Ein Gesicht von ausdrucksloser Kälte, ein zackiger Schritt – als Lee Kun-hee im Mai durch Italien reist, durch Frankreich und Spanien, fehlt jede Urlaubslaune. Samsungs 70-jähriger Präsident, den seine 350 000 Mitarbeiter selten erblicken, der wie ein Gegenpol zum einst omnipräsenten Apple-Gott Steve Jobs im Hintergrund bleibt, zeigt sich nur im Notfall so lange. Europas krisengeschüttelte Länder sind Grund genug. Drei Wochen lang macht sich Lee ein Bild von der Wirtschaftslage. Sie sei schlimmer als erwartet, sagt er nach der Landung am Konzernsitz Seoul. Und nicht nur das bedrückt ihn. Der Kampf mit Apple zehrt an Samsung.
Vor den Läden des Erzfeindes stehen jetzt wieder Kunden Schlange, um das iPhone 5 zu ergattern, auch in der Schweiz (siehe «Crash Test»). Samsung darf sich keine Fehler erlauben. Mit den Galaxy-Modellen kontert Lees Mobilfunkchef JK Shin dem US-Trendsetter erfolgreich, doch Samsungs neuestes Modell kommt etwas später in den Markt. Zudem hat der Patentstreit mit Apple das Image der Koreaner angeknackst. Sie sind wegen Designkopien zu einer Milliarde Dollar Schadensersatz verurteilt worden. Jobs’ Nachfolger Tim Cook kann sich freuen.
Dem südkoreanischen Patriarchen ist die gegenwärtige Wirtschaftslage Warnung genug. Der resolute Sohn des Unternehmensgründers greift nach seiner Europareise durch. In seinem Imperium von über 80 Firmen setzt er Choi Gee-sung, Chef der erfolgreichen Konzerntochter Samsung Electronics, als Strategieoberhaupt der gesamten Firmengruppe ein. «Innovative Reformen» brauche Samsung, befiehlt Lee. Chois Auftrag: Er soll künftige Wachstumsfelder aufspüren und erschliessen. Die Eurokrise war für Lee nur der letzte Beweis dafür, wie nötig seine neue Strategie sei.
Der Wunderkonzern versucht einen Kraftakt: Gerade haben die Südkoreaner Apple beim Smartphone-Verkauf überrundet – sogar im ausgewiesenen Apple-Land Schweiz. Sie führen die weltweiten Hitlisten bei Fernsehern, Speicherchips und Monitoren an. Dem Patriarchen reicht das nicht. Er will gesellschaftlich relevante Branchen erobern, Zukunftstrends wie Gesundheit und Umwelt nutzen, um Samsung besser vor starken Rivalen wie Apple abzusichern. Künftig soll Samsung bei Biotech-Arznei und Medizintechnik, Solar- und Windkraft, Batterien für Elektroautos und Lichtinstallationen im Häuserbau mitspielen. Mit nur einigen dieser Sparten will Lee 2020 schon über 40 Milliarden Dollar Umsatz einfahren.
So verlockend das bisher unbetretene Terrain klingt, so riskant ist der Vorstoss des Samsung-Chefs. Die Erfolgsmodelle, mit denen er die Kommunikationstechnik eroberte, nützen ihm diesmal nichts. So lassen sich austauschbare Technikspielzeuge wie Telefone oder Tablet-Computer leicht über Händler verkaufen, in der Medizin- und der Autobranche jedoch sind die Marktstrukturen komplexer. Zugleich fordern noch ganz andere Probleme Lee heraus: Die nicht endende Schlacht mit Apple um Patentrechte bannt Managementkapazität. Lees Geschwister kämpfen gegen ihn um einen höheren Anteil am Konzern und könnten Samsung gar zerschlagen. Seinem Sohn Lee Jae-yong, dem auserwählten Nachfolger, fehlt die Power und Raffinesse des Vaters.
Im Alarmzustand. Dabei sieht es auf den ersten Blick so gut aus. Nie war Samsung stärker: 220 Milliarden Dollar Umsatz, 21 Milliarden Gewinn – die zuletzt für 2010 publizierten Zahlen lassen keine Wünsche offen. Drei Viertel der Erlöse bringt Samsung Electronics. Die Galaxy-Mobiltelefone sind ein Kassenschlager, auf der Internationalen Funkausstellung (IFA) in Berlin präsentierte Samsung in der Grosshalle Tempodrom im September das neue Galaxy Note II und eine Kamera mit Webzugang, zu deren technischen Daten die 2000 Besucher sogar applaudierten. Lee aber misstraut gerade dem Erfolg dieser Sparte, die seinen Konzern gross gemacht hat. Preiszerfall, dünne Margen und flüchtige Kunden setzen ihr zu. 2011 sank der Gewinn gar.
Lee hasst Abhängigkeit. Sein Vater und später er selber bauten eine riesige Konzerngruppe auf, die jetzt auch in der Bauindustrie etabliert ist und in Dubai das höchste Gebäude der Welt errichtet hat. Über Tochterfirmen und Joint Ventures verkauft Samsung Mode und Autos, besitzt Hotels und Vergnügungsparks, das Konglomerat bietet selbst Panzer, Petrochemie, Schiffe und Versicherungen an.
Das Erfolgsrezept der Koreaner zeigt sich aber vor allem bei Samsung Electronics. Die Sparte übernimmt stets funktionierende Geschäftsmodelle und geht dann mit Hilfe hoher Investitionen in enorme Volumen. Sie nutzt die schnellen Produktwechsel und lockt so mit guten und günstigen Produkten viele Kunden an. Das neue Galaxy S3 gilt technisch als dem Apple-iPhone ebenbürtig.
Massenmarkt, simpler Vertrieb: Davon träumt die Pharmabranche nur. Dort treibt die aufwendige Entwicklung neuer Wirkstoffe die Kosten – diese aber lassen sich nicht durch grössere Volumen senken. Zudem muss Samsung, um ab 2016 mit Nachahmerarzneimitteln etwa für Medikamente von Roche in den Markt zu kommen, in einem komplizierten Geflecht von Krankenkassen, Ärzten, Zulassungsbehörden und Staatsvertretern über neue Medikamente und akzeptierte Preise verhandeln. Dem Konzern fehlt dafür die Erfahrung – genauso wie in der allfälligen Auswahl von Biotechfirmen für Zukäufe. Angesichts sinkender Innovationen bei Arzneien sind Pharmakonzerne aber darauf angewiesen, lukrative Ideen im Markt zu kaufen.
Ähnlichen Problemen begegnet Samsung überall: In der Medizintechnik funktioniert die Massenproduktion, aber der Markt ist kompliziert wie die Pharmabranche. «Wer nicht nah dran ist an den vielen Entscheidern im Gesundheitssystem und ihre Zwänge nicht versteht, hat es schwer, seine Produkte zu verkaufen», sagt Martin Erharter, Partner bei Roland Berger.
Ebenso ergeht es Samsung bei LED-Leuchten für Gebäude, die der Konzern ab jetzt anbietet und für die er mit Architekten und Baufirmen verhandeln muss. Samsungs Schweiz-Chef SangHo Jo erwartet gute Geschäftschancen, sagt aber auch: «Wir waren im Lichtgeschäft auf den Privatkunden orientiert. Dies ist ein neuer Markt, den wir uns erschliessen und verstehen lernen müssen.»
Gegen etablierte Marken wie General Electric, Philips oder Siemens anzutreten, fällt selbst mit guter Marktkenntnis schwer. So kaufen Spitäler lieber das Equipment eines einzigen Herstellers, damit alle Geräte reibungslos zusammenarbeiten. Mit einzelnen Produkten, durch die Samsung etwa im Mobilfunk floriert, lässt sich diese Bastion schwer brechen. Die Märkte für Solarpanels und Windkraftanlagen wiederum haben Anbieter aus China mit Billigware geflutet.
Starke Helfer setzt Samsung dagegen, etwa den Biotech-Hersteller Biogen Idec im Pharmageschäft. Doch schon zeigen sich erste Schleifspuren in solchen Joint Ventures: Der Bund mit dem deutschen Automobilzulieferer Bosch für den Bau von E-Auto-Batterien beispielsweise ist gerade gescheitert. Die Vorstellungen vom richtigen Vorgehen waren zu verschieden. Samsung ist eben kein leichter Partner: Kaum ein Konzern lässt sich so wenig in die Karten blicken.
Von solchen Rückschlägen lässt sich einer wie Lee nicht abschrecken. Nur der Wandel hat für ihn Bestand. «Ändere alles, ausser Frau und Kindern», das ist seine Parole. Die Gründe lieferte er jüngst nach: «Die meisten unserer Produkte gibt es in zehn Jahren nicht mehr», warnte er seine Truppe. Mit seiner Haltung hat Lee, dessen Vermögen vom US-Magazin «Forbes» auf 8,3 Milliarden Dollar geschätzt wird, den nationalen Champion Koreas seit seinem Amtsantritt 1987 zu einem Weltkonzern geformt. Entstanden aus einem Fisch- und Gemüsehändler, erbringt der Chaebol, wie Koreaner ihre dominierenden Mischkonzerne nennen, heute ein Fünftel der Wirtschaftskraft Südkoreas. So wichtig ist Samsung jetzt, dass Koreas Präsident Lee 2010 aus der Haft holte, in die ihn Steuerhinterziehung und Bestechung gebracht hatten.
Solch ein Aufstieg zieht Gegner an. Neuerdings wird Lee von seinem Bruder Lee Maeng-hee verklagt, der sich zusammen mit seiner Schwester ums Erbe betrogen sieht und Samsung-Aktien im Wert von 850 Millionen Dollar fordert. Gelänge ihm der Coup, würde Lees mühsam ineinander verschachteltes Reich wohl zerschlagen, in dem die Firmen so verflochten sind, dass kaum jemand weiss, wie viele Anteile die dominierende Familie hält. Auch gegen Apple zieht Samsung mit eigenen Patentvorwürfen zu Felde und moniert Ideenklau für den schnellen Mobilfunkstandard LTE beim iPhone 5.
Härte und Freiheit. In Lees Alter schwindet die Kraft für solche Kämpfe. Schnell versucht er, seinen Sohn Lee Jae-yong zum Nachfolger aufzubauen. Der 43-Jährige ist Chief Operating Officer (COO) von Samsung Electronics und wurde Ende 2010 zum Präsidenten ernannt. Konzernkenner bezweifeln aber, dass er in der Lage wäre, das Konglomerat so gewieft zu steuern wie sein Vater. Der alte Lee kennt kein Erbarmen – nicht mit Rivalen, nicht mit seiner Truppe. So hielt er den Konzern bislang im Zaum.
Das Feuer brannte hoch, als 2000 Samsung-Mitarbeiter 1995 in der Stadt Gumi auf ihren Fabrikhof kamen. Lee und Verwaltungsräte erwarteten sie unter einem Plakat. «Qualität ist mein Stolz», stand darauf. Vor ihnen lag ein Berg aus Mobiltelefonen, geschätzte 50 Millionen Dollar an Wert. Einige Arbeiter mussten die Geräte nehmen, zertrümmern und ins Feuer werfen. Manche ihrer Kollegen weinten. Lee schaute ungerührt zu. Er hatte zu Weihnachten neue Telefone verschenkt, doch nicht alle funktionierten.
Kompromisslose Härte, aber Freiheit im Detail – darauf begründet Lee seine Erfolge. So hierarchisch Samsung ist, die Führungsspitze achtet auf die Regionen. «Von oben erhalten wir die grobe Linie. Doch in Diskussionen zwischen Konzernexperten und lokalen Managern finden wir für uns passende Lösungen», sagt Schweiz-Chef SangHo. Lees Produktionsstrategie ermöglicht schnelles Handeln: Samsung produziert bis zu 95 Prozent der Produkte selbst, während Konkurrenten von Zulieferern abhängen.
Dadurch hat sich Samsung seit dem Feuerfanal im Mobilfunkmarkt an die Spitze gearbeitet. 2006 erreichten die Koreaner bei Smartphones nur die Hälfte des Marktanteils von Apple – im ersten Halbjahr 2012 schafften sie dank den Galaxy-Modellen 31 Prozent weltweiten Marktanteil, Apple nur 20. In der Schweiz, wo Apple dank der Affinität zur Marke und hoher Kaufkraft sehr gefragt ist, liegt Samsung im ersten Halbjahr auch vorn.
Die neuen Geschäftsfelder sind schwieriger zu erobern, doch die Finanzkraft gibt Samsung Atem dafür. «Massive Investitionen haben den Koreanern geholfen, in anderen Branchen schnell Terrain zu gewinnen», sagt Patrick Flochel, Pharmaexperte bei Ernst & Young. «Ihre finanzielle Stärke ermöglicht Samsung eine Erfolgschance im Pharmamarkt.» Versuch und Irrtum – mit ihrem Cash können sie sich erlauben, viele Marktchancen auszuprobieren.
Willkommen im Samsung-Haus. Wie das geht, hat Samsung im TV-Markt gezeigt. Sony scheiterte am kostspieligen Aufbau einer Massenproduktion für Bildschirme mit organischen Leuchtdioden (OLED). Samsung und LG stehen jetzt kurz vor dem Marktstart der superdünnen und stromsparenden TV-Geräte. «Die OLED-Technik ist ein Meilenstein aus Korea», sagt der Schweizer TV-Experte Albrecht Gasteiner. Kein Wunder, dass Samsung im Markenranking aufsteigt: Unter den begehrtesten Marken weltweit liegen die Koreaner laut dem Analyseinstitut Interbrand auf Rang 9 – nach Platz 17 im vorigen Jahr.
Samsungs Kompetenzen will Lee mit den neuen Branchen verzahnen. Die OLED-Technik hilft im Lichtgeschäft, mit speziellen Tablet-Computern können Spitäler arbeiten. Schon jetzt liefert die Chipsparte Prozessoren für Mobiltelefone und Kameras. Selbst für Apples iPhone ist Samsung Hauptlieferant.
Lees Plan zielt nun auf die Omnipräsenz der Samsung-Geräte. TV-Apparate gehen ins Web, Tablets zeigen Filme. «Das Zusammenspiel ist ein Trend und der Schlüssel für die Zukunft», sagt Schweiz-Chef SangHo Jo. Samsung will ein allumspannendes Netz, Häuser, in denen sich TV, Musikanlage, Mobilgeräte und Sonnenkollektoren auf dem Dach, LED-Lampen in der Decke und Batterieladung fürs E-Auto miteinander verbinden.
Ein Zukunftstraum – aber nur für den Gewinner. «Am Ende bleibt dann nur ein Anbieter übrig, der sich durchsetzt», sagt Francisco Jeronimo vom Marktforscher IDC. Jeder andere bleibt aussen vor, weil er nicht mehr in die vernetzte Wohnwelt passt. Den Anfang eines solch autarken Gebildes, die superleichte Verbindung zwischen Mobilgeräten, schaffte bisher allerdings nur einer richtig: Apple.