Spider-Man lebt. Ein Plakat in Zürich verheisst es. Ab 6. Juni klettert der Superheld aus der Comic-Welt in Schweizer Lichtspielsälen die Leinwände hoch und kämpft gegen das Böse dieser Welt. Gegen Vorurteile, Missverständnisse und Moralisten, die ihm den Sauerstoff zum Leben zu rauben drohen.
Es ist der Morgen nach dem ersten Erscheinen der neuen «Weltwoche» in Magazinform. Chefredaktor Roger Köppel sitzt beim Frühstück und sagt leicht enerviert: «Dieses ewige Gerede, ich sei ein Provokateur, ich sei nur auf Provokation aus. Das ist nun wirklich absurd.» Er nimmt sich ein Croissant, schüttelt den Kopf und sagt: «Einfach absurd.»
Die cinematografische Rentre Spider-Mans wird die Stimmung des Chefredaktors der neuen «Weltwoche» heben. «Die Spinne», wie der von allen verkannte Held aus der Marvel-Comicwelt im deutschen Sprachraum genannt wird, ist Köppels Lieblingsfigur aus Jugendtagen. Erstmals begegnete er ihr 1976 auf dem Pausenplatz des Schulhauses Nägelimoos in Kloten. Es war in den Tagen, als ihm seine damalige Primarlehrerin Madeleine Meyer einen korrigierten Aufsatz aushändigte und meinte: «Roger, aus dir wird bestimmt einmal ein Reporter.» Der Primaner hatte indes keine Zeit für derartig suspekte Gedankengänge. Der Elfjährige las vor allem Comics. Spider-Man. «Wie ich genau in den Besitz der Ausgabe kam, ist mir nicht mehr bekannt, wohl aber die Begeisterung, Faszination und tiefe existenzielle Verstörung, die sie auslöste», wird er 24 Jahre später im «Magazin» über seine Initiation schreiben.
Der Plot der Geschichte ist simpel: Bei einer Laborpräsentation wird der Schüler Peter Parker von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen und verfügt von diesem Zeitpunkt an über die Fähigkeiten des Tieres. Er kann Fassaden hochklettern, auf schmalen Simsen balancieren, Spinnennetze versprühen und Gefahren erahnen. Das Besondere an der Figur ist, dass sie ein Doppelleben lebt. Sie ist die Comic gewordene Synthese von Durchschnittsversager und Held im Cape. Sie ist sowohl die These des Kampfes gegen das Böse von heute als auch die Antithese des von der Mehrheit gejagten, gehassten Sonderlings, des Bösen von morgen. Die Figur ist pure Provokation.
Die Tage im Nägelimoos sind fern. Doch bald kehren sie im Kino wieder. Deswegen zu behaupten, die vor drei Wochen neu lancierte «Weltwoche» gleiche dem Spinnenmenschen, würde zur Erheiterung beitragen, das Ziel aber verfehlen. «Absurd», würde Roger Köppel dazu sagen. Dass der Chefredaktor selber Spider-Man verwandt scheint, dagegen ist indes wenig vorzubringen.
Eine kleine Vorgeschichte
Dem Gesicht Roger Köppels ist das Schlafmanko der letzten Wochen nicht anzusehen. Es blickt jungenhaft wie das eines Schülers. Aus den Augen spricht der Schalk. Die ovalen Brillengläser unterstreichen den intellektuellen Anspruch. Köppels Gang ist wie immer: zügig, die Schultern ein wenig hochgezogen, die Arme angewinkelt, die Hände auf Höhe der Taille, so, als ob sie jederzeit bereit wären, den Colt aus dem Gürtel zu ziehen. Vorerst greifen sie nach einem Müesli auf dem Frühstückstisch. Er gehe wie auf Schienen, sagt ein Mitarbeiter über ihn.
Seit Juni vergangenen Jahres ist er darauf fixiert, die «Weltwoche» wiederzuerwecken. Als junger Chefredaktor ist er vom «Magazin» des «Tages-Anzeigers» gekommen. Er, der raketenhaft in die Umlaufbahn der Manager Hochgeschossene, soll einen der gegenwärtig heikelsten Turnarounds der Schweiz schaffen. Eine Trendumkehr ist bitter nötig. Bei der «Weltwoche» hatte der jährliche Mittelabfluss zuletzt die schmerzhafte Marke von acht Millionen Franken überstiegen. Matthias Hagemann, Patron der Basler Mediengruppe, verpflichtete Köppel im Sommer letzten Jahres auf den Rat einiger Auguren in der Medienbranche. Köppel, das «grösste journalistische Talent der Schweiz» («Die Zeit»). Ein frei denkendes Enfant terrible für die einen, ein rechtsgesteuerter Karrierist im Armani-Anzug für die anderen. Der 37-jährige Roger Köppel also sei der Einzige, der das seit Jahren mit wiederkehrenden Nachrufen geehrte, dem kommerziellen Ende zudriftende Produkt zu retten vermöge.
Die Basler sagten ihm für drei Jahre 30 Millionen Franken Investitionsgarantie zu. Hörte man sagen. Roger Köppel, Art-Director Wendelin Hess und Verlagsleiterin Uli Rubner begannen zu rechnen und zu planen und zu bauen. Neues Personal kam, die bisherigen Ressortleiter gingen oder mussten gehen. Köppel schnürte harte Bandagen. Dem bisherigen Fundus der ihm verliehenen Bezeichnungen war flugs eine weitere hinzugefügt: jene des dreisten Managers. Seelenlos von einem Objekt zum anderen nomadisierend in den Augen der einen, vernunftgeleitet und zielgerichtet für die anderen. Jeder bekam den Köppel, den er haben wollte. Einzig in einem Punkt waren sich alle einig: Köppels Tempo war hoch.
Bis in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Von Ende Dezember bis Ende Januar stand das bereits ausgearbeitete Rettungsprojekt plötzlich still. Das Schweizer Verlagshaus Ringier beabsichtigte, die gesamte Jean-Frey-Gruppe mitsamt der «Weltwoche» zu kaufen und mitzureden. Köppel und sein spürbar männerdominiertes Team mussten warten. Der Neuanfang drohte nie stattzufinden. Es folgten Übernahmewirren, Ringiers Verhandlungs-Havarie, Eigentümerdiskussionen, der Einstieg der Investmentbanker von Swissfirst, wechselnde Investoren, und, endlich wars entschieden, durfte die «Weltwoche» ihren risikoreichen, weil radikalen Versuch wagen, frische Kundschaft, mehr Werbegelder und das ökonomische Recht aufs Überleben zu erwerben.
Roger Köppel sagt dazu nur: «Es sind weniger als 20 Millionen Franken, die wir zur Verfügung haben.»
20 Millionen Franken bis zum Break-even sind in der Printmedien-Branche wenig. Vor allem, wenn man zum Vergleich die Investitionszahlen heranzieht, welche die «SonntagsZeitung» der Tamedia und die «NZZ am Sonntag» eingesetzt haben: im ersten Fall 100 Millionen, im zweiten annähernd 70 Millionen Franken. Zu bedenken ist bei dieser Gegenüberstellung, dass es sich bei den zwei Sonntagsblättern um Neugründungen gehandelt hat und dass die «Weltwoche» bereits mit einem Stock an Abonnenten startet. Dennoch ist die finanzielle Kraft, gelinde gesagt, erstaunlich gering.
Motor Köppel
Die «Weltwoche» setzt auf den Schub der Marke. Dieser Motor hat einen Namen: Roger Köppel. Fragen sich alle: Wofür steht er? Wer ist Roger Köppel?
Roger Köppel lehnt sich ein wenig über den Tisch. Ein Crescendo an Fakten des Gewöhnlichen. Geboren 1965 in Zürich, Sohn eines Bauunternehmers, die Mutter arbeitete im eigenen Geschäft mit. «Bei uns wars klassisch: Mein Vater war Aussen-, meine Mutter Innenminister. Zu Hause wurde nicht über aktuelle Politik, sondern eher über historische Themen gesprochen. Mein Vater arbeitete viel», erinnert sich Roger Köppel. Mit der Mutter zog der Jüngling später nach Kloten. Dort spielte er kurze Zeit Eishockey, wie das in jener freudlos gewachsenen Stadt am Rande des Flughafens in den Siebzigerjahren wohl alle Buben taten. Später übte er sich wesentlich erfolgreicher in Landhockey, in einem mit ein paar Freunden gegründeten Klub. «Paradox» hiess der Verein. Der Name war Programm, die verspielte Antithese zu den in der Nachbarschaft existierenden Vereinen Red Sox und Grasshopper-Club Zürich. Die Akteure sahen sich als Desperados der Ligen. Als Outlaws in einem konservativen, von Tradition beseelten Landesverband. Eine Ansammlung anarchischer Künstler, die sich für die Dauer eines Matches dem Konzept einer Gemeinschaft und den Strukturen des strengen Regelwerkes unterwarfen. Köppel agierte als Spielmacher, nicht rechts oder links, sondern zentral. Verbissen zog er seine Schleifen. Er galt als torgefährlicher Akteur. Besessen übte er im strömenden Regen nach einer längst abgebrochenen Trainingslektion alleine seine Tricks. Die Mitspieler sassen derweil im Klubhaus und schauten ihm entgeistert zu. Sie sahen genüsslich zur Schau gestellten Ehrgeiz. Da war sie zu sehen, die Pose der Provokation.
Nach der zweiten Sekundarklasse wechselte Roger Köppel in die Kantonsschule Bülach. In der neusprachlichen Klasse fiel er durch seine freien Meinungsäusserungen und seine fundierte Widerrede auf. Seine Mitschüler beschreiben ihn im Rückblick als engagiert Diskutierenden, als geschickten Konzepter, als einen mit den Worten Flirtenden. Einer seiner Lehrer sagt: «Er war ein anspruchsvoller Schüler, der einem nicht alles aus der Hand ass. Ich erlebte ihn als kritischen Geist.»
Roger Köppel selber sagt, erst der Journalismus, die Zeit als Mittzwanziger, hätten ihn gelehrt, misstrauisch zu sein.
Nach der Matura die Krise. Wohin? «Ich dachte einen Moment lang daran, Musik zu studieren. Ich spielte in jener Zeit Schlagzeug. Doch ich merkte schnell, dass mein Talent nicht weit reichen würde.» Köppel studierte an der Universität Zürich «ein wenig Englisch», später Wirtschaftsgeschichte, bevor er sich auf politische Philosophie verlegte und schliesslich bei Professor Georg Kohler 1995 mit dem Lizenziat abschloss. In Stuttgart besuchte er Vorlesungen beim ersten Assistenten Hermann Lübbes.
Hegel und die Dialektik waren Köppels grosses Thema. Ihnen ist er auch heute verhaftet. Er sagt: «Ich denke vermutlich dialektisch. Wenn wir in der Redaktion über Themen sprechen, dann fragen wir uns auch: Welches ist das stärkste Argument, das gegen dieses Thema spricht?» Und über sich: «Ich muss mich doch laufend auch selber in Frage stellen, meine eigene Antithese sein.»
Klingt gut, sagt sich der Fragende am Frühstückstisch an jenem Morgen, die Teetasse an den Lippen. Woher nur nimmt dieser Mann seine Sätze? Ist es die Art des Ausdrucks, die ihn zugleich lockt und antreibt? Deshalb die Frage: Roger Köppel, wie lange haben Sie sich den Satz «Wir wollen mit der ‹Weltwoche› Souffleure des intelligenten Tischgespräches sein» eingeprägt?
«Ich übe nicht,» antwortet Köppel. «Eingefallen ist mir dieser Satz im letzten Sommer. Spontan. Nachher habe ich den Ausdruck immer wieder verwendet, weil wir durch die Turbulenzen bei der ‹Weltwoche› immer wieder zu Erklärungen und Ankündigungen aufgefordert worden sind. Aber ich habe durchaus auch Freude an pointierten Aussagen.»
Ein kurzer Text als Chiffre
Einer jener kecken Sprüche brachte ihm unlängst Ärger ein. In der «Weltwoche»-Ausgabe vom 18. Oktober 2001 griff er mit einem kurzen Text in die Swissair-Debatte ein und plädierte dafür, dass der Staat die kranke Airline nicht an seinen Infusionstropf hängen dürfe. Einige wenige andere argumentierten ebenso, zum Beispiel Gerhard Schwarz, einflussreicher Wirtschaft-Ressortleiter der «Neuen Zürcher Zeitung». Köppel unterschied sich indes stark von den Neinsagern, denn er verband seine Gedanken mit der provokativen Aussage, SVP-Parteipräsident Ueli Maurer sei der «letzte Staatsmann» im Lande, eben weil dieser störrisch das dem Common Sense verpflichtete Nein vertrete.
Spätestens seither wird Roger Köppel von den Medien und der Öffentlichkeit gern auf die Chiffre «rechts» reduziert. Seine Kritiker sehen in diesem halb ironischen, halb spöttischen, aber ausnahmslos falsch verstandenen und bierernst genommenen Kommentar all ihre Vorbehalte bestätigt, die sie bereits bei früheren Elaboraten Köppels noch zu «Magazin»-Zeiten vorgebracht haben. Köppels Texte über die von ihm so genannten «Scheissfilme», über den Gentech-Pionier Portykus, sein Interview mit Christoph Blocher, allesamt haben sie Wellen geworfen, ihm verbissene Kommentare eingebracht.
Spider-Man will Gutes tun. Er kaschiert dies nicht mit dem Mäntelchen der Mittelmässigkeit, sondern überhöht sein Tun noch im Cape des Sonderlings. Deshalb misstraut der Mob diesem Jungen unter der Maske. Dasselbe widerfährt Roger Köppel. Er will diesen Umstand «nicht dramatisieren», aber auch er weiss: Er steht unter strenger Beobachtung. Seit letztem Juni mehr als zuvor. Die «Weltwoche» als zwingend kommerzielles Produkt bietet nicht mehr die Laborbedingungen, die er beim «Magazin», der verspielt intellektuellen Vorhut des «Tages-Anzeigers», während vier Jahren angetroffen hat. Wenn alle dafür seien, dann sei sicherlich Köppel dagegen, lautet die Kritik. Das lasse für die «Weltwoche» nichts Gutes erwarten, riefen im Herbst verschiedene Medienbeobachter aus dem Blätterwald. Nicht nur die WoZ schrieb vom Abdriften der «Weltwoche» in rechtsbürgerliche Gefilde. Allerdings: Angesichts der inzwischen linksliberalen Majorität in staatstragenden Gremien (Bundesrat, eidgenössische Kammern, Medien) kommt diese Voraussage einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gleich.
Roger Köppel kennt das Problem. Er blickt nachdenklich auf die Limmat und beginnt über einen Umweg seine Sicht der Dinge darzulegen. Er sagt, er bewundere die angelsächsischen Geisteswissenschaftler. An britische und amerikanische Medien lehne er sich an. Die neue «Weltwoche» hat ein Cover, das jenem der «New York Book Review» ähnelt. «Schon als Jugendlicher habe ich lieber englische als deutsche Literatur gelesen», sagt Köppel. Am traditionellen angelsächsischen Journalismus liebt er «den Humor, die Sachlichkeit und die Nüchternheit». Und nach einer Pause: «Das ist nicht durch Moralisten und Utopisten geprägter Journalismus. Das ist Realismus.»
Ein Schiff tuckert vorbei. Roger Köppel sagt: «Ich habe Mühe mit diesem bei uns herrschenden kulturpessimistischen Moralismus. Entschuldigung, aber das hat doch allzu oft geradezu kitschige Züge.» Roger Köppel holt aus: «Man sollte David Hume lesen. Er sagt, moralischer Fortschritt sei quantifizierbar durch die Zahl der Menschen, die wir als wir zu bezeichnen bereit seien. Als ich diesen Satz zum ersten Mal gelesen habe, hat er mich zutiefst fasziniert. Das ist immer noch der stärkste Satz, den ich zu diesem Thema gelesen habe. Hume sagt des Weiteren und im übertragenen Sinn, dass gerade die Wirtschaft, der Handel dieses Wir vergrössere, die Menschen als interessegeleitete Individuen zusammenbringe, ungeachtet ihrer Hautfarbe und Religion. Diese in diesem Sinn zivilisierende Kraft des Kapitalismus wird vielleicht ein bisschen unterschätzt. Die Angelsachsen haben zu Auffassungen dieser Art wohl ein etwas unverkrampfteres Verhältnis als wir.»
Roger Köppel blickt oft an seinem Gegenüber vorbei, wenn er spricht. Als ob er die Worte draussen auf dem Wasser suchen müsste. Auch jetzt. «Ich sage das nicht in der Absicht zu verklären. Aber man muss doch sachlich begründete Gegenpositionen einnehmen, wenn die Fallbeile der Moral niedergehen. Denn mit Moral ist in unserer Gesellschaft alles sehr leicht zu tarnen, die egoistischsten Neigungen können mit den besten Absichten verkleidet werden. Ich habe an zahlreichen Redaktionssitzungen miterlebt, wie subjektiv und willkürlich Kampagnen entstehen können. Der Moralismus kann da schnell zum Lynchritual werden. Das sind fast schon gemeinschaftsstiftende Aktionen: Wo alle mit dem Finger auf einen zeigen können, rückt die Gruppe näher zusammen.»
In einem Interview hat ihm Christoph Blocher einst erzählt, dass Blochers Vater, ein Pfarrer, stets gewarnt habe, man solle sich vor allem vor den Frommen in Acht nehmen. «Da stimme ich zu», sagt Roger Köppel. «Die gute Gesinnung kostet nichts, ist gratis. Man steht immer gut da.»
Kurze Ausflüge ins Marketing
Ein SP-Nationalrat, der an der gut besuchten Lancierungsparty im ABB-Gebäude 550 in Oerlikon teilgenommen hat, will sich die «Weltwoche» in den nächsten Monaten sehr genau anschauen. Er sei gespannt, in welche politische Richtung sich das Blatt unter Köppel entwickle. Christoph Blocher, SVP-Nationalrat, fragt, ob es nicht wahnsinnig sei, dass sich ein Chefredaktor nun auf Grund erhobener Vorwürfe, er stehe politisch zu rechts, wahrscheinlich von der SVP abgrenzen müsse. Beide, so ahnt der neutrale Beobachter, nehmen sich in diesem Moment zu wichtig. Köppel will nur guten, angelsächsischen Journalismus machen: in Frage stellen – und auffallen. Manchmal geht er über die Grenzen des Journalismus hinaus und wagt sich auf das Terrain des Marketings. Manchmal ist er wohl allein hinausgegangen und hat die Wirkung seiner Worte zu wenig bedacht. Etwa wenn er in der Chefredaktorenkonferenz der Tamedia mehr «Schock- und Provokationsjournalismus» eingefordert und sich somit in eigener Sache von den Kollegen hat abheben wollen. Heute sagt er: «Im harten Wettbewerb der Medien ist es nur ein kurzer Weg vom Enthüllungs- zum Entrüstungsjournalismus. Weil es sehr viele Konkurrenten gibt, ist der Unterschied zwischen den Produkten klein, und das Wenige an Mehrwert muss mit lauten Emotionen überhöht werden. Das ist keine dramatische Situation, aber ich werde aufpassen und nicht in diese Falle laufen.» Die Frage liegt auf der Hand: Ist beim Maurer-Kommentar, der Chiffre des «letzten Staatsmannes», diese Falle bereits ein erstes Mal zugeschnappt?
Roger Köppel sagt: «Ich habe unterschätzt, dass der Begründungszwang höher ist, wenn ich nicht in der Meinung der moralischen Mehrheit schreibe. Vermutlich hätte ich eine ausführlichere Analyse vorlegen sollen. Bei Maurer ging es mir um seine aus meiner Sicht vernünftige Kritik an den Subventionen für die Swissair, aber man hat das dann im Nachhinein auf die eine Zeile verkürzt. Es braucht offenbar nicht viel, bis man sich hier zu Lande provoziert fühlt.» Köppel bestellt sich noch einen Tee.
Hochrisikogesellschaft
Der Schüler Peter Parker wurde im Marvel-Comic erst durch den Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne zu Spider-Man. Auch Roger Köppel ist durch ein versuchsweise verändertes Subjekt infiziert. Die neue «Weltwoche» darf getrost als das letzte Experiment dieses Labels bezeichnet werden. In den entscheidenden, weil den Ertragsfluss kanalisierenden Werber- und Mediaplanerkreisen ist die Meinung gemacht. Wenn es diesmal nicht klappt, dann ist dieser Titel am Ende. Mit dem Umbau aufs Magazinformat hat die «Weltwoche» auf einen Schlag statistisch die grössere Leserzahl erreicht. Eine einzige Ausgabe eines Magazins wird während einer Woche erfahrungsgemäss öfter zur Hand genommen und kennt somit mehr Leser als eine Zeitung, was die «Weltwoche» bisher gewesen ist. Zusammen mit dem erhofften «Köppel-Effekt» – mit dessen redaktionellen Parametern «Grundhumor», «lebensbejahende Haltung» und «Kraft des Individuums» – erhoffen sich die Eigentümer der Jean Frey einen Start zu alten Auflagenhöhen, die sich jenseits der Hundertausendermarke befinden. Sie setzen alles auf eine Karte und lassen Roger Köppel freie Hand.
Dieser ist radikal seinen eigenen Weg gegangen. Er hat sein Heft formal reduziert und auf Nüchternheit getrimmt, adäquat zu seinem angelsächsischen Ansatz im Inhaltlichen. Er unterlässt es, seinem Magazin die für die Schweiz «normalen» Zeitungsstrukturen und Unterteilungen in Ressorts wie Ausland, Inland und Wirtschaft zu geben. Mit dem Verzicht auf Leserführung überlässt er die Leserschaft weitgehend sich selbst – er will derart die Wirkung des Inhalts erhöhen. Köppel versucht so, alle Meinungsumfragen der Medienbranche der letzten zehn Jahre zu widerlegen. Es ist, als ob da einer sagen würde, dies alles liest (und kauft) ihr nicht zur Unterhaltung und noch ein bisschen nebenher, sondern weil ihr es lesen (und kaufen) wollt. Das ist mutig. Und konsequent. Und der Traum aller Journalisten. Aber nicht zeitgemäss. Es ist die Antithese zur gängigen Zeitschriftenkultur im deutschsprachigen Raum. Und es ist deshalb typisch Roger Köppel.
Wenn die New Economy eines gelehrt hat, dann dies: Jedem mutig, ja besessen in die Zukunft strebenden CEO muss ein Strukturen bauendes, die Nachschublinien haltendes, uninspiriertes Alter Ego folgen. Roger Köppel verkörpert den publizistischen Visionär treffend. Doch seinem Wahn fehlt das Mittelmass. Seinem kalten Streben nach Intelligenz fehlt möglicherweise das Publikum. Die verbiesterten Erbsenzähler, die buchhalterischen Nörgler, die branchenfremden Ignoranten, die Köppels Sauseschritt verlangsamen könnten, sind nicht zu entdecken. CEO Filippo Leutenegger und Verlagsleiterin Uli Rubner haben eines gemeinsam: Sie sind ehemalige Journalisten. Sie umgeben den konsequent seinen eigenen Weg gehenden Roger Köppel – und sind wie alle Mitarbeiter angesteckt von dessen Begeisterung. Ob sie den Radikalen schon vor dem möglichen Eintritt eines kommerziellen Ernstfalls in seinem publizistisch wahrhaften Tun bremsen wollen, ist fraglich.
Im schlimmsten aller Fälle, nach einem Scheitern des letzten Experimentes «Weltwoche», wäre nicht Roger Köppels Zukunft gefährdet. Sie fände ihre Fortsetzung an einer Eliteschule wie Harvard. Ohne die «Weltwoche» stände jedoch das ganze, nach einem Scheitern zu klein geratene Haus Jean Frey («Beobachter», «Bilanz», «TR7») in Frage. Roger Köppel, die «Weltwoche» und die Leserschaft. Wird die Liaison eine glückliche, so gelingt ein tollkühner Balanceakt, wie ihn nur Spider-Man Peter Parker auf der äussersten Kante eines Hochhauses hundert Meter über dem staunenden Publikum zuwege bringt. Bisher war dies noch nie in der Realität gesehen. Ab 6. Juni in unseren Kinos.
Es ist der Morgen nach dem ersten Erscheinen der neuen «Weltwoche» in Magazinform. Chefredaktor Roger Köppel sitzt beim Frühstück und sagt leicht enerviert: «Dieses ewige Gerede, ich sei ein Provokateur, ich sei nur auf Provokation aus. Das ist nun wirklich absurd.» Er nimmt sich ein Croissant, schüttelt den Kopf und sagt: «Einfach absurd.»
Die cinematografische Rentre Spider-Mans wird die Stimmung des Chefredaktors der neuen «Weltwoche» heben. «Die Spinne», wie der von allen verkannte Held aus der Marvel-Comicwelt im deutschen Sprachraum genannt wird, ist Köppels Lieblingsfigur aus Jugendtagen. Erstmals begegnete er ihr 1976 auf dem Pausenplatz des Schulhauses Nägelimoos in Kloten. Es war in den Tagen, als ihm seine damalige Primarlehrerin Madeleine Meyer einen korrigierten Aufsatz aushändigte und meinte: «Roger, aus dir wird bestimmt einmal ein Reporter.» Der Primaner hatte indes keine Zeit für derartig suspekte Gedankengänge. Der Elfjährige las vor allem Comics. Spider-Man. «Wie ich genau in den Besitz der Ausgabe kam, ist mir nicht mehr bekannt, wohl aber die Begeisterung, Faszination und tiefe existenzielle Verstörung, die sie auslöste», wird er 24 Jahre später im «Magazin» über seine Initiation schreiben.
Der Plot der Geschichte ist simpel: Bei einer Laborpräsentation wird der Schüler Peter Parker von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen und verfügt von diesem Zeitpunkt an über die Fähigkeiten des Tieres. Er kann Fassaden hochklettern, auf schmalen Simsen balancieren, Spinnennetze versprühen und Gefahren erahnen. Das Besondere an der Figur ist, dass sie ein Doppelleben lebt. Sie ist die Comic gewordene Synthese von Durchschnittsversager und Held im Cape. Sie ist sowohl die These des Kampfes gegen das Böse von heute als auch die Antithese des von der Mehrheit gejagten, gehassten Sonderlings, des Bösen von morgen. Die Figur ist pure Provokation.
Die Tage im Nägelimoos sind fern. Doch bald kehren sie im Kino wieder. Deswegen zu behaupten, die vor drei Wochen neu lancierte «Weltwoche» gleiche dem Spinnenmenschen, würde zur Erheiterung beitragen, das Ziel aber verfehlen. «Absurd», würde Roger Köppel dazu sagen. Dass der Chefredaktor selber Spider-Man verwandt scheint, dagegen ist indes wenig vorzubringen.
Eine kleine Vorgeschichte
Dem Gesicht Roger Köppels ist das Schlafmanko der letzten Wochen nicht anzusehen. Es blickt jungenhaft wie das eines Schülers. Aus den Augen spricht der Schalk. Die ovalen Brillengläser unterstreichen den intellektuellen Anspruch. Köppels Gang ist wie immer: zügig, die Schultern ein wenig hochgezogen, die Arme angewinkelt, die Hände auf Höhe der Taille, so, als ob sie jederzeit bereit wären, den Colt aus dem Gürtel zu ziehen. Vorerst greifen sie nach einem Müesli auf dem Frühstückstisch. Er gehe wie auf Schienen, sagt ein Mitarbeiter über ihn.
Seit Juni vergangenen Jahres ist er darauf fixiert, die «Weltwoche» wiederzuerwecken. Als junger Chefredaktor ist er vom «Magazin» des «Tages-Anzeigers» gekommen. Er, der raketenhaft in die Umlaufbahn der Manager Hochgeschossene, soll einen der gegenwärtig heikelsten Turnarounds der Schweiz schaffen. Eine Trendumkehr ist bitter nötig. Bei der «Weltwoche» hatte der jährliche Mittelabfluss zuletzt die schmerzhafte Marke von acht Millionen Franken überstiegen. Matthias Hagemann, Patron der Basler Mediengruppe, verpflichtete Köppel im Sommer letzten Jahres auf den Rat einiger Auguren in der Medienbranche. Köppel, das «grösste journalistische Talent der Schweiz» («Die Zeit»). Ein frei denkendes Enfant terrible für die einen, ein rechtsgesteuerter Karrierist im Armani-Anzug für die anderen. Der 37-jährige Roger Köppel also sei der Einzige, der das seit Jahren mit wiederkehrenden Nachrufen geehrte, dem kommerziellen Ende zudriftende Produkt zu retten vermöge.
Die Basler sagten ihm für drei Jahre 30 Millionen Franken Investitionsgarantie zu. Hörte man sagen. Roger Köppel, Art-Director Wendelin Hess und Verlagsleiterin Uli Rubner begannen zu rechnen und zu planen und zu bauen. Neues Personal kam, die bisherigen Ressortleiter gingen oder mussten gehen. Köppel schnürte harte Bandagen. Dem bisherigen Fundus der ihm verliehenen Bezeichnungen war flugs eine weitere hinzugefügt: jene des dreisten Managers. Seelenlos von einem Objekt zum anderen nomadisierend in den Augen der einen, vernunftgeleitet und zielgerichtet für die anderen. Jeder bekam den Köppel, den er haben wollte. Einzig in einem Punkt waren sich alle einig: Köppels Tempo war hoch.
Bis in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Von Ende Dezember bis Ende Januar stand das bereits ausgearbeitete Rettungsprojekt plötzlich still. Das Schweizer Verlagshaus Ringier beabsichtigte, die gesamte Jean-Frey-Gruppe mitsamt der «Weltwoche» zu kaufen und mitzureden. Köppel und sein spürbar männerdominiertes Team mussten warten. Der Neuanfang drohte nie stattzufinden. Es folgten Übernahmewirren, Ringiers Verhandlungs-Havarie, Eigentümerdiskussionen, der Einstieg der Investmentbanker von Swissfirst, wechselnde Investoren, und, endlich wars entschieden, durfte die «Weltwoche» ihren risikoreichen, weil radikalen Versuch wagen, frische Kundschaft, mehr Werbegelder und das ökonomische Recht aufs Überleben zu erwerben.
Roger Köppel sagt dazu nur: «Es sind weniger als 20 Millionen Franken, die wir zur Verfügung haben.»
20 Millionen Franken bis zum Break-even sind in der Printmedien-Branche wenig. Vor allem, wenn man zum Vergleich die Investitionszahlen heranzieht, welche die «SonntagsZeitung» der Tamedia und die «NZZ am Sonntag» eingesetzt haben: im ersten Fall 100 Millionen, im zweiten annähernd 70 Millionen Franken. Zu bedenken ist bei dieser Gegenüberstellung, dass es sich bei den zwei Sonntagsblättern um Neugründungen gehandelt hat und dass die «Weltwoche» bereits mit einem Stock an Abonnenten startet. Dennoch ist die finanzielle Kraft, gelinde gesagt, erstaunlich gering.
Motor Köppel
Die «Weltwoche» setzt auf den Schub der Marke. Dieser Motor hat einen Namen: Roger Köppel. Fragen sich alle: Wofür steht er? Wer ist Roger Köppel?
Roger Köppel lehnt sich ein wenig über den Tisch. Ein Crescendo an Fakten des Gewöhnlichen. Geboren 1965 in Zürich, Sohn eines Bauunternehmers, die Mutter arbeitete im eigenen Geschäft mit. «Bei uns wars klassisch: Mein Vater war Aussen-, meine Mutter Innenminister. Zu Hause wurde nicht über aktuelle Politik, sondern eher über historische Themen gesprochen. Mein Vater arbeitete viel», erinnert sich Roger Köppel. Mit der Mutter zog der Jüngling später nach Kloten. Dort spielte er kurze Zeit Eishockey, wie das in jener freudlos gewachsenen Stadt am Rande des Flughafens in den Siebzigerjahren wohl alle Buben taten. Später übte er sich wesentlich erfolgreicher in Landhockey, in einem mit ein paar Freunden gegründeten Klub. «Paradox» hiess der Verein. Der Name war Programm, die verspielte Antithese zu den in der Nachbarschaft existierenden Vereinen Red Sox und Grasshopper-Club Zürich. Die Akteure sahen sich als Desperados der Ligen. Als Outlaws in einem konservativen, von Tradition beseelten Landesverband. Eine Ansammlung anarchischer Künstler, die sich für die Dauer eines Matches dem Konzept einer Gemeinschaft und den Strukturen des strengen Regelwerkes unterwarfen. Köppel agierte als Spielmacher, nicht rechts oder links, sondern zentral. Verbissen zog er seine Schleifen. Er galt als torgefährlicher Akteur. Besessen übte er im strömenden Regen nach einer längst abgebrochenen Trainingslektion alleine seine Tricks. Die Mitspieler sassen derweil im Klubhaus und schauten ihm entgeistert zu. Sie sahen genüsslich zur Schau gestellten Ehrgeiz. Da war sie zu sehen, die Pose der Provokation.
Nach der zweiten Sekundarklasse wechselte Roger Köppel in die Kantonsschule Bülach. In der neusprachlichen Klasse fiel er durch seine freien Meinungsäusserungen und seine fundierte Widerrede auf. Seine Mitschüler beschreiben ihn im Rückblick als engagiert Diskutierenden, als geschickten Konzepter, als einen mit den Worten Flirtenden. Einer seiner Lehrer sagt: «Er war ein anspruchsvoller Schüler, der einem nicht alles aus der Hand ass. Ich erlebte ihn als kritischen Geist.»
Roger Köppel selber sagt, erst der Journalismus, die Zeit als Mittzwanziger, hätten ihn gelehrt, misstrauisch zu sein.
Nach der Matura die Krise. Wohin? «Ich dachte einen Moment lang daran, Musik zu studieren. Ich spielte in jener Zeit Schlagzeug. Doch ich merkte schnell, dass mein Talent nicht weit reichen würde.» Köppel studierte an der Universität Zürich «ein wenig Englisch», später Wirtschaftsgeschichte, bevor er sich auf politische Philosophie verlegte und schliesslich bei Professor Georg Kohler 1995 mit dem Lizenziat abschloss. In Stuttgart besuchte er Vorlesungen beim ersten Assistenten Hermann Lübbes.
Hegel und die Dialektik waren Köppels grosses Thema. Ihnen ist er auch heute verhaftet. Er sagt: «Ich denke vermutlich dialektisch. Wenn wir in der Redaktion über Themen sprechen, dann fragen wir uns auch: Welches ist das stärkste Argument, das gegen dieses Thema spricht?» Und über sich: «Ich muss mich doch laufend auch selber in Frage stellen, meine eigene Antithese sein.»
Klingt gut, sagt sich der Fragende am Frühstückstisch an jenem Morgen, die Teetasse an den Lippen. Woher nur nimmt dieser Mann seine Sätze? Ist es die Art des Ausdrucks, die ihn zugleich lockt und antreibt? Deshalb die Frage: Roger Köppel, wie lange haben Sie sich den Satz «Wir wollen mit der ‹Weltwoche› Souffleure des intelligenten Tischgespräches sein» eingeprägt?
«Ich übe nicht,» antwortet Köppel. «Eingefallen ist mir dieser Satz im letzten Sommer. Spontan. Nachher habe ich den Ausdruck immer wieder verwendet, weil wir durch die Turbulenzen bei der ‹Weltwoche› immer wieder zu Erklärungen und Ankündigungen aufgefordert worden sind. Aber ich habe durchaus auch Freude an pointierten Aussagen.»
Ein kurzer Text als Chiffre
Einer jener kecken Sprüche brachte ihm unlängst Ärger ein. In der «Weltwoche»-Ausgabe vom 18. Oktober 2001 griff er mit einem kurzen Text in die Swissair-Debatte ein und plädierte dafür, dass der Staat die kranke Airline nicht an seinen Infusionstropf hängen dürfe. Einige wenige andere argumentierten ebenso, zum Beispiel Gerhard Schwarz, einflussreicher Wirtschaft-Ressortleiter der «Neuen Zürcher Zeitung». Köppel unterschied sich indes stark von den Neinsagern, denn er verband seine Gedanken mit der provokativen Aussage, SVP-Parteipräsident Ueli Maurer sei der «letzte Staatsmann» im Lande, eben weil dieser störrisch das dem Common Sense verpflichtete Nein vertrete.
Spätestens seither wird Roger Köppel von den Medien und der Öffentlichkeit gern auf die Chiffre «rechts» reduziert. Seine Kritiker sehen in diesem halb ironischen, halb spöttischen, aber ausnahmslos falsch verstandenen und bierernst genommenen Kommentar all ihre Vorbehalte bestätigt, die sie bereits bei früheren Elaboraten Köppels noch zu «Magazin»-Zeiten vorgebracht haben. Köppels Texte über die von ihm so genannten «Scheissfilme», über den Gentech-Pionier Portykus, sein Interview mit Christoph Blocher, allesamt haben sie Wellen geworfen, ihm verbissene Kommentare eingebracht.
Spider-Man will Gutes tun. Er kaschiert dies nicht mit dem Mäntelchen der Mittelmässigkeit, sondern überhöht sein Tun noch im Cape des Sonderlings. Deshalb misstraut der Mob diesem Jungen unter der Maske. Dasselbe widerfährt Roger Köppel. Er will diesen Umstand «nicht dramatisieren», aber auch er weiss: Er steht unter strenger Beobachtung. Seit letztem Juni mehr als zuvor. Die «Weltwoche» als zwingend kommerzielles Produkt bietet nicht mehr die Laborbedingungen, die er beim «Magazin», der verspielt intellektuellen Vorhut des «Tages-Anzeigers», während vier Jahren angetroffen hat. Wenn alle dafür seien, dann sei sicherlich Köppel dagegen, lautet die Kritik. Das lasse für die «Weltwoche» nichts Gutes erwarten, riefen im Herbst verschiedene Medienbeobachter aus dem Blätterwald. Nicht nur die WoZ schrieb vom Abdriften der «Weltwoche» in rechtsbürgerliche Gefilde. Allerdings: Angesichts der inzwischen linksliberalen Majorität in staatstragenden Gremien (Bundesrat, eidgenössische Kammern, Medien) kommt diese Voraussage einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gleich.
Roger Köppel kennt das Problem. Er blickt nachdenklich auf die Limmat und beginnt über einen Umweg seine Sicht der Dinge darzulegen. Er sagt, er bewundere die angelsächsischen Geisteswissenschaftler. An britische und amerikanische Medien lehne er sich an. Die neue «Weltwoche» hat ein Cover, das jenem der «New York Book Review» ähnelt. «Schon als Jugendlicher habe ich lieber englische als deutsche Literatur gelesen», sagt Köppel. Am traditionellen angelsächsischen Journalismus liebt er «den Humor, die Sachlichkeit und die Nüchternheit». Und nach einer Pause: «Das ist nicht durch Moralisten und Utopisten geprägter Journalismus. Das ist Realismus.»
Ein Schiff tuckert vorbei. Roger Köppel sagt: «Ich habe Mühe mit diesem bei uns herrschenden kulturpessimistischen Moralismus. Entschuldigung, aber das hat doch allzu oft geradezu kitschige Züge.» Roger Köppel holt aus: «Man sollte David Hume lesen. Er sagt, moralischer Fortschritt sei quantifizierbar durch die Zahl der Menschen, die wir als wir zu bezeichnen bereit seien. Als ich diesen Satz zum ersten Mal gelesen habe, hat er mich zutiefst fasziniert. Das ist immer noch der stärkste Satz, den ich zu diesem Thema gelesen habe. Hume sagt des Weiteren und im übertragenen Sinn, dass gerade die Wirtschaft, der Handel dieses Wir vergrössere, die Menschen als interessegeleitete Individuen zusammenbringe, ungeachtet ihrer Hautfarbe und Religion. Diese in diesem Sinn zivilisierende Kraft des Kapitalismus wird vielleicht ein bisschen unterschätzt. Die Angelsachsen haben zu Auffassungen dieser Art wohl ein etwas unverkrampfteres Verhältnis als wir.»
Roger Köppel blickt oft an seinem Gegenüber vorbei, wenn er spricht. Als ob er die Worte draussen auf dem Wasser suchen müsste. Auch jetzt. «Ich sage das nicht in der Absicht zu verklären. Aber man muss doch sachlich begründete Gegenpositionen einnehmen, wenn die Fallbeile der Moral niedergehen. Denn mit Moral ist in unserer Gesellschaft alles sehr leicht zu tarnen, die egoistischsten Neigungen können mit den besten Absichten verkleidet werden. Ich habe an zahlreichen Redaktionssitzungen miterlebt, wie subjektiv und willkürlich Kampagnen entstehen können. Der Moralismus kann da schnell zum Lynchritual werden. Das sind fast schon gemeinschaftsstiftende Aktionen: Wo alle mit dem Finger auf einen zeigen können, rückt die Gruppe näher zusammen.»
In einem Interview hat ihm Christoph Blocher einst erzählt, dass Blochers Vater, ein Pfarrer, stets gewarnt habe, man solle sich vor allem vor den Frommen in Acht nehmen. «Da stimme ich zu», sagt Roger Köppel. «Die gute Gesinnung kostet nichts, ist gratis. Man steht immer gut da.»
Kurze Ausflüge ins Marketing
Ein SP-Nationalrat, der an der gut besuchten Lancierungsparty im ABB-Gebäude 550 in Oerlikon teilgenommen hat, will sich die «Weltwoche» in den nächsten Monaten sehr genau anschauen. Er sei gespannt, in welche politische Richtung sich das Blatt unter Köppel entwickle. Christoph Blocher, SVP-Nationalrat, fragt, ob es nicht wahnsinnig sei, dass sich ein Chefredaktor nun auf Grund erhobener Vorwürfe, er stehe politisch zu rechts, wahrscheinlich von der SVP abgrenzen müsse. Beide, so ahnt der neutrale Beobachter, nehmen sich in diesem Moment zu wichtig. Köppel will nur guten, angelsächsischen Journalismus machen: in Frage stellen – und auffallen. Manchmal geht er über die Grenzen des Journalismus hinaus und wagt sich auf das Terrain des Marketings. Manchmal ist er wohl allein hinausgegangen und hat die Wirkung seiner Worte zu wenig bedacht. Etwa wenn er in der Chefredaktorenkonferenz der Tamedia mehr «Schock- und Provokationsjournalismus» eingefordert und sich somit in eigener Sache von den Kollegen hat abheben wollen. Heute sagt er: «Im harten Wettbewerb der Medien ist es nur ein kurzer Weg vom Enthüllungs- zum Entrüstungsjournalismus. Weil es sehr viele Konkurrenten gibt, ist der Unterschied zwischen den Produkten klein, und das Wenige an Mehrwert muss mit lauten Emotionen überhöht werden. Das ist keine dramatische Situation, aber ich werde aufpassen und nicht in diese Falle laufen.» Die Frage liegt auf der Hand: Ist beim Maurer-Kommentar, der Chiffre des «letzten Staatsmannes», diese Falle bereits ein erstes Mal zugeschnappt?
Roger Köppel sagt: «Ich habe unterschätzt, dass der Begründungszwang höher ist, wenn ich nicht in der Meinung der moralischen Mehrheit schreibe. Vermutlich hätte ich eine ausführlichere Analyse vorlegen sollen. Bei Maurer ging es mir um seine aus meiner Sicht vernünftige Kritik an den Subventionen für die Swissair, aber man hat das dann im Nachhinein auf die eine Zeile verkürzt. Es braucht offenbar nicht viel, bis man sich hier zu Lande provoziert fühlt.» Köppel bestellt sich noch einen Tee.
Hochrisikogesellschaft
Der Schüler Peter Parker wurde im Marvel-Comic erst durch den Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne zu Spider-Man. Auch Roger Köppel ist durch ein versuchsweise verändertes Subjekt infiziert. Die neue «Weltwoche» darf getrost als das letzte Experiment dieses Labels bezeichnet werden. In den entscheidenden, weil den Ertragsfluss kanalisierenden Werber- und Mediaplanerkreisen ist die Meinung gemacht. Wenn es diesmal nicht klappt, dann ist dieser Titel am Ende. Mit dem Umbau aufs Magazinformat hat die «Weltwoche» auf einen Schlag statistisch die grössere Leserzahl erreicht. Eine einzige Ausgabe eines Magazins wird während einer Woche erfahrungsgemäss öfter zur Hand genommen und kennt somit mehr Leser als eine Zeitung, was die «Weltwoche» bisher gewesen ist. Zusammen mit dem erhofften «Köppel-Effekt» – mit dessen redaktionellen Parametern «Grundhumor», «lebensbejahende Haltung» und «Kraft des Individuums» – erhoffen sich die Eigentümer der Jean Frey einen Start zu alten Auflagenhöhen, die sich jenseits der Hundertausendermarke befinden. Sie setzen alles auf eine Karte und lassen Roger Köppel freie Hand.
Dieser ist radikal seinen eigenen Weg gegangen. Er hat sein Heft formal reduziert und auf Nüchternheit getrimmt, adäquat zu seinem angelsächsischen Ansatz im Inhaltlichen. Er unterlässt es, seinem Magazin die für die Schweiz «normalen» Zeitungsstrukturen und Unterteilungen in Ressorts wie Ausland, Inland und Wirtschaft zu geben. Mit dem Verzicht auf Leserführung überlässt er die Leserschaft weitgehend sich selbst – er will derart die Wirkung des Inhalts erhöhen. Köppel versucht so, alle Meinungsumfragen der Medienbranche der letzten zehn Jahre zu widerlegen. Es ist, als ob da einer sagen würde, dies alles liest (und kauft) ihr nicht zur Unterhaltung und noch ein bisschen nebenher, sondern weil ihr es lesen (und kaufen) wollt. Das ist mutig. Und konsequent. Und der Traum aller Journalisten. Aber nicht zeitgemäss. Es ist die Antithese zur gängigen Zeitschriftenkultur im deutschsprachigen Raum. Und es ist deshalb typisch Roger Köppel.
Wenn die New Economy eines gelehrt hat, dann dies: Jedem mutig, ja besessen in die Zukunft strebenden CEO muss ein Strukturen bauendes, die Nachschublinien haltendes, uninspiriertes Alter Ego folgen. Roger Köppel verkörpert den publizistischen Visionär treffend. Doch seinem Wahn fehlt das Mittelmass. Seinem kalten Streben nach Intelligenz fehlt möglicherweise das Publikum. Die verbiesterten Erbsenzähler, die buchhalterischen Nörgler, die branchenfremden Ignoranten, die Köppels Sauseschritt verlangsamen könnten, sind nicht zu entdecken. CEO Filippo Leutenegger und Verlagsleiterin Uli Rubner haben eines gemeinsam: Sie sind ehemalige Journalisten. Sie umgeben den konsequent seinen eigenen Weg gehenden Roger Köppel – und sind wie alle Mitarbeiter angesteckt von dessen Begeisterung. Ob sie den Radikalen schon vor dem möglichen Eintritt eines kommerziellen Ernstfalls in seinem publizistisch wahrhaften Tun bremsen wollen, ist fraglich.
Im schlimmsten aller Fälle, nach einem Scheitern des letzten Experimentes «Weltwoche», wäre nicht Roger Köppels Zukunft gefährdet. Sie fände ihre Fortsetzung an einer Eliteschule wie Harvard. Ohne die «Weltwoche» stände jedoch das ganze, nach einem Scheitern zu klein geratene Haus Jean Frey («Beobachter», «Bilanz», «TR7») in Frage. Roger Köppel, die «Weltwoche» und die Leserschaft. Wird die Liaison eine glückliche, so gelingt ein tollkühner Balanceakt, wie ihn nur Spider-Man Peter Parker auf der äussersten Kante eines Hochhauses hundert Meter über dem staunenden Publikum zuwege bringt. Bisher war dies noch nie in der Realität gesehen. Ab 6. Juni in unseren Kinos.
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