Die Aktien seiner UBS stiegen in der letzten Zeit markant, seine eigenen Aktien steigen schon seit längerem: UBS-Chef Marcel Ospel, der sich jüngst mit der Crème der Schweizer Wirtschaft am Zürcher Sechseläuten amüsierte, ist der mächtigste Wirtschaftsführer der Schweiz. Zu diesem Schluss jedenfalls kommt das Macht-Rating der BILANZ, das seit Jahren mit einer renommierten Jury ermittelt wird.
Tatsächlich hat Marcel Ospel ein Traumjahr hinter sich. Da war die Hochzeit mit der Unternehmerin Adriana Bodmer, da war der Supergewinn seiner Bank von mehr als zwölf Milliarden Franken, und jetzt erscheint wie zum Beweis seiner Relevanz die erste Ospel-Biografie (siehe Vorabdruck in dieser Augabe). Nachgezeichnet wird der Weg eines Mannes, der als Lehrling mit dem bescheidenen Monatslohn von 110 Franken startete, heute mehr als 26 Millionen Franken verdient und jetzt eben zum einflussreichsten Wirtschaftskapitän der Schweiz erkoren wurde. Ein Mann im Zenit seiner Macht.
Doch was heisst Macht genau?
«Kraft, Gewalt, Stärke», schlägt der Neue Brockhaus als Umschreibung vor und präzisiert: Macht sei «die Möglichkeit, den eigenen Willen gegenüber dem Willen anderer durchzusetzen».
Ein bisschen gestelzter, aber nicht minder treffend sieht es Wikipedia, die freie Online-Enzyklopädie im Internet: «Macht ist die Fähigkeit von Individuen und Gruppen, das Verhalten und Denken von anderen Individuen oder Gruppen in ihrem Sinne zu bestimmen», heisst es da. Es handle sich um einen «grundlegenden sozialen Aspekt», der in praktisch allen Formen des menschlichen Zusammenlebens eine Rolle spiele.
Eine besondere Rolle spielt er in der Politik, und da ist Ueli Maurer einmal mehr der wichtigste Spielmacher im Land. Er wurde – wie schon in den Jahren 2004 und 2005 – zum mächtigsten Politiker gekürt. Letztes Jahr hatte ihn die CVP-Politikerin Doris Leuthard entthront und auf Rang zwei zurückgedrängt, jetzt aber sitzt die Power-Politikerin im Bundesrat, und Bundesräte haben es, was das Ausüben von Macht anbelangt, per se ein bisschen schwerer: Sie sind in das Kollegialitätsprinzip eingebunden und haben grundsätzlich auszuführen, was ihnen das Parlament befiehlt. Das zeigt sich auch bei Christoph Blocher, der es im Ranking immerhin noch auf Platz 4 geschafft hat, während Doris Leuthard sogar auf Rang 7 zurückgefallen ist.
Doch hat ein Schweizer Politiker wirklich Macht?
Wer sich mit dem Thema beschäftigt, kommt nicht um einen kleinen Soziologie-Exkurs herum, schon gar nicht um Max Weber, den Vater aller Soziologen. Seine Definition ist zum Klassiker geworden: «Macht bedeutet jede Chance», sagte Weber, «innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.» Dabei sei es egal, «worauf diese Chance beruht». Hilfreich als Erklärung ist auch ein anderer Satz von Max Weber: «Herrschaft soll die Chance heissen, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehör zu finden.»
Jemanden gegen seinen Willen zu einer Handlung zu zwingen, dürfte für Politiker in unserer basisdemokratischen Gesellschaft nicht ganz einfach sein. Dennoch: Die webersche Definition der Macht ist ziemlich unumstritten und diente beim BILANZ-Rating als Grundlage für die Kriterien, nach denen beurteilt wurde (siehe «So wurde gewertet» im Nebenartikel).
Ueli Maurer kann die Meriten für sich reklamieren, es mit seiner Partei tatsächlich immer wieder zu schaffen, Themen auf die politische Agenda zu setzen, über die andere Parteien mitunter eher ungern reden. Und das ist zweifellos Macht. Kommt dazu, dass Ueli Maurer tatsächlich viel Politerfahrung hat, ihm machen nur wenige Politiker etwas vor. Dennoch war sein 1. Rang innerhalb der diesjährigen Jury nicht ganz unbestritten. Einzelne Juroren monierten, Maurer habe ein schwieriges Jahr hinter sich und seine Anliegen nicht mehr so einfach wie auch schon durchgebracht.
Zu reden gab auch der hohe Rang von Peter Siegenthaler. Der Spitzenbeamte erhielt die Note 7,83 – ein Traumergebnis. Noch vor wenigen Jahren kannte man den Mann mit Brille und blonden Haaren kaum. Seit dem Grounding der Swissair aber wird er immer präsenter. Als Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung sitzt er an einem der wichtigsten Hebel der Macht, ist äusserst sachkompetent und profitiert, so glaubt jedenfalls die Politik-Fachjury, direkt von der Verfassung des Bundesrates. Eine einfache Faustregel nämlich lautet: Wenn der Bundesrat eher schwach ist, so steigt der Einfluss der Beamten.
Das kann Risiken bergen, denn Macht hat mitunter eine negative Konnotation. Der Philosoph Theodor W. Adorno, so etwas wie der Hohepriester der 68er-Generation, hob jedenfalls warnend seine Stimme: «Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen», dozierte er.
Die 68er-Generation ist heute weitgehend verstummt, doch gerade die Wirtschaftsführer sind massiv von Machtkritik betroffen: Wo früher vor allem mehr oder weniger gesichtslose Multis in der Kritik standen (etwa bei der Kampagne «Nestlé tötet Babys»), wird heute klar auf den Mann gespielt. Marcel Ospel zum Beispiel stand beim Swissair-Grounding als Buhmann da – sein Lohn und der vieler seiner Kollegen bleiben ein Dauerbrenner und Grund für heftigste Attacken. Dies wiederum bestätigt eine andere Regel: Wer viel kritisiert wird, ist vielleicht nicht besonders beliebt – machtlos aber muss er deswegen noch lange nicht sein.
Mitarbeit: Stefan Barmettler, Jörg Becher, Dominik Flammer