Das Berufsleben eines professionellen Schweizer Eishockeyspielers dauert im Durchschnitt 13 Jahre. In dieser Zeit absolviert er ungezählte Liegestütze auf dem Eis, die bevorzugte leichte Disziplinierungs- und Strafmassnahme, zu der die Sporttrainer greifen. Das ist auch bei Ralph Krueger, dem Trainer der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft, nicht anders. Im Berner Allmendstadion wuchten fünf Männer auf Kufen ihre dick eingepackten Körper in die Höhe. 17 weitere Spieler gleiten über das Eis oder fangen, als Torhüter vermummt, die fliegende Hartgummischeibe. Ralph Krueger steht an der Bande und ruft, was Trainer während der Übungseinheiten in der ganzen Welt meist rufen: «Come on, boys!»
Eine ganz normale Trainingseinheit eines ganz normalen Teams unter einem ganz normalen Trainer also? Nicht ganz. Denn hier, an einem hundsgemein eisigen Februartag im Berner Allmendstadion, lachen die Spieler, während sie ihren Körper stemmen und der kalte Wind durch die Halle zieht. Wir sehen einen Trainer, der viel und einzeln mit den Spielern diskutiert und seinen jeweiligen Gesprächspartner am Arm oder an der Schulter anfasst und erst loslässt, wenn er mit ihm fertig ist. Wir bekommen das Gefühl, dass die Spieler mit Konzentration bei der Sache sind – und mit Lust. Sehen wir tatsächlich erstmals glückliche Eishockeyprofis?
Das Handwerk mag das gleiche sein. Doch sonst ist Ralph Krueger beinahe beängstigend anders als seine Kollegen. Er ist Deutsch-Kanadier, war früher selbst ein eher mittelmässiger Eishockeyprofessional. Jetzt ist er 41 Jahre alt, blond, mit einem jugendlichen, meist fröhlichen Gesicht, das Schmerzen nicht zu kennen scheint. Als Trainer wirkte er zunächst in Österreich, wo er die bis dahin unbekannte Klubmannschaft Feldkirch in nur sieben Jahren zur europäischen Spitze coachte. Und kaum war er auf dem Schweizer Eis gelandet, befreite er auch die Eidgenossen umgehend aus der Erfolgslosigkeit, zum Entzücken der hiesigen Medien. Aus egoistischen, verwöhnten und unselbstständigen Kindern der Wohlstandsinsel Schweiz machte er innert Jahresfrist junge, hungrige, teamorientiert handelnde Menschen. Ralph Krueger führte sie und die Schweizer Nationalmannschaft in den letzten drei Jahren zu einem vierten, einem achten und einem sechs- ten Rang an den Weltmeisterschaften und reiht sie damit ein unter die grossen acht Eishockeynationen der Welt (siehe «Berg-und- Tal-Fahrt» auf Seite 33). Am kommenden Championat, das ab dem 27. April in Deutschland stattfindet, soll diese Geschichte ihre Fortsetzung finden. Und an den Olympischen Spielen in Salt Lake City im nächsten Winter ebenfalls.
Neben seinem 80-Prozent-Job als Nationalmannschaftscoach hält «Mister Teflon» Vorträge vor Managern und Kaderleuten. Er hat eine eigene Beratungsagentur gegründet, die einzig ihn selbst vermarktet, und er verdient pro Vortrag nie weniger als 10 000 Franken. Ralph Krueger ist ausgebucht bis in alle Ewigkeit, das heisst bis zum übernächsten Jahr. Der Mann ist unheimlich. Unheimlich erfolgreich. Scheinbar perfekt. Eine Art Messias des Eishockeys. Nach einem Sieg des Schweizer Teams schrieb der «Blick» mit einem Ausflug ins Biblische über ihn: «Das wahrscheinlich erstaunlichste Comeback, seit Lazarus von den Toten auferstanden ist.»
Das Dort und das Hier
Ralph Krueger eilt raschen Schrittes durch die Lobby des Berner Hotels, in dem die Nationalmannschaft untergebracht ist. Er ist ein wenig zu spät. «Sorry, guys», sagt er, setzt sich und ist auch schon angekommen. Zwischen dort und hier gibt es für ihn kein Unterwegs. Kein einführender Smalltalk. Los gehts. Den Besuchern soll er seine Philosophie erklären – und hat es doch mit dem direkten Einstieg ins Gespräch eigentlich schon getan. Ralph Krueger lebt in verschiedenen Welten, die er genau studiert hat, zu benennen weiss und die er streng voneinander getrennt hält. Mal ist er ganz Privatmann mit seiner Frau und den zwei Kindern am Wohnort Davos, mal ganz Vortragender für die eigene Firma im zugerischen Steinhausen, mal ganz Eishockeycoach, mal ganz Jogger. Das eine wird nicht mit dem anderen vermischt. Darauf baut er sein Handeln auf, und deshalb kann er rasant von der einen in die andere Welt wechseln.
Er denkt und lässt denken, er agiert im Moment und verlangt dies auch von seinen Spielern. «Wenn wir in der dreissigsten Minute eines Spiels, das sechzig Minuten dauert, bereits vom Sieg träumen, so geraten wir in ernsthafte Gefahr», sagt er. Und verdeutlicht dies anhand der Testpartie vom Vorabend gegen die Slowakei. Beinahe hätten seine Schützlinge einen Vorsprung aus der Hand gegeben, weil sie zu früh an die nächsten Minuten gedacht hätten. Ralph Krueger sagt einen der typischen Krueger-Sätze: «Menschen, die langfristig erfolgreich sind, können konsequent und schnell Entscheidungen treffen. Sie kennen die Zeitachse, und sie bewegen sich dennoch und gleichzeitig mit all ihrer Kraft im Moment.»
Die meisten Kaderpersonen kennen derlei verbale Freiübungen. Zeitdenken und Momentgefühl – ein bisschen Buddhismus und ein Schuss indianische Weisheit, Instant-Esoterik eben, ohne die kaum eine Tagung und kein Leadership-Kongress auskommt. «Als Coach muss ich für die Spieler klar verständliche Bilder malen und diese in ihre Köpfe und Herzen pflanzen», sagt Ralph Krueger. «Sind diese Bilder aber einmal gepflanzt, dürfen wir sie nicht mehr anschauen. Das ist das Verrückte. Man muss Träume, Visionen, Ziele haben. Stehen sie einmal fest, darf man während der Ausführung nie an sie denken. Sie müssen im Hintergrund warten. Drängen sie nach vorne in unser Bewusstsein, kommen Ängste auf, und die Gefahr wächst, dass wir scheitern.» Der Eishockeylehrer transferiert diesen Gedanken mühelos ins Geschäftsleben: «Man muss die Fähigkeit haben zu analysieren. Diese Fähigkeit haben nur wir – und die anderen Naturwesen nicht. Wir setzen sie nicht immer ein. Man muss sich also zuerst Zeit nehmen, überlegen und herausfinden, was von einem eingeschlagenen Weg ablenken könnte. Ich frage mich also: Welche Einflüsse auf meine Firma oder auf mein Team bringen uns nicht weiter? Und die eliminiere ich.»
Motivationsschub über SMS
Ralph Krueger sitzt entspannt im Sessel und erzählt. Er hört geduldig zu und antwortet stets erst nach einer Weile des Überlegens. Neben ihm steht der Pressechef des Schweizerischen Eishockeyverbandes und drängt zum Aufbruch. TV-Kameras, Interviews vor der Weltmeisterschaft warten. Krueger hier, Krueger da. Doch lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen, und schon gar nicht ist ihm ein Wort der Klage über den Zeitdruck zu entlocken. Manche Begriffe möchte er aus seinem Wortschatz streichen, fast als ob sie schmutzig wären. Für ihn sind sie das wohl auch: «Angst, Enttäuschung, Frust, Schwierigkeiten – diese Wörter kenne ich gar nicht», meint er mehrere Male. Und sagt dann doch den mit einem Pfui-Wort belasteten Satz: «Sport lebt von Fehlern.» Aber dann auch: «Am Anfang meiner Trainerlaufbahn habe ich das Verlieren gehasst. Gehasst. Heute liebe ich das Siegen. Das ist eine grosse Veränderung.»
Die Spieler verlangen nach einem selbstsicheren, dominanten Boss, der ihnen den Weg zum Erfolg auch im Dunkeln weist. Wenn er den Weg nicht kennt, wie sollte dann der Puck den Weg ins Tor finden? Wie der übermächtige Gegner besiegt, die Konkurrenz geschlagen, der Umsatz erhöht oder die Angestellten glücklicher und besser werden? «Wenn Unangenehmes passiert, darf ich dies nicht mit einer negativen Handlung beantworten. Ich muss stark bleiben. Ich muss versuchen, einen Spieler oder einen Angestellten aufzubauen. Es wäre ein reiner Egotrip, würde ich einen Spieler öffentlich kritisieren, nachdem er einen Fehler begangen hat», sagt Ralph Krueger, der Kritik an Einzelspielern nur unter vier Augen übt. Über diese Gespräche dringt kein Wort an die Öffentlichkeit. So hat er innerhalb kurzer Zeit Vertrauen geschaffen und ein Team, das sich nicht als Gruppe von hoch bezahlten Söldnern versteht, sondern als Schicksalsgemeinschaft.
Spieler und Angestellte wollen bei ihren Trainern und Vorgesetzten aussergewöhnliche Konzentration und Selbstsicherheit erkennen – und dennoch Mitgefühl, Sensibilität und Respekt. Vor knapp einem Jahr demonstrierte Ralph Krueger diese Mischung an der Weltmeisterschaft in Sankt Petersburg. Sein Team verlor überraschend gegen Frankreich mit 1:4 Toren. Die Schweizer spielten schwach und passiv und befanden sich, so schien es, auf dem direkten Weg in die Abstiegsrunde. Erstmals in seinen Schweizer Jahren hatte Ralph Krueger einen Rückschlag zu verdauen. «Dieser Moment war aber auch ein Moment der riesigen Möglichkeiten», sagt Ralph Krueger. 48 Stunden nach der Frankreich-Partie hatte die Schweiz gegen das scheinbar übermächtige Russland im letzten Gruppenspiel die kleine Chance, mit einem Sieg dennoch den Einzug in die Finalrunde zu bewerkstelligen.
«Gott sei Dank haben wir diese Chance als Team gesucht», sagt Ralph Krueger rückblickend. «Wir waren als Team reif für diese Situation und konnten aus ihr Kapital schlagen.» Der Eishockeylehrer fand in diesen beiden Tagen die richtigen Worte – und übermittelte sie auf adäquate Weise: in Form einer SMS-Mitteilung auf die Handys seiner Spieler. Da stand dann am Morgen vor dem Russland-Spiel geschrieben: «Glaube an das Unmögliche, und das Unmögliche wird möglich.» Ralph Krueger traf mit der einfachen Botschaft direkt in die Herzen und Köpfe seiner Spieler; diese spielten wie verwandelt und gewannen gegen den einstigen Turnierfavoriten sensationell mit 3:2 Toren. Nach der Partie rieb sich die Fachwelt die Augen, und alle Schweizer Spieler schworen auf die heilsame Wirkung der simp- len SMS-Nachricht ihres Coachs. Was sie nicht wussten: Tatsächlich war ihr Trainer in den zwei Tagen zwischen den Partien keineswegs sicher, dass sich für das Team alles zum Guten wenden würde.
Doch davon spricht Ralph Krueger nicht gern. Und er tut sich auch in der Berner Hotellobby schwer damit. «Zweifel» hatte er durchaus während dieser Tage in Sankt Petersburg. «Aber nennen wir diesen Zustand nicht Zweifel. Ich kenne diese Situationen der Unsicherheit, aber ich bezeichne sie lieber als Lernprozess», sagt Ralph Krueger. «Nach dem Frankreich-Spiel hätte ich auf mein Hotelzimmer gehen und alles in Frage stellen können. Ich schätzte jedoch zusammen mit der Mannschaft unsere Möglichkeiten ab, und wir sahen sehr schnell, dass wir noch nicht am Ende waren. Ich hatte Zweifel, aber ich zeigte sie nicht. Ich bin immer auf den schlechtesten aller Fälle vorbereitet. Aber nur in meinem Kopf. Ich lasse dies die Mannschaft nie spüren. In diesen 48 Stunden nach dem Frankreich-Spiel gab es einige Momente, in denen ich deshalb fürchterliche Schmerzen hatte. Doch ich konnte sie relativ gut verdrängen und im Griff behalten. Dies war die grösste Herausforderung, die ich als Trainer bis dahin erlebt hatte.»
Motto: «Erfolg bringt Freude»
Es gibt ein Vorurteil, das auch gerne an Führungsseminaren erzählt wird: Zur Führungsperson könne man nicht werden, das müsse man sein. Will heissen: Führungseigenschaften lassen sich nicht erlernen. Ralph Krueger ist der lebende Gegenbeweis. Ihm würde das folgende chinesische Sprichwort zusagen: «Wer meint, etwas zu sein, hört auf zu werden.» Denn Ralph Krueger sagt von sich, dass er habe lernen müssen, was Führung bedeute. Das Leben sei sein Lehrer, sagt er.
Der Eishockeytrainer ist Sohn eines deutschen Arztes, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada auswanderte. Vater Krueger fand an der Idee seines jüngsten Sohnes, Eisho- ckeyprofi zu werden und nicht zu studieren, nie Gefallen. Lange Zeit hatte er Mühe mit dem Werdegang seines Sohnes, obwohl er den Sport liebte. Seine Mutter hingegen, eine Schauspielerin, ebenfalls aus Deutschland stammend, unterstützte den Sohn stets. Ralph Krueger sieht sich als exakte Mischung zwischen Vater und Mutter: «Ich mache heute viele Dinge in der Weise, wie sie mein Vater gemacht hat. Er war sehr selbstständig, ich bin es auch. Er war von der Umsetzung her mein Vorbild. Meine Mutter stand für die Emotionen. Sie war eine sehr liebevolle Person. Für das Denken war meine Mutter zuständig, für das Tun mein Vater.»
Als die Mutter nach langer Krankheit 1987 starb, geriet Ralph Krueger in eine Krise. Er hätte weiterspielen und weiterhin hohe sechsstellige Jahresgagen verdienen können, doch er brach seine Karriere ab. «Ich beende- te damals meine Spielerlaufbahn, und ich analysierte mein Leben. Mein Leben als Eisho- ckeyspieler, als Profi. Ich hatte bereits mit 25 Jahren keinen Spass mehr als Spieler gehabt. Die letzten vier Jahre war ich nur noch aktiv gewesen, weil es halt mein Beruf war.» Der Tod der Mutter war für Ralph Krueger eine Zäsur: «Das Kennenlernen des Todes ist ein wichtiger, schmerzhafter Schritt für die Menschen und für ihre Weiterentwicklung. Ich war damals, beim Tod meiner Mutter, bereit zu arbeiten. Das war mein Glück.»
Das Leben lehrt, und zu Kruegers Leben gehört der Sport. Ralph Krueger sagt von sich selbst, dass er sich immer seltener ablenken lasse und die Konzentration immer besser erhalten könne. Er schliesst daraus, dass er immer besser zu führen versteht. «Ich befinde mich wie alle Menschen in einem Lernprozess. Bestätigungen und Erfolge haben mich sicherer gemacht. Unser Motto in der Nationalmannschaft heisst: Erfolg bringt Freude. Bevor du erstmals Erfolg hast, weisst du gar nicht, dass er dir Freude bringt. Aber hat Erfolg dir einmal Freude gebracht, so machst du anschliessend mehr Dinge, die nicht leicht und nicht schön sind, doch du willst den Erfolg. Das ist eigentlich verrückt und das Problem in unserer Welt: Man muss erst Erfolg haben, bevor man es als Angewohnheit annimmt, erfolgreich zu sein oder sein zu wollen.»
Spät ist es geworden. Ralph Krueger muss sich sputen. TV-Kameras warten nebenan. Die Weltmeisterschaft steht vor der Tür. Der Saisonhöhepunkt, auf den er 50 Wochen hingearbeitet hat, für den er seinen Körper stählt, auf Alkohol und Ausgelassenheit verzichtet, sein Leben rigoros einteilt und einem nur ihm bekannten Plan unterwirft. Die Weltmeisterschaft, die er nach zwei Wochen ausgelaugt in Richtung einer einsamen kanadischen Insel verlassen wird. Nur noch einen Satz sagt er, schüttelt dabei den Kopf und macht so gar nicht den Anschein des Mannes aus Teflon, des Meister Proper, als der er häufig geschildert wird: «Es ist verrückt: Erst als ich meine Spielerkarriere abgebrochen hatte und das Materielle für mich keinen hohen Stellenwert mehr einnahm, begann ich wirklich viel Geld zu verdienen.» Chinesische Heilslehren sprechen von der Kraft der Gelassenheit. Ralph Krueger scheint sie gefunden zu haben. Und seine Spieler womöglich auch. Weshalb sollten sie sonst lachen, während sie auf dem kalten Eis an diesem verflucht kalten Februartag in einem leeren Eishockeystadion in Bern einsam ihre Liegestütze stemmen?
Eine ganz normale Trainingseinheit eines ganz normalen Teams unter einem ganz normalen Trainer also? Nicht ganz. Denn hier, an einem hundsgemein eisigen Februartag im Berner Allmendstadion, lachen die Spieler, während sie ihren Körper stemmen und der kalte Wind durch die Halle zieht. Wir sehen einen Trainer, der viel und einzeln mit den Spielern diskutiert und seinen jeweiligen Gesprächspartner am Arm oder an der Schulter anfasst und erst loslässt, wenn er mit ihm fertig ist. Wir bekommen das Gefühl, dass die Spieler mit Konzentration bei der Sache sind – und mit Lust. Sehen wir tatsächlich erstmals glückliche Eishockeyprofis?
Das Handwerk mag das gleiche sein. Doch sonst ist Ralph Krueger beinahe beängstigend anders als seine Kollegen. Er ist Deutsch-Kanadier, war früher selbst ein eher mittelmässiger Eishockeyprofessional. Jetzt ist er 41 Jahre alt, blond, mit einem jugendlichen, meist fröhlichen Gesicht, das Schmerzen nicht zu kennen scheint. Als Trainer wirkte er zunächst in Österreich, wo er die bis dahin unbekannte Klubmannschaft Feldkirch in nur sieben Jahren zur europäischen Spitze coachte. Und kaum war er auf dem Schweizer Eis gelandet, befreite er auch die Eidgenossen umgehend aus der Erfolgslosigkeit, zum Entzücken der hiesigen Medien. Aus egoistischen, verwöhnten und unselbstständigen Kindern der Wohlstandsinsel Schweiz machte er innert Jahresfrist junge, hungrige, teamorientiert handelnde Menschen. Ralph Krueger führte sie und die Schweizer Nationalmannschaft in den letzten drei Jahren zu einem vierten, einem achten und einem sechs- ten Rang an den Weltmeisterschaften und reiht sie damit ein unter die grossen acht Eishockeynationen der Welt (siehe «Berg-und- Tal-Fahrt» auf Seite 33). Am kommenden Championat, das ab dem 27. April in Deutschland stattfindet, soll diese Geschichte ihre Fortsetzung finden. Und an den Olympischen Spielen in Salt Lake City im nächsten Winter ebenfalls.
Neben seinem 80-Prozent-Job als Nationalmannschaftscoach hält «Mister Teflon» Vorträge vor Managern und Kaderleuten. Er hat eine eigene Beratungsagentur gegründet, die einzig ihn selbst vermarktet, und er verdient pro Vortrag nie weniger als 10 000 Franken. Ralph Krueger ist ausgebucht bis in alle Ewigkeit, das heisst bis zum übernächsten Jahr. Der Mann ist unheimlich. Unheimlich erfolgreich. Scheinbar perfekt. Eine Art Messias des Eishockeys. Nach einem Sieg des Schweizer Teams schrieb der «Blick» mit einem Ausflug ins Biblische über ihn: «Das wahrscheinlich erstaunlichste Comeback, seit Lazarus von den Toten auferstanden ist.»
Das Dort und das Hier
Ralph Krueger eilt raschen Schrittes durch die Lobby des Berner Hotels, in dem die Nationalmannschaft untergebracht ist. Er ist ein wenig zu spät. «Sorry, guys», sagt er, setzt sich und ist auch schon angekommen. Zwischen dort und hier gibt es für ihn kein Unterwegs. Kein einführender Smalltalk. Los gehts. Den Besuchern soll er seine Philosophie erklären – und hat es doch mit dem direkten Einstieg ins Gespräch eigentlich schon getan. Ralph Krueger lebt in verschiedenen Welten, die er genau studiert hat, zu benennen weiss und die er streng voneinander getrennt hält. Mal ist er ganz Privatmann mit seiner Frau und den zwei Kindern am Wohnort Davos, mal ganz Vortragender für die eigene Firma im zugerischen Steinhausen, mal ganz Eishockeycoach, mal ganz Jogger. Das eine wird nicht mit dem anderen vermischt. Darauf baut er sein Handeln auf, und deshalb kann er rasant von der einen in die andere Welt wechseln.
Er denkt und lässt denken, er agiert im Moment und verlangt dies auch von seinen Spielern. «Wenn wir in der dreissigsten Minute eines Spiels, das sechzig Minuten dauert, bereits vom Sieg träumen, so geraten wir in ernsthafte Gefahr», sagt er. Und verdeutlicht dies anhand der Testpartie vom Vorabend gegen die Slowakei. Beinahe hätten seine Schützlinge einen Vorsprung aus der Hand gegeben, weil sie zu früh an die nächsten Minuten gedacht hätten. Ralph Krueger sagt einen der typischen Krueger-Sätze: «Menschen, die langfristig erfolgreich sind, können konsequent und schnell Entscheidungen treffen. Sie kennen die Zeitachse, und sie bewegen sich dennoch und gleichzeitig mit all ihrer Kraft im Moment.»
Die meisten Kaderpersonen kennen derlei verbale Freiübungen. Zeitdenken und Momentgefühl – ein bisschen Buddhismus und ein Schuss indianische Weisheit, Instant-Esoterik eben, ohne die kaum eine Tagung und kein Leadership-Kongress auskommt. «Als Coach muss ich für die Spieler klar verständliche Bilder malen und diese in ihre Köpfe und Herzen pflanzen», sagt Ralph Krueger. «Sind diese Bilder aber einmal gepflanzt, dürfen wir sie nicht mehr anschauen. Das ist das Verrückte. Man muss Träume, Visionen, Ziele haben. Stehen sie einmal fest, darf man während der Ausführung nie an sie denken. Sie müssen im Hintergrund warten. Drängen sie nach vorne in unser Bewusstsein, kommen Ängste auf, und die Gefahr wächst, dass wir scheitern.» Der Eishockeylehrer transferiert diesen Gedanken mühelos ins Geschäftsleben: «Man muss die Fähigkeit haben zu analysieren. Diese Fähigkeit haben nur wir – und die anderen Naturwesen nicht. Wir setzen sie nicht immer ein. Man muss sich also zuerst Zeit nehmen, überlegen und herausfinden, was von einem eingeschlagenen Weg ablenken könnte. Ich frage mich also: Welche Einflüsse auf meine Firma oder auf mein Team bringen uns nicht weiter? Und die eliminiere ich.»
Motivationsschub über SMS
Ralph Krueger sitzt entspannt im Sessel und erzählt. Er hört geduldig zu und antwortet stets erst nach einer Weile des Überlegens. Neben ihm steht der Pressechef des Schweizerischen Eishockeyverbandes und drängt zum Aufbruch. TV-Kameras, Interviews vor der Weltmeisterschaft warten. Krueger hier, Krueger da. Doch lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen, und schon gar nicht ist ihm ein Wort der Klage über den Zeitdruck zu entlocken. Manche Begriffe möchte er aus seinem Wortschatz streichen, fast als ob sie schmutzig wären. Für ihn sind sie das wohl auch: «Angst, Enttäuschung, Frust, Schwierigkeiten – diese Wörter kenne ich gar nicht», meint er mehrere Male. Und sagt dann doch den mit einem Pfui-Wort belasteten Satz: «Sport lebt von Fehlern.» Aber dann auch: «Am Anfang meiner Trainerlaufbahn habe ich das Verlieren gehasst. Gehasst. Heute liebe ich das Siegen. Das ist eine grosse Veränderung.»
Die Spieler verlangen nach einem selbstsicheren, dominanten Boss, der ihnen den Weg zum Erfolg auch im Dunkeln weist. Wenn er den Weg nicht kennt, wie sollte dann der Puck den Weg ins Tor finden? Wie der übermächtige Gegner besiegt, die Konkurrenz geschlagen, der Umsatz erhöht oder die Angestellten glücklicher und besser werden? «Wenn Unangenehmes passiert, darf ich dies nicht mit einer negativen Handlung beantworten. Ich muss stark bleiben. Ich muss versuchen, einen Spieler oder einen Angestellten aufzubauen. Es wäre ein reiner Egotrip, würde ich einen Spieler öffentlich kritisieren, nachdem er einen Fehler begangen hat», sagt Ralph Krueger, der Kritik an Einzelspielern nur unter vier Augen übt. Über diese Gespräche dringt kein Wort an die Öffentlichkeit. So hat er innerhalb kurzer Zeit Vertrauen geschaffen und ein Team, das sich nicht als Gruppe von hoch bezahlten Söldnern versteht, sondern als Schicksalsgemeinschaft.
Spieler und Angestellte wollen bei ihren Trainern und Vorgesetzten aussergewöhnliche Konzentration und Selbstsicherheit erkennen – und dennoch Mitgefühl, Sensibilität und Respekt. Vor knapp einem Jahr demonstrierte Ralph Krueger diese Mischung an der Weltmeisterschaft in Sankt Petersburg. Sein Team verlor überraschend gegen Frankreich mit 1:4 Toren. Die Schweizer spielten schwach und passiv und befanden sich, so schien es, auf dem direkten Weg in die Abstiegsrunde. Erstmals in seinen Schweizer Jahren hatte Ralph Krueger einen Rückschlag zu verdauen. «Dieser Moment war aber auch ein Moment der riesigen Möglichkeiten», sagt Ralph Krueger. 48 Stunden nach der Frankreich-Partie hatte die Schweiz gegen das scheinbar übermächtige Russland im letzten Gruppenspiel die kleine Chance, mit einem Sieg dennoch den Einzug in die Finalrunde zu bewerkstelligen.
«Gott sei Dank haben wir diese Chance als Team gesucht», sagt Ralph Krueger rückblickend. «Wir waren als Team reif für diese Situation und konnten aus ihr Kapital schlagen.» Der Eishockeylehrer fand in diesen beiden Tagen die richtigen Worte – und übermittelte sie auf adäquate Weise: in Form einer SMS-Mitteilung auf die Handys seiner Spieler. Da stand dann am Morgen vor dem Russland-Spiel geschrieben: «Glaube an das Unmögliche, und das Unmögliche wird möglich.» Ralph Krueger traf mit der einfachen Botschaft direkt in die Herzen und Köpfe seiner Spieler; diese spielten wie verwandelt und gewannen gegen den einstigen Turnierfavoriten sensationell mit 3:2 Toren. Nach der Partie rieb sich die Fachwelt die Augen, und alle Schweizer Spieler schworen auf die heilsame Wirkung der simp- len SMS-Nachricht ihres Coachs. Was sie nicht wussten: Tatsächlich war ihr Trainer in den zwei Tagen zwischen den Partien keineswegs sicher, dass sich für das Team alles zum Guten wenden würde.
Doch davon spricht Ralph Krueger nicht gern. Und er tut sich auch in der Berner Hotellobby schwer damit. «Zweifel» hatte er durchaus während dieser Tage in Sankt Petersburg. «Aber nennen wir diesen Zustand nicht Zweifel. Ich kenne diese Situationen der Unsicherheit, aber ich bezeichne sie lieber als Lernprozess», sagt Ralph Krueger. «Nach dem Frankreich-Spiel hätte ich auf mein Hotelzimmer gehen und alles in Frage stellen können. Ich schätzte jedoch zusammen mit der Mannschaft unsere Möglichkeiten ab, und wir sahen sehr schnell, dass wir noch nicht am Ende waren. Ich hatte Zweifel, aber ich zeigte sie nicht. Ich bin immer auf den schlechtesten aller Fälle vorbereitet. Aber nur in meinem Kopf. Ich lasse dies die Mannschaft nie spüren. In diesen 48 Stunden nach dem Frankreich-Spiel gab es einige Momente, in denen ich deshalb fürchterliche Schmerzen hatte. Doch ich konnte sie relativ gut verdrängen und im Griff behalten. Dies war die grösste Herausforderung, die ich als Trainer bis dahin erlebt hatte.»
Motto: «Erfolg bringt Freude»
Es gibt ein Vorurteil, das auch gerne an Führungsseminaren erzählt wird: Zur Führungsperson könne man nicht werden, das müsse man sein. Will heissen: Führungseigenschaften lassen sich nicht erlernen. Ralph Krueger ist der lebende Gegenbeweis. Ihm würde das folgende chinesische Sprichwort zusagen: «Wer meint, etwas zu sein, hört auf zu werden.» Denn Ralph Krueger sagt von sich, dass er habe lernen müssen, was Führung bedeute. Das Leben sei sein Lehrer, sagt er.
Der Eishockeytrainer ist Sohn eines deutschen Arztes, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada auswanderte. Vater Krueger fand an der Idee seines jüngsten Sohnes, Eisho- ckeyprofi zu werden und nicht zu studieren, nie Gefallen. Lange Zeit hatte er Mühe mit dem Werdegang seines Sohnes, obwohl er den Sport liebte. Seine Mutter hingegen, eine Schauspielerin, ebenfalls aus Deutschland stammend, unterstützte den Sohn stets. Ralph Krueger sieht sich als exakte Mischung zwischen Vater und Mutter: «Ich mache heute viele Dinge in der Weise, wie sie mein Vater gemacht hat. Er war sehr selbstständig, ich bin es auch. Er war von der Umsetzung her mein Vorbild. Meine Mutter stand für die Emotionen. Sie war eine sehr liebevolle Person. Für das Denken war meine Mutter zuständig, für das Tun mein Vater.»
Als die Mutter nach langer Krankheit 1987 starb, geriet Ralph Krueger in eine Krise. Er hätte weiterspielen und weiterhin hohe sechsstellige Jahresgagen verdienen können, doch er brach seine Karriere ab. «Ich beende- te damals meine Spielerlaufbahn, und ich analysierte mein Leben. Mein Leben als Eisho- ckeyspieler, als Profi. Ich hatte bereits mit 25 Jahren keinen Spass mehr als Spieler gehabt. Die letzten vier Jahre war ich nur noch aktiv gewesen, weil es halt mein Beruf war.» Der Tod der Mutter war für Ralph Krueger eine Zäsur: «Das Kennenlernen des Todes ist ein wichtiger, schmerzhafter Schritt für die Menschen und für ihre Weiterentwicklung. Ich war damals, beim Tod meiner Mutter, bereit zu arbeiten. Das war mein Glück.»
Das Leben lehrt, und zu Kruegers Leben gehört der Sport. Ralph Krueger sagt von sich selbst, dass er sich immer seltener ablenken lasse und die Konzentration immer besser erhalten könne. Er schliesst daraus, dass er immer besser zu führen versteht. «Ich befinde mich wie alle Menschen in einem Lernprozess. Bestätigungen und Erfolge haben mich sicherer gemacht. Unser Motto in der Nationalmannschaft heisst: Erfolg bringt Freude. Bevor du erstmals Erfolg hast, weisst du gar nicht, dass er dir Freude bringt. Aber hat Erfolg dir einmal Freude gebracht, so machst du anschliessend mehr Dinge, die nicht leicht und nicht schön sind, doch du willst den Erfolg. Das ist eigentlich verrückt und das Problem in unserer Welt: Man muss erst Erfolg haben, bevor man es als Angewohnheit annimmt, erfolgreich zu sein oder sein zu wollen.»
Spät ist es geworden. Ralph Krueger muss sich sputen. TV-Kameras warten nebenan. Die Weltmeisterschaft steht vor der Tür. Der Saisonhöhepunkt, auf den er 50 Wochen hingearbeitet hat, für den er seinen Körper stählt, auf Alkohol und Ausgelassenheit verzichtet, sein Leben rigoros einteilt und einem nur ihm bekannten Plan unterwirft. Die Weltmeisterschaft, die er nach zwei Wochen ausgelaugt in Richtung einer einsamen kanadischen Insel verlassen wird. Nur noch einen Satz sagt er, schüttelt dabei den Kopf und macht so gar nicht den Anschein des Mannes aus Teflon, des Meister Proper, als der er häufig geschildert wird: «Es ist verrückt: Erst als ich meine Spielerkarriere abgebrochen hatte und das Materielle für mich keinen hohen Stellenwert mehr einnahm, begann ich wirklich viel Geld zu verdienen.» Chinesische Heilslehren sprechen von der Kraft der Gelassenheit. Ralph Krueger scheint sie gefunden zu haben. Und seine Spieler womöglich auch. Weshalb sollten sie sonst lachen, während sie auf dem kalten Eis an diesem verflucht kalten Februartag in einem leeren Eishockeystadion in Bern einsam ihre Liegestütze stemmen?
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