Eigentlich wollte der Schweizer Geschäftsmann César de Trey nur Zahnprothesen verkaufen. An einem schönen Tag im Jahr 1930 stieg er in ein Schiff nach Indien, wo er vielversprechende Geschäfte vermutete. Am 4. März 1931 wurde in Paris beim Ministerium für Handel und Industrie ein legendäres Patent eingereicht. Nicht für Zahnprothesen allerdings, sondern für eine Uhr, «die sich in einer Schienenführung der Bodenplatte hin und her führen lässt und um die eigenen Achse gewendet werden kann». 17 Zeichnungen illustrierten den Mechanismus des guten Stücks, das später Reverso heissen sollte. Geistiger Vater und Inhaber der Rechte an der neuen Uhr, man ahnt es, war der Zahnprothesenfabrikant César de Trey.
Heute feiert die Reverso ihren 80. Geburtstag und gehört zu den wichtigsten Klassikern der Uhrengeschichte. Natürlich gab es unter den britischen Offizieren gute Kunden für Zahnprothesen von César de Trey. Die sportbegeisterten Engländer im unter britischer Kolonialverwaltung stehenden Indien plagten hingegen dentale Sorgen weit weniger als etwas ganz anderes: Sie spielten leidenschaftlich gerne Polo. Doch beim Polospielen gingen ihnen laufend ihre Uhrengläser in die Brüche. Ob er als Schweizer nicht eine Lösung wisse, wurde de Trey immer wieder gefragt.
Gesucht: eine technische Raffinesse. Am einfachsten wäre es gewesen, man hätte die Uhrengläser einfach mit einem Deckel geschützt. Uhren mit Deckel oder Gitter trugen Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges, solche Lösungen lagen also auf der Hand. Doch César de Trey schwebte etwas Eleganteres und technisch Raffinierteres vor: Er wollte eine Uhr, deren Gehäuse man wenden konnte. Schliesslich sollten die Uhren auch von galanten Herren getragen werden, die sich damit in gehobenen Gesellschaftskreisen bewegen wollten. César de Trey dachte von Beginn weg an eine rechteckige Form. Rechteckige Uhren waren damals sehr angesagt, und diese Form sollte das Vorhaben technisch eher ermöglichen als eine runde.
In der Schweiz pilgerte César de Trey zu Jacques-David LeCoultre, dem Chef der gleichnamigen Uhrenmanufaktur. Dieser war von der Idee höchst angetan und begann, nach einer technischen Lösung zu suchen. Er fand sie jedoch nicht im abgeschiedenen Vallée de Joux, sondern bei der Uhrenmanufaktur Jaeger in der Weltstadt Paris. Jacques-David LeCoultre reiste 1930 nach Vallorbe und bestieg dort den Zug nach Paris, um Edmond Jaeger zu treffen, einen technisch versierten Doyen der Branche. Der 80-Jährige zog umgehend den talentierten Ingenieur René-Alfred Chauvot bei, der, mindestens was die Technik anbelangt, als Erfinder der Reverso gelten darf. Das war eine entscheidende Etappe in der Firmengeschichte der beiden Manufakturen, Jaeger und LeCoultre, die 1937 definitiv fusionierten.
Am 3. August 1931 stellte Paris für die Reverso das Patent mit der Nummer 712.868 aus. Die Uhr enthalte an ihrem oberen und unteren Rand zwei Stifte, die sich in den Führungsrillen verschieben lassen, hiess es in der technischen Beschreibung. Bei Jaeger-LeCoultre wird das Gespräch zwischen Ingenieur Chauvot und dem zuständigen Patentbeamten wie folgt kolportiert:
«Wie lautet der Name Ihrer Erfindung?»
«Reverso.»
«Und das bedeutet?»
«Lateinisch für: Ich drehe mich um.»
«Ist notiert. Ihr Patent ist registriert.»
Schon am 25. Juli kaufte César de Trey die Rechte an René-Alfred Chauvots Erfindung und wurde so Besitzer einer Pionierarbeit des Industriedesigns. 50 Teile sind nötig, um das aufwendige Gehäuse zu bauen. Deswegen gibt es noch heute kaum Fälschungen der Reverso. Noch im November 1931 gründete César de Trey mit Jacques-David LeCoultre die Firma Spécialités Horlogères, um die Uhr zu kommerzialisieren.
Die ersten Reverso-Uhren wurden laut Firmenchronik umgehend nach Indien gesandt, um von den Polospielern getestet zu werden. Zu den ersten Kunden gehörte auch der Maharadscha von Kapurthala, der gleich fünfzig Exemplare bestellte. Alle mit seinem symbolträchtigen Abbild in gelbem Gewand – als Halbgott im Strahlenmeer thronend.
Die ursprünglich als Sportuhr konzipierte Reverso eroberte eine breite Klientel. Man sah sie am Handgelenk von Meinungsführern, Trendsettern, prominenten Frauen und Männern. Ein Detail war massgebend für den Erfolg: Der Boden der Uhr, der im gewendeten Zustand zur Schau gestellt wird, lässt sich gravieren, emaillieren, schmücken und persönlich gestalten.
Ein Bijou, so einzigartig wie sein Besitzer. Der französische Regisseur Claude Lelouch, ein offenkundig abergläubischer Mensch, wünschte als Gravur auf der Reverso seine Glückszahl, die Dreizehn. Die Bergsteiger Anderl Heckmair, Ludwig Vörg, Fritz Kasparek und Heinrich Harrer verewigten die gemeinsame Erstbesteigung der Eiger-Nordwand von 1938 auf ihren Reverso-Modellen. Es gibt Reverso-Uhren mit Pionierstrecken der Fliegerei, religiösen Motiven, Club-Emblemen und – heute eines der meistverlangten Sujets – mit dem Fingerabdruck des Besitzers. Dazu findet man Widmungen, Schwüre, Familienwappen, Monogramme, Lebensdaten und Schmuckmotive aus Diamanten, Smaragden, Rubinen oder Saphiren – von Juwelieren, Graveuren und Emailleuren kunstvoll angefertigt.
Jaeger-LeCoultre hat sich für die Inszenierung eine hübsche Idee ausgedacht: Im Internet findet man herausragende historische Stücke im sogenannten virtuellen Museum. Dort kann jeder Reverso-Besitzer seine Uhr mit ihrer ganz eigenen Geschichte ausstellen. Innert kurzer Zeit ist so ein spannendes Museum entstanden – und eine feine Ideenbörse.
Von Anfang an stand die Reverso für einen bestimmten Stil, sie gilt als Art-déco-Ikone. Charakteristisch sind die rechteckige Form, die drei Rillen am oberen und unteren Rand, die Typografie der Zeitanzeige und das meist in zwei Farbtönen gehaltene Zifferblatt. Und dennoch: Mit der Zeit verblasste der Glanz des schönen Stücks, in den siebziger Jahren war Reveso nur noch eingefleischten Uhrenliebhabern ein Begriff. Das änderte sich Anfang der achtziger Jahre, als die Uhr wiederentdeckt wurde und zum erfolgreichsten Modell aus dem Hause Jaeger-LeCoultre avancierte und so ein zweites Erfolgskapitel der Schweizer Uhrengeschichte schrieb.
Wunderwerke und Sondermodelle. Damit der Erfolg nicht abriss, verpasste CEO Jérôme Lambert der Uhr eine stetige Frischzellenkur. Die Reverso erhielt in quadratischer Version in der Modellreihe Squadra ein zweites Leben. Immer wieder wurden auch technische Leckerbissen präsentiert. 2008 zum Beispiel wurde an der Uhrenmesse in Genf die Reverso Gyrotourbillon 2 enthüllt, ein kleines Feinmechanikwunder. Als Herz der Uhr pulsiert statt der üblichen flachen und stahlfarbenen eine blaue zylinderförmige Feder, wie man sie sonst von Marinechronometern kennt. Man sieht sie bei sechs Uhr deutlich, und Uhrenfreunde können sich nicht sattsehen am technischen Detail. Das Tourbillon besteht aus 100 Teilen, die zusammen 0,34 Gramm wiegen. Und dieses Jahr nun, zum 80-Jahr-Jubiläum, legt Jaeger-LeCoultre ein paar Sondermodelle auf:
Die Reverso Répétion Minutes à Rideau ist eine akustische Schlagwerkuhr, deren Zifferblatt unter einem kleinen Blendenvorhang verschwinden kann. Das Betätigen des Vorhangs zieht gleichzeitig den Mechanismus der Minutenrepetition auf. Die Grande Reverso Duoface ist, wenn man so will, eine Überarbeitung der Duoface von 1994. Dort, wo andere Reverso-Uhren einen Gehäuseboden haben, zeigt die Uhr ein zweites Zifferblatt, das sich trefflich zum Anzeigen einer zweiten Zeitzone eignet.
Die Grande Reverso Ultra Thin setzt auf Schlichtheit und übernimmt das Design der allerersten Reverso. Dank dem extrem flachen Werk mit der Kalibernummer 822, das gerade 2,93 Millimeter hoch ist, ist die Uhr so schlank wie nie zuvor. Als Grande Reverso Ultra Thin Tribute to 1931 kommt sie in Edelstahl oder 18-karätigem Rotgold daher. Die Version mit dem schwarzen Zifferblatt ist von der Ur-Reverso kaum zu unterscheiden. Manchmal, sagt Jaeger-LeCoultre-Chef Jérôme Lambert, sei der Zauber einer Legende derart stark, dass etwas Seltsames geschehe: «Die Legende lebt, atmet, verwandelt sich. Und sie nimmt eine noch schönere Gestalt an, ohne dabei ihre ursprüngliche Aura einzubüssen.» César de Trey, darauf darf man heute wetten, würde nicht widersprechen.