Gerade noch rechtzeitig lässt Nick Hart einen nachtblauen Anzug in einer Kabine verschwinden. Es muss ja nicht jeder den mit einer Stecknadel befestigten Zettel mit der Aufschrift «Robbie Williams» sehen. Nick Hart, Gründer und Eigentümer von Spencer Hart, einem Schneideratelier an Londons berühmter Savile Row, ist nicht der Typ, der mit seinen prominenten Kunden hausieren geht. «Yes», bestätigt er dann, was ohnehin jeder weiss. «Robbie Williams bestellt seine Anzüge bei mir. Auch Hemden, Krawatten und Mäntel. Viele Popstars lassen sich ihre Garderobe nach Mass anfertigen. Das hat Tradition, schon Miles Davis trug Bespoke – Massanfertigung.»
Im Schaufenster von Spencer Hart hängt ein schwarzes Sakko mit lang gezogenem, schmalem Revers. Darunter sind ein blütenweisses Hemd mit Haifischkragen und eine höchstens vier Zentimeter breite, mausgraue Krawatte zu sehen. Nicht gerade das, was man unter klassischem britischem Gentleman-Stil versteht. Eher Ray Charles als Prince of Wales. Doch Nick Hart gehört zur neuen Garde der Savile-Row-Schneider. Sein Laden ist cool, er selbst ist cool, die Musik, die er spielt und die ihn inspiriert, ist es ebenfalls. Er ist 47 Jahre alt und von Kleidern besessen, seit er Teenager war. Schon mit 13 jobbte er in einer Schneiderei: «Ich habe zwar nur den Boden gefegt und aufgewischt, dabei aber gelernt, worum es geht», sagt er. Sein Credo lautet: «Es ist wichtiger, dass ein Anzug toll aussieht, als dass er bequem ist.»
Leicht mafiös. Natürlich ist eine Massanfertigung aus Kaschmir niemals unbequem. Doch der betont schmal geschnittene Hart-Look hat nichts Anschmiegsames, er wirkt elegant, streng und leicht mafiös. Nicht umsonst war Hart jahrelang für die Herrenlinie von Kenzo verantwortlich. Als er sich 2002 mit einem eigenen Label an die Savile Row wagte, konnte er kaum mit Zustimmung rechnen, zumal er ein eher unbescheidenes Ziel verfolgte: Er wollte die Strasse neu beleben und die ganze britische Herrenmode gleich dazu. Schnell wurde klar, dass man mit ihm rechnen musste. David Bowie, Tommy Hilfiger und Rugby-Ass Lawrence Dallaglio verliebten sich sofort in seine kultigen Fünfziger-Jahre-Schnitte und zahlten anstandslos 3500 Pfund und mehr für einen massgeschneiderten Anzug.
Die Umsätze bei Spencer Hart waren von Anfang an steigend, ganz gleich, welche Wirtschaftskrise gerade die Welt erschütterte. Dass immer mehr Menschen sich solch teure Kleider leisten, erklärt Hart mit dem zunehmenden Preis-Leistungs-Bewusstsein: «Intelligente Kunden sind es leid, sich über den Tisch ziehen zu lassen. Sie beginnen, die Mechanismen dieser Industrie zu durchschauen. Luxusmarken haben viel Macht, aber wenn ein neues Laden-Outfit und eine neue Werbekampagne finanziert werden müssen, bleibt nicht viel Geld für das Produkt übrig. Es fehlt an Qualität und an Langlebigkeit, doch genau das wünschen sich die Leute.»
Selbst Prada oder Armani werben mittlerweile mit ihrem «Made to measure»-Service. Sie haben verstanden, dass ihre Kunden einen Unterschied sehen möchten, wenn sie schon ein kleines Vermögen auf den Tisch legen. «Wer sich für meine Arbeit interessiert, bekommt als Erstes ein perfektes weisses Hemd», erklärt Hart, «und zum Schluss kann niemand genau sagen, weshalb der Typ in meinem Anzug so rattenscharf aussieht.»
Rattenscharf? Die Zeiten ändern sich an der Savile Row. Zwar gibt es noch einige Massschneider-Ateliers, die sich seit den Anfängen gehalten haben, etwa Henry Poole & Co, Jahrgang 1806, oder Norton & Sons, Jahrgang 1821. Doch direkt gegenüber der Hausnummer 1, wo die Schneider von Gieves & Hawkes seit über 200 Jahren sehr elegante Anzüge fertigen, hat sich der amerikanische Kultladen Abercrombie & Fitch ein beeindruckendes Stadtpalais gesichert, in dem nun durchtrainierte Männer mit nacktem Oberkörper im Eingang stehen und junge Mädchen mit Modelqualitäten an der Kasse. Und am anderen Ende der Row feierten die Zürcher Galeristen Hauser & Wirth im Oktober die Eröffnung ihrer neuen Räume mit einer grossen Louise-Bourgeois-Retrospektive.
Neues Leben. «Das alles ist gut, denn so kommen neues Leben und andere Menschen in unsere Strasse. Wir sind schliesslich kein Museum», so Richard Anderson (Bild), der gegenüber von Spencer Hart sein Atelier betreibt. Auch er gilt als junger Wilder, und doch könnte der Unterschied zu Nick Hart kaum grösser sein. Anderson ist nicht cool, sondern smart, sein Laden ist nicht schwarz getäfelt, sondern hell und einladend, seine Anzüge sind auch fürs Büro geeignet. Er selbst steht fast täglich an einem der Zuschneidetische im hinteren Teil seines Ladens. Neben ihm arbeiten zwei bald achtzigjährige Italiener, die in jungen Jahren als Gesellen nach London gekommen sind und im berühmten Atelier von H. Huntsman & Sons einen Job bekamen. Anderson lernte sie kennen, als er dort seine Lehre begann, siebzehn Jahre alt und ohne Vorstellung von dem, was da kommen sollte. «Es war eine vollkommen neue Welt für mich», erzählt er, «sehr professionell, sehr korrekt, voller Disziplin.»
Er blieb siebzehn Jahre lang, entwickelte seinen eigenen Stil: natürliche Schultern, hoch angesetzte Ärmel, schmale Silhouette. Als H. Huntsman & Sons verkauft wurde und das neue Management einen Richtungswechsel signalisierte, machte er zwei Häuser weiter seinen eigenen Laden auf und nahm die Italiener mit. Das war 2001. Inzwischen beschäftigt er gut dreissig Mitarbeitende und einen Lehrling, der wie jeder an der Savile Row fünf bis sieben Jahre lang ausgebildet wird, bevor er sich Meisterschneider nennen darf. «Arzt wird man schneller», scherzt die Blonde, die gerade Teile eines glänzenden schwarzen Sequin-Sakkos aneinanderheftet und sich des glamourösen Aspekts ihrer Ausbildung durchaus bewusst ist. «Früher war dies ein Handwerk wie jedes andere», sagt Anderson. «Jetzt gilt es als chic, junge Leute wollen den Beruf lernen, ich bekomme jede Woche ein Dutzend Bewerbungen.»
Das mag mit der illustren Kundschaft zusammenhängen. Zu Anderson kommen Kiefer Sutherland und Benicio Del Toro, George Michael und Brian Ferry. «Ich glaube, es geht eher darum, dass wir etwas wirklich Schönes produzieren», meint Anderson, «etwas mit Beständigkeit und Wert. Vor zwanzig Jahren war das irrelevant, aber heute ist es wichtig.»
Elitärer Zirkel. Bestenfalls 500 Anzüge jährlich verlassen sein Atelier, jeder wurde in sechs bis acht Wochen fertig gestellt und ist mindestens 3600 Pfund wert. Der Preis hängt vom Material ab, und hier ist Anderson experimentierfreudig: Unter seinen 5000 Stoffmustern gibt es Kaschmir-Baumwoll-Mischungen, Samt, Denim und Pailletten in lebhaften Farben. Undenkbar früher bei H. Huntsman & Sons. Doch selbst dort, wo einst der Herzog von Windsor und Laurence Olivier Mass nehmen liessen, hat sich der Stil gewandelt. Heute kleidet sich Louis Vuittons Kreativdirektor Marc Jacobs bei Huntsman ein.
Dass die Savile Row ihren Weg ins 21. Jahrhundert gefunden hat, ist einer mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Schneidergeneration zu verdanken, die in den letzten zehn Jahren mit ihren Läden und ihrem Stil eine jüngere und trendigere Klientel anlockte und damit sowohl für Unmut als auch für Aufschwung sorgte. Als Pionier und Wegbereiter gilt Richard James, der bereits 1992 an die Row kam. «Niemand kann sich vorstellen, wie es damals hier aussah», erzählt er, «viele Schaufenster waren mit Stoff verhängt, damit man ja nicht hineinsehen konnte. Die Läden waren schlecht beleuchtet, unbekannte Kunden wurden kaum empfangen. Es war muffig, düster, altmodisch und sehr abschreckend.»
Als James seinen lichtdurchfluteten modernen Laden eröffnete, schlug ihm blankes Misstrauen entgegen. «Die Leute dachten, ich profitierte vom guten Namen der Strasse, um Konfektionsanzüge zu verkaufen», sagt er. «Die Stimmung mir gegenüber war nicht gerade freundlich.»
Inzwischen gehört er zum elitären Zirkel der Savile Row Bespoke Association, einer Vereinigung von echten Schneidern, die allerhand Tests über sich ergehen lassen müssen, bevor sie von der alten Garde als würdige Mitglieder anerkannt werden. «In gewisser Weise zähle ich jetzt zum Establishment», amüsiert er sich, «aber als ich damals als Erster meinen Laden auch am Samstag öffnete und Kunden ohne Verabredung empfing, lachten mich alle aus.» Heute lacht niemand mehr über seine petrolfarbenen Anzüge mit knallrosa Futter oder über die regenbogenfarbigen Seidensocken, die an einer Wäscheleine in seinem Schaufenster baumeln.
David Cameron, Daniel Craig, Paul McCartney und Prince Andrew tragen Richard James’ körpernahe, die Figur umschmeichelnde Anzüge, die oft mit nur einem einzigen Knopf und leicht schräg aufgesetzten Taschen daherkommen. «Wichtig ist, dass ein Mann gut aussieht», sagt er, «dass er Komplimente bekommt, dass sein Selbstbewusstsein gestärkt wird. Das kann und will ich mit einem perfekt geschnittenen Anzug erreichen.»
Schöne Aussichten. Direkt gegenüber von James hängen die nicht minder farbenprächtigen Kreationen von Ozwald Boateng in einem 650 Quadratmeter grossen, ganz in warmem Aubergineviolett gehaltenen Laden.
Boateng kam 1997 als jüngster und erster farbiger Schneider an die Savile Row. Man kann sich die Begeisterung der Nachbarn vorstellen. Doch auch er liess sich nicht beirren und hängte unverdrossen seine burgunder- und smaragdfarbenen Hemden ins Schaufenster. Heute gilt er als Starschneider. Jamie Foxx, Will Smith, Keanu Reeves und David Beckham bestellen seine schmal geschnittenen, oft knallbunten Anzüge. «Ich bin sehr optimistisch, was die Zukunft unserer Strasse anbelangt», sagt er. «Noch bis vor zehn Jahren beherrschten die grossen Modehäuser den Markt. Heute ist Bespoke die führende Mode.» In London jedenfalls.
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