Kleider machen Leute – und die Verpackungen machen Preise. Das hat eine deutsche Bijoutierzeitschrift mit einem Test herausgefunden: Von zwei fast gleichen Verlobungsringen wurde einer in einer Faltschachtel aus schwarzem Karton präsentiert, der andere im Lederetui. Obwohl beide Ringe rund 700 Franken kosteten, schätzten manche Kunden den Pappschachtel-Ring auf 200 Franken. Für den im Lederetui hätten einige 2000 Franken ausgegeben. Es steckt mehr in der Verpackung als nur Inhalt. Warum sonst achten Firmen so minutiös auf ihre Schachteln?
Der US-Luxusjuwelier Tiffany & Co. verwendet seine türkisfarbenen Verpackungen bereits seit 137 Jahren – der Farbton heisst offiziell «Tiffany Blue». Auch Cartier hält am Rot-Ton fest, Rolex an Grün und Chopard an dunklem Blau. Beim Luxushersteller Hermès sind 185 verschiedene Verpackungsgrössen und -formen im Umlauf. Nur eines ist gleich: die Farbe Orange.
Aus Notlösung wird Tradition
Diese war nicht erste Wahl, sondern eine Notlösung im Zweiten Weltkrieg, als der Fabrikant während der Besatzung nur noch orangefarbene Schachteln übrig hatte. Nach der Besatzung wählte die Besitzerfamilie für Hermès ein Orange, das jener Farbe ähnlich, aber in der Beschaffenheit körnig und lebendiger im Farbton war. Heute haben die orangefarbenen Schachteln mit ihren Leinenbändchen sogar einen eigenen Videokanal auf der Firmenwebsite.
«Gerade bei Marken wie Tiffany oder Hermès im Luxussegment ist die Verpackung reines Branding», erklärt Marketingfachmann Bernd Werner von der Münchner Gruppe Nymphenburg. «Ich kaufe eine emotionale Welt, das braucht konsequente Signale: Die Umwelt soll sehen, was ich mir leiste.» Auch wenn man den Inhalt nicht sieht.
«Das Color Coding von Tiffany spielt seine Stärke auch aus, wenn man die Marke nicht kennt. Alleine durch ihre Wertigkeit weckt die Verpackung Begehren: Das Knistern von luftig leichtem Pergamentpapier, eine schwere Box – das sind wichtige haptische und akustische Aspekte. Alles an der Verpackung soll ausdrücken: Wir sind Luxus.» Warum das funktioniert? «Wir sind doch alle emotional getrieben, und Auspacken ist ein höchst emotionaler Vorgang.»
Hirn in der Schachtel
Bernd Werners Firma hat den Bezug zwischen Marketing und Hirnforschung hergestellt. Eine der wichtigsten Beobachtungen: Konsumenten treffen ihre Entscheidungen nicht rational – die Wahl eines Produkts geschieht bei 80 Prozent unterbewusst.
Egal ob Luxus, Schokoladen oder Müesli: Verpackungen werden mit viel Know-how und Kunstfertigkeit zu Mini-Werbeplakaten hochstilisiert, die den Pawlowschen Hund in uns zum Speicheln bringen, obwohl unser Bewusstsein noch gar nicht weiss, ob wir überhaupt nach dem Produkt lechzen.
Bei der perfekten Verpackung «kribbelt es im Bauch»
Catherine Martin bringt es auf den Punkt: «Die Verpackung soll in erster Linie neugierig machen und verführen.» Die Zürcher Art-Direktorin sollte es wissen: Sie wurde von der Werbezeitschrift «Lürzer’s Archive» unter die 200 besten Verpackungsdesigner weltweit gewählt. Die Verführung betreibt die gebürtige Kolumbianerin mit viel Zeit und Aufwand. «Cocooning» nennt sie es, wenn sie sich mit einem Produkt und allen Infos, die sie von der Firma bekommt, und mit ihren eigenen Recherche-Ergebnissen zurückzieht, bis sie eine Verpackung entworfen hat, bei der es «im Bauch kribbelt», weil sie intuitiv sofort verstanden wird.
«Eines darf man nicht vergessen: Begehrlichkeit schafft man auch durch Ehrlichkeit», sagt sie. Etwa durch den Blick auf den Inhalt der Müeslibox oder die Angabe der Herkunft der Kakaobohnen in der Schoggi. Wenn der Auftraggeber zustimmt, arbeitet sie die Feinheiten aus bis zum «Design Freeze», dem Zeitpunkt, an dem nichts mehr geändert wird.
Die Hülle als Mehrwert
Und das alles nur für das schöne Gefühl, etwas Neues, Unbenutztes zu öffnen. Sei es nun die elegante Stoffschleife, die man vom edlen Päckchen zieht, oder die Cellophan-Folie, die man von der CD-Hülle reisst, bevor man sie zum ersten Mal hören kann. Dass die CD-Folie sofort im Müll landet, kann Catherine Martin nicht ausstehen: «Bei meinen Verpackungen möchte ich nicht erleben, dass sie gleich weggeworfen werden. Ich möchte einen Mehrwert schaffen. Der Konsument soll die Verpackung mit nach Hause nehmen oder sie sogar weiterverschenken.»
Solch einen Zusatznutzen sollte ein Unternehmen heute einplanen, so die Zürcherin, denn Kunden seien kritisch und umweltbewusst. Deshalb darf das Produkt nicht enttäuschen – Garant dafür ist eine gut gemachte, ehrliche Verpackung. «Sonst würde es ja nicht weiterempfohlen», so Martin.
Schutz und Schönheit im Kombination
Mehrwert sieht sie gern bei Produkten. Sei es die Flasche, die man wiederverwenden kann, die schöne Schachtel, die man immer wieder anfassen will, ein schönes Etikett, das, etwa bei Gin, fast künstlerisch daherkommt. Trotz aller Gestaltung: Verpackungen sollen zuerst den Inhalt schützen. «Es geht um Logistik, um Stapelbarkeit. Viele Produkte benötigen einen Schutz», sagt Martin.
Auch wenn die Verpackung gleich nach dem Kauf in den Müll wandere, sei es keine gute Idee, sie wegzulassen, sagt auch Guido Glanzmann: «Tragen Sie mal einen Flachbildschirm ohne Verpackung nach Hause.» Glanzmann, ein grosser Mann mit Lockenkopf und ehrlichen Augen, leitet das Familienunternehmen Glanzmann Verpackungen in vierter Generation. Die Firma in Scheuren bei Biel verhüllt Basler Leckerli, die Uhren von Kari Voutilainen und edle Schokolade.
Aufwändige Handarbeit
Glanzmanns Verpackungstechniker übertragen mit Computerprogrammen die Kundenwünsche auf Karton: neben den groben Rohkartonagen à la Manufactum – auf Maschinen, die heute nicht mehr hergestellt werden, wie Glanzmann erklärt – auch SIM-Karten-Verpackungen mit Aufreiss-Sicherung und Werbeaufsteller oder Schachteln für die Uhrenindustrie. Glanzmann nimmt eine der kleinen Schachteln vom Stapel vor dem Fliessband und zeigt die einzelnen Arbeitsschritte. «Vieles in der Verpackungsindustrie ist noch Handarbeit», erklärt er und deutet auf drei Frauen, die Aufsteller für Bahnkarten falten.
Die ersten Kartonschachteln stellten Frauen in Heimarbeit von Hand her. Das Musée du Cartonnage et de l’Imprimerie im südfranzösischen Valréas stellt Pappschachteln zum Transport von Seidenraupenlarven von Mitte des 19. Jahrhunderts aus. Seide war damals eine blühende Industrie in Frankreich. Auch Pharmazeuten nutzten solche Boxen. Die Automatisierung der Herstellung machte die Hausfrauen bald arbeitslos. Der Beruf der Schachtelmacherin, heisst es im Museum, sei mittlerweile ausgestorben.
Schachtelmachen als Kunst
Dieser Behauptung widerspricht Cosette Dion vehement. Sie hat das Schachtelmachen zur Kunst erhoben, sie ist Massschneiderin und die Letzte ihrer Zunft, die alle Verpackungen komplett von Hand herstellt. «Als ich auf dem Gewerbeamt war, um mich selbständig zu machen, sagte man mir, dass es das Berufsbild der Schachtelmacherin nicht mehr gebe», erzählt die resolute 50-jährige Chilenin und legt als Gegenbeweis ein paar ihrer Produkte auf den Schreibtisch in ihrem winzigen Passagengeschäft Hemingbird in der Pariser Rue Montmartre.
Sie fertigt Boxen mit Zwischenboden oder Geheimfach, mit Knauf oder Bommel, mit Einschubfach, eckige oder runde, in Aussehen und Grösse den Wünschen der Kunden angepasst. Ausgeschlagen werden sie mit Fotos, Drucken oder gemusterten Papieren, die sie zum Teil aus Japan bezieht. Als Hülle verwendet sie dickere Papiere, geprägt wie Rochenhaut oder Leder oder mit künstlerischen Mustern versehen. Nur eines ist immer gleich: Die Schachteln bestehen aus zwei bis drei Millimeter dickem Karton, den Dion mit einem alten Messer in schnellen Schnitten zuschneidet, vorfaltet, faltet und dann mit den ausgewählten Papieren bezieht.
Schöne Schachteln auch bei Dieben beliebt
All das hat sich Dion selbst beigebracht. Als Kind faltete sie stundenlang Origami. Im Schachtelmuseum stellte sie fest, dass ihre eigene Technik exakt jener entspricht, mit der früher die Boxen für die Seidenraupen gemacht wurden.
Als sie in den neunziger Jahren ihren Job als Managerin von Petit Bateau in Paris kündigte, kam ihr die Idee, französischen Tee in ihre alte Heimat Chile zu exportieren. Sie füllte ihn in selbst gemachte Schachteln und schickte grosse Koffer über den Atlantik. In Chile angekommen, öffnete sie die Koffer und war entsetzt. Der wertvolle Tee war noch da, aber alle ihre handgemachten Schachteln: gestohlen!
Pariser Luxushotel beschenkt Stammkunden mit kunstvollen Schachteln
Diese ungewöhnliche Anerkennung ihrer Arbeit brachte Dion auf die Idee, ein Schachtelgeschäft in Lyon zu eröffnen. Dort kämpfte sie oft damit, dass die Kunden den Wert einer Verpackung nicht erkannten. «Für eine meiner Schachteln müsste ich mindestens 70 Euro verlangen, aber leider bezahlt das niemand.» Sie erzählt von einem Chocolatier, der nicht gewillt war, den Preis zu bezahlen. «Ich habe ihm erklärt, dass meine Arbeit nicht weniger Kunst sei als seine Schokolade.» Der Auftraggeber zahlte.
Heute beliefert sie auch ein Pariser Luxushotel, das Schachteln als Geschenke für die Stammkunden ordert. «Meistens werden die Leute aber durch meine Origami-Kunst auf den Laden aufmerksam. Dann verkaufe ich etwa Ohrringe und verpacke sie in eine Schachtel.» Ihre Kunden sähen schnell, dass ihre Verpackungen viel zu schade zum Wegwerfen seien.
Die perfekte Schachtel gleitet
Wie sieht eine gut gemachte Schachtel aus? «Es gibt viele Details», erklärt Dion und nennt ein Manko: «Viele Luxushersteller machen zwar sehr schöne Boxen, aber kaum einer kleidet die Innenseite extra aus. Aber ob ein Karton technisch gut gemacht ist, sehe ich, indem ich den Deckel einfach aufsetze. Wenn er von selbst langsam nach unten gleitet, dann ist es eine perfekte Schachtel», sagt Dion. Sie zieht ihre langen schwarzen Haare durch die Finger und schiebt hinterher: «Da könnte ich stundenlang zusehen.» Wer nur auf den Inhalt schaut, verpasst hier tatsächlich das Beste.