiloschwere Rapporte vorliegen, mit Kosten von hunderttausend Franken und mehr zu Lasten der Firma.
Antreiber dieser Bürokratisierung sind die Beraterfirmen wie McKinsey, PricewaterhouseCoopers, die bei Swissair und Vontobel unrühmlich in Erscheinung getreten sind. Die enormen Honorare dieser Berater müssen sie mit ebenso voluminösen Berichten rechtfertigen, und die dankbaren Manager entlasten sich damit. Auch die Berater lehnen jede Haftung ab, die Firma zahlt, Verantwortung trägt nur noch das Papier.
Der reformstauende Politiker
Schliesslich mischt ein letzter Archetyp in den Firmen mit: Politiker und Medien, die jede rechtzeitige Veränderung bekämpfen. Der dadurch bewirkte Reformstau schützt altes Kapital gegen neues. So etwa, wenn die SPS das Referendum gegen die geplante Strommarktliberalisierung ergreift und damit die Überinvestitionen der Monopole schützt. So auch, wenn der Freiburger Staatsrat mit Kerzen gegen die Sibra-Schliessung demonstriert und damit der Feldschlösschen-Gruppe das Bierbrauen überhaupt verleidet.
Die Politik kann gegenwärtig der Wirtschaft kaum als Beispiel dienen, denn die Parteipräsidenten laufen womöglich noch schneller auf Sand als die Topmanager. Und ein Parlamentspräsident, der mit seinen Verwaltungsratsmandaten schlaumeiert, oder ein Stadtpräsident mit seiner Billigwohnung sind auch nicht eben nachahmenswert.
Die Öffentlichkeit weiss zwar, dass sich die Schweiz wie alle Volkswirtschaften beschleunigt, technisiert und globalisiert. Das Publikum glaubt aber nicht mehr an die Fähigkeit der Elite, nicht an deren Energie, schlimmmer noch: Es zweifelt an deren Integrität. Reagieren wird das inländische Publikum mit der Aufkündigung der Gefolgschaft, und das internationale Publikum merkt, dass grössere Teile der Schweizer Wirtschaft zu haben sein könnten. In einem kleinen Land mit viel Kapital und formidablen Firmen sind Talente gesucht. Umso mehr muss sich die Leistungselite international messen, und sie muss kämpfen. Wenn sie das nicht tut, muss ihr der Wettbewerb eingebläut werden – von Aktionären, Pensionskassen, Mitarbeitern und der Öffentlichkeit.
Korrigenda
Im Beitrag «Schweizer Topshots scheitern mit System» (erschienen im Magazin BILANZ in der April-Ausgabe) unterstellen wir unter dem Zwischentitel «Bürokratius», McKinsey-Schweiz-Chef Thomas Knecht sei beim Swissair-Beratungsmandat seines Unternehmens «persönlich engagiert» gewesen. Diese Darstellung ist falsch. Thomas Knecht war in der fraglichen Zeitspanne, also der Aera Bruggisser, nicht mit dem Mandat der SAir Group befasst.