Die vornehmste Aufgabe der Geschichte ist die Gegenwart», stellte schon Hermann Heimpel fest, kein Marketingplaner, sondern ein Mediävist, also ein Spezialist für das Mittelalter. Heimpel war einer der letzten deutschen Grossordinarien und im Jahr 1959 ein valabler Kandidat als Nachfolger des ersten deutschen Nachkriegsbundespräsidenten Theodor Heuss.

Was Heimpel vor 65 Jahren in Strassburg formulierte, treibt heute eine ganze Branche ins Archiv. Nach zwanzig Jahren industriearchäologischer Feldarbeit nimmt der Historismus in der Uhrmacherei Epochencharakter an. Wo ein Henry Ford – jahrzehntelang das Vorbild eines jeden Managers – noch kurz und bündig urteilte: «History is bunk», greifen die Manager von heute tief in die Zahlenkiste und erzählen muntere Geschichten aus der fernen Vergangenheit.

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Es fing mit dem Ehrgeiz an, die älteste Marke zu sein. Den findigen Jean-Claude Biver motivierte dieser Ehrgeiz, für seine wieder belebte Blancpain eine episch lange Geschichte im Stil einer frühmittelalterlichen Stifterlegende zu konstruieren. So meinte er, Vacheron Constantin zu übertrumpfen, was die sich aber nicht wehrlos gefallen liessen.

Jean-Claude Biver war mit seiner 1983 lancierten Blancpain klar der Erste, der den Wert der Geschichte für eine Uhrenmarke nutzbar machte. «Seit 1735 hat es bei Blancpain keine Quarzuhr gegeben, und es wird auch nie eine geben.» Das war ein Satz, der einer quarz- und popdesignmüden Generation aus dem Herzen sprach. Endlich eine Uhr, mit der man sich nicht schämte. Klassisch rund, dezent und mit dem Straussenlederband sportiv-chic.

Blancpain war in den konkurrenzarmen Achtzigern ein unschlagbarer Name. Auch weil das Haus mit dem Rohwerkhersteller Frédéric Piguet als Geschäftspartner auf den Erfolg vorbereitet war. Plötzlich lief Piguets jahrelang schlecht ausgelasteter Maschinenpark für die Teilefertigung mechanischer Werke wieder auf Hochtouren.

Gute Ideen finden schnell Nachahmer. So entdeckte eine mythensüchtige Welt bereits 1987, vier Jahre nach dem verheissungsvollen Blancpain-Start, plötzlich den legendären Namen Breguet wieder. Dass die Familie Breguet ihren Uhrmacherbetrieb bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert an Edward Brown, den langjährigen Werkstattmeister, verkauft hatte, störte niemanden. Die Breguets sahen ihre Zukunft in der Flugzeugindustrie (letzte Konstruktion war der Tiefflieger «Jaguar») und fusionierten ihr Unternehmen nach dem Tod Louis Breguets 1971 mit Dassault.

Die Uhrenfertigung, darunter 1954 noch ein Fliegerchronograph, dümpelte so vor sich hin, um schliesslich still ins Jenseits hinüberzudämmern. Ganz im Sinne der Worte General MacArthurs: «Old soldiers never die, they just fade away.» Im Jahr 1970 erwarb Chaumet von der Familie Brown die Namensrechte.

Dafür verlief die Wiedergeburt umso spektakulärer. Habsburg Feldmann, unterstützt von Osvaldo Patrizzi (heute Chef des Genfer Auktionshauses Antiquorum), veranstaltete eine grosse Breguet-Auktion und tourte dafür vorgängig mit den Exponaten durch die Welt, um die Kaufreflexe zu kitzeln. Derweil hielten die Investcorp-Manager als neue Inhaber der Namensrechte in der Vallée de Joux nach historisch viel versprechenden Liegenschaften Ausschau. Dass Abraham-Louis Breguet seine Uhren in Paris am Quai de l’Horloge gefertigt hatte – das Haus (Nummer 39) steht noch –, zwang zu einer grosszügigen Interpretation der eigenen Vergangenheit. Aber wie heisst es so schön in Frankreich: Une fois n’est pas coutume.

Dafür lehnte sich Breguet mit seiner Armbanduhrenkollektion stilistisch an den Klassizismus an, die grosse Epoche der (sehr schlichten) Breguet-Taschenuhren: Kannellierte Gehäuseflanken, guillochierte Zifferblätter und notabene die Breguet- Zeiger mit dem Kreis im vorderen Drittel evozierten am Handgelenk erfolgreich das 19. Jahrhundert. Insofern gelang Breguet mit dem Wiederaufleben der Marke und einer antikisierenden Kollektion gleich der doppelte Retrobezug.

Genauer gesehen, schaffte Breguet sogar den dreifachen Retrobezug: Die Marke sonnt sich wie keine andere im Glanz vieler verstorbener Testimonials. Napoleonische Marschälle, der Kaiser selber und andere Grössen des Empire, Dichter wie Alexandre Dumas und Alexander Puschkin, Pianisten wie Arthur Rubinstein oder Staatsmänner wie Winston Churchill finden zu einer neuen Unsterblichkeit als Werbeträger für Breguet.

Die dritte grosse Renaissance in der Uhrenindustrie kam nach der deutschen Wiedervereinigung. Die berühmte Uhrenmanufaktur Lange & Söhne war zu Zeiten der DDR in einem volkseigenen Grossbetrieb aufgegangen, im Westen lebte allerdings noch Walter Lange (und lebt munter weiter), selber gelernter Uhrmacher und in bescheidener Hartnäckigkeit lediglich ein Lebensziel verfolgend: Lange & Söhne wieder einmal auferstehen zu sehen. Mit ihm verbündete sich Günter Blümlein, der erfolgreiche Sanierer der IWC Schaffhausen und von Jaeger-LeCoultre.

Anders als Breguet (die aber an diese Endphase bewusst nicht anknüpfen wollte) hatte Lange & Söhne nie Armbanduhren produziert. Statt einer klassischen Renaissance ging es also um eine Neuschöpfung oder Armbanduhreninterpretation einer klassischen Lange & Söhne. Und das alles am alten Standort in Glashütte, wo sich seither noch ein paar Marken unter Evozierung einer grossen Tradition etabliert haben. Darunter die heute zum Swatch-Konzern gehörende Glashütte Original.

Diese wiederholte Auferstehung unter eifriger Betonung eines im Urschleim wurzelnden Stammbaums animierte den spottfreudigen Alain Dominique Perrin einmal zu dem Kommentar: «Diese Marken mögen ja alle 250 Jahre und älter sein, aber dazwischen sind sie dreimal gestorben.»

Cartier demonstrierte unter Alain Dominique Perrins Ägide vielmehr, was sich aus alten Modellen mit grossen Namen herausholen lässt. Santos, Panthère, Tonneau und Tank, allesamt Schöpfungen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, wurden in allen Grössen und Varianten kunstvoll durchdekliniert. Und in einer Vielzahl von Uhrenmodellen. Allein die Tank gibt es zum Beispiel wenigstens in den Ausführungen Louis Cartier, Tank Cintré, Tank Américaine, Tank Française oder Mini Tank.

Cartier liess seine grosse Vergangenheit nicht ohne Grund in mehreren dickleibigen Bänden niederschreiben. Was heute neu lanciert wird, ist bei aller Formenvielfalt mehr denn je auf den ersten Blick als Cartier erkennbar. Cartier-Chef Bernard Fornas spricht da gerne von «DNA, dem genetischen Code».

Ihn entschlüsselt zu haben, ist das Verdienst der hauseigenen Kuratoren und
Archivare. Bezeichnenderweise tauchte Giampiero Bodino, als neu bestallter Kreativdirektor der Richemont-Gruppe auch für Cartier zuständig, erst einmal gründlich ins Archiv ein, bevor er sich an die gestalterische Arbeit machte.

Der Blick zurück in die eigene Vergangenheit war durchaus auch für Jaeger-
LeCoultre ein Segen. Was mit der Reverso noch halbwegs zufällig anfing, nahm in der Ära Belmont/Blümlein bald systematische Formen an. Dass John-Henri Belmont selber aus einer eingefleischten Uhrmacherfamilie stammt – seinem Vater gehörte die in Besançon beheimatete Yema –, erleichterte die Wertschätzung historischer Leistungen zweifellos.

Dass das Haus aber auch solche einmaligen Leistungen wieder aufleben liess wie das kleinste mechanische Werk, das im Jahr 1929 vorgestellte Kaliber 101 mit den Werkmassen 14˘4,85˘3,4 Millimeter, ergab sich aus dem pfleglichen Umgang mit der reichen Substanz. Niemand hatte in Le Sentier die alten Formwerkzeuge weggeworfen, ohne die eine Wiederaufnahme der Produktion unmöglich gewesen wäre. Anders als beispielsweise in Schaffhausen oder bei Omega in Biel, wo man zeitweise gar nichts mehr wissen wollte von der Vergangenheit und die Werkzeuge radikal entsorgte.

Das war zwar unwiderruflich, aber auch etwas voreilig, wie sich zeigte. Heute knüpfen beide Häuser auch uhrmacherisch möglichst an ihrer Tradition an. Omega begnügt sich allerdings keineswegs bloss mit einer Neuauflage der legendären Speedmaster, Seamaster, Railmaster, De Ville oder Constellation im Geiste der fünfziger und sechziger Jahre. Der Milliardenmarke aus dem Seeland gelang mit der Serienfertigung der vom englischen Uhrenspezialisten George Daniels entwickelten Koaxial-Hemmung auch ein Schritt in die mechanische Zukunft.

Unverzichtbar im grossen Marketing-Pantheon ist auch die trapezförmig kühne «1972» von Vacheron Constantin, die uhrmacherische Antwort auf den Ami Six von Citroën mit der parallel zur Windschutzscheibe verlaufenden Heckscheibe und den formfreudigen Zeitgeist der Pompidou-Jahre. Heutzutage wird die «1972» stärker nachgefragt als bei der Lancierung – ein Schicksal, das sie mit den meisten Remakes teilt – und ist das populärste Modell der Genfer Manufaktur.

Eine Renaissance eigener Art erlebten die Chronographen-Fabrikanten. Deren Zeitmesser waren fast 15 Jahre gar nicht gefragt, zeitweise stellte selbst Omega die Produktion der Speedmaster ein (und nahm sie erst auf starkes Drängen der italienischen Kundschaft wieder auf). Seit über 20 Jahren floriert das Geschäft mit den Zeitnehmern am Handgelenk allerdings wieder, auch wenn die meisten Abnehmer mit ihren Chronographen höchstens die Siedezeit für das Frühstücksei stoppen.

Breitling, ähnlich wie die hierzulande weitgehend vergessene Eberhard & Co. (mittlerweile in italienischer Hand) und TAG Heuer auf Chronographen spezialisiert, schaut sich immer intensiver im eigenen Archiv um und ist dabei wieder auf das Kaliber 11 gestossen, ein Chronographenwerk mit automatischem Aufzug – also nicht das vielerorts anzutreffende Valjoux-Kaliber –, einer exzentrisch gelagerten Schwungmasse und der Krone bei der Neun (statt bei der Drei).

Die Drücker für die Zeitmessung der «Chronomatic Born in 69» sitzen jedoch an den gewohnten Positionen bei der Zwei und der Vier. Die Werbung nimmt mit einem Sunbeam-Roadster – oder ist es ein Matra? – und einem Alouette-Helikopter die späten sechziger Jahre auf. Womit sich auch zeigt, wie sich der Neohistorismus immer noch eine kleine Stilepoche weiter der Gegenwart nähert, ohne dass einstweilen eine Auflösung in einem Jugendstil absehbar wäre.

Zu den Wunderlichkeiten des uhrmacherischen Neohistorismus zählt die freie Auswahl im Selbstbedienungsladen der Geschichte. Jeder schwelgt nach seinem Gusto in seiner bevorzugten Epoche. Longines setzt parallel auf Charles Lindbergh und Audrey Hepburn. Bei TAG Heuer erlebt Steve McQueen seine Wiederauferstehung. Panerai, einst in Kleinstserie in einer Florentiner Werkstatt gefertigt, baut auf den Kriegsjahren auf. Die italienischen Minentaucher mit der Panerai gehörten genauso wenig zu den Siegern wie die Kriegskunden der grossen Fliegeruhr aus Schaffhausen. Omega wiederum macht kein Aufhebens darum, von 1939 bis 1945 ungefähr 110 000 Armbanduhren des Kalibers T1 an die Royal Air Force und die britische Armee geliefert zu haben. Und mit den Astronauten der amerikanischen Weltraumbehörde als Kundschaft hat man natürlich ganz andere Testimonials.

Die Anbetung der eigenen Vergangenheit findet ihren Niederschlag in den Firmenmuseen, die aus dem Boden schiessen wie die Marienkulte im ausgehenden 15. Jahrhundert. Auch darin drückt sich ein rückwärts gewandter Zeitgeist aus. Europa betreibt heutzutage eine weit verzweigte Erinnerungsindustrie. Zu Ende gedacht, sind die Uhren dann nur noch Reiseandenken aus den Disneylands für die gehobenen Schichten.

Aber nicht alle führen ein Museum.

Rolex baut seine Klassiker einfach kontinuierlich weiter. Wozu noch ein Museum, wenn die Oyster längst ein Mythos ist?

Im Umgang mit der Vergangenheit ist man nie sicher vor Überraschungen. Die Seidenweber in Como zahlen heute für die Archive der fallierten Schweizer Kollegen und andernorts ohne weiteres Millionenbeträge. Aber nicht für die antike Buchhaltung, sondern für die alten Musterbücher. Diese Kollektionen vergangener Kreativität sind ein gesuchter Wert. Was dereinst einmal die Buchhalter inspirieren könnte, abgeschriebene Museen und Archive wieder zu aktivieren. Falls die Zeiten nicht mehr so sind wie heute …