Am Anfang stand der Wunsch, sich als Autorinnen für Menschen auf der Flucht einzusetzen. Mit «Literatur für das, was passiert» initiierten Gianna Molinari und Julia Weber nicht nur ein solidarisches Künstlerprojekt, sondern auch ein reizvolles Literaturformat ohne Delete-Taste.
Sie sitzen hinter den mitgebrachten mechanischen Schreibmaschinen und warten auf Bestellungen des Publikums: Welches Thema hätten Sie denn gern? Ein Brief an eine Freundin, ein Gedicht oder gar ein Pamphlet? Keine Stunde später hält die Bestellerin oder der Besteller den Auftragstext in Händen - gegen einen Obolus, der an ein Hilfsprojekt für Flüchtlinge fliesst.
Gestandene Namen
An den Auftritten von «Literatur für das, was passiert» an Buchfestivals, Benefizabenden und Veranstaltungen machen mittlerweile zahlreiche Autorinnen und Autoren mit - unter ihnen gestandene Namen wie Ruth Schweikert oder Tim Krohn.
So kamen seit vergangenem Herbst mehrere Tausend Spendenfranken zusammen, deren Verwendung Julia Weber in einem kleinen Notizheft fein säuberlich von Hand auflistet. Ihr und Mitinitiantin Gianna Molinari geht es jedoch nicht nur um das Geldsammeln für einen guten Zweck.
«Wir wollen Literatur im öffentlichen Diskurs einsetzen und zeigen, dass wir als Kollektiv mit Kunst etwas erreichen können», betont Gianna Molinari. Ihren Lebensunterhalt verdient die 28-jährige Autorin als Programmassistentin der Solothurner Literaturtage und mit freien Aufträgen.
Julia Weber ihrerseits betreibt als Brotjob den «Literaturdienst» - auch hier ist die portable mechanische Schreibmaschine ihr Markenzeichen. Dabei bietet sich die 32-Jährige gegen Bezahlung als schreibende Beobachterin für private Anlässe an - zum Beispiel an Hochzeiten oder Geburtstagsfeiern.
Auch Unfertiges vorzeigen
Kennengelernt haben sich die beiden jungen Frauen vor mehreren Jahren beim Studium am Literaturinstitut in Biel. Die Idee zum Format des Schreibens auf Abruf ist zwar nicht dort geboren, aber wer dort studierte, sei einen ständigen Austausch gewohnt, meint Julia Weber: «Es fällt uns leichter, etwas Unfertiges vorzuzeigen und das im Moment entstandene auch als Literatur zu bezeichnen».
Sind denn diese spontan entstandenen Texte überhaupt als Literatur zu verstehen? Mit dieser Frage können die beiden wenig anfangen. «Alle, die beim Projekt mitmachen, üben den Schriftstellerberuf aus. Sie tun es hier einfach in einem anderen Format als üblich», sagt Gianna Molinari.
Natürlich könne man das spontane Auftragsschreiben nicht mit der Arbeit an einem Roman vergleichen. «Das Reizvolle an diesem schnellen Format ist eben gerade, dass man es nicht überarbeiten kann und auch Tippfehler mit drin bleiben.» Zur Ästhetik gehört auch der Kohlepapier-Durchschlag, den die Verfasser für sich behalten.
Mit oder ohne Notizen
Darüber hinaus habe jeder seine eigene Herangehensweise an den Text. Einige machten sich zunächst handschriftliche Notizen, bevor sie den Text auf der Schreibmaschine in Form bringen. Andere halten einen Moment inne, bevor sie auf die Tastatur hauen, auf der es keine Delete-Taste gibt.
Für Julia Weber ist das Format mit der Authentizität des «Automatischen Schreibens» vergleichbar, bei dem Bilder und Gefühle möglichst unzensiert wiedergegeben werden. «Wie beim Notieren in mein Notizbuch komme ich in einen Zustand des Schreibens, in dem es keine Überarbeitung gibt.»
Direkter Kontakt mit Publikum
Den Autorinnen und Autoren, die am Projekt mitmachen, gefalle auch die unmittelbare Reaktion des Publikums. Der direkte Kontakt sei gerade auch deshalb spannend, «weil viele Leute die Vorstellung vom Schriftsteller haben, der jahrelang am Schreibtisch sitzt und grübelt.»
Dazu kommt, dass es für viele Menschen nicht alltäglich ist, einen nur für die eigene Person verfassten Text zu erhalten. Die Reaktionen des Publikums fallen denn auch sehr unterschiedlich aus. Während einige das Couvert, in dem sie den bestellten Text erhalten, einstecken und später lesen, wollen andere das Resultat sofort sehen.
Beide Autorinnen sahen sich dabei auch schon mit starken Emotionen konfrontiert. Julia Weber erzählt von einer Frau, die, nachdem sie den bestellten Brief an eine Freundin gelesen hatte, ihr mit Tränen in den Augen um den Hals gefallen sei. «Ich habe offenbar etwas getroffen, das sie sehr berührt hat.» Dabei sei es kaum um eine «geniale Formulierung» gegangen, sondern um ehrliche Worte der Zuneigung zu einer nahestehenden Person.
Beide kennen aber auch Momente des Schreibstaus und der Blockade vor dem leeren Blatt. In solchen Situationen zeige sich ein weiterer Vorteil des Kollektivs, sagt Gianna Molinari. «Wenn man merkt, das wird nichts, gibt man den Text an eine Kollegin oder einen Kollegen weiter.»
(sda/ccr)