Montag, 22. Juni, 12 Uhr im Mythencenter Schwyz. In der Shopping Mall herrscht gähnende Leere. Kaum jemand stöbert zwischen den Kleiderständern herum. Auch an den Wühltischen reissen sich die Kunden die Ware nicht aus den Händen. Und in den Restaurants hat es noch reichlich Platz zur Verköstigung.

Ganz anders schräg vis-à-vis. Im Swiss-Army-Knife-Laden von Victorinox drängeln sich die Kunden. Der Laden besticht durch ein modernes Design und schöne Auslagen. In rund 150 verschiedenen Modellen ist allein das Sackmesser zu haben, darunter das legendäre Swiss Army Knife, im Ausland der grosse Renner. Daneben bietet der Shop Haushalt- und Berufsmesser, aber auch Uhren aus eigener Produktion an.

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Gleich hinter dem Laden wechselt die Szenerie. Der Empfang im zweiten Stock ist eng und etwas aus der Mode. Die Botschaft könnte eindeutiger nicht sein: Hier wird gearbeitet und nicht geprotzt. Schon von weitem ist das Dröhnen und Stampfen der Maschinen zu hören. In den weiten Werkhallen wird der Stahl gestanzt, gehärtet, geschliffen und zu Sackmessern montiert – grösstenteils auf Montageautomaten. «Wir machen praktisch alles selbst», sagt Firmenchef Carl Elsener. Auch die Griffe der Messer werden an Spritzgiessmaschinen inhouse hergestellt. Neben dem Stahl und dem Granulat wird nur weniges zugekauft. Etwa die rohen Zapfenzieher fürs Schweizer Offiziersmesser und gewisse Kleinteile.

Der grosse Gebäudekomplex der Messerfabrik beherrscht den Schwyzer Talkessel unübersehbar. Offensichtlich ist, dass es der Region nur gut geht, wenn es der Firma gut geht. «Wir sind einer der grössten Steuerzahler», sagt Elsener. Was wohl eine leichte Untertreibung ist. Victorinox beschäftigt an Ort 900 Angestellte, die täglich 28  000 Messer produzieren. Die Firma hat in ihrer 125-jährigen Geschichte insgesamt 400 Millionen Messer hergestellt. Sie ist die grösste Messerfabrik in Europa und die grösste private Arbeitgeberin im Kanton Schwyz. Ibach, auf dessen Grund die Fabrikanlagen stehen, hat rund 4000 Einwohner und gehört wie Seewen und Rickenbach politisch zur Gemeinde Schwyz. Rund 700 der Angestellten wohnen im Talkessel von Schwyz, wie die Region lapidar heisst, kommen also aus der engeren Umgebung. Selbst ein Grossteil des Kaders und insbesondere die Eigentümerfamilie Elsener haben traditionell hier Wohnsitz.

Klumpenrisiko. So wie Victorinox in Schwyz existieren quer durch die Schweiz unzählige kleine Gemeinden, in denen grosse Unternehmen angesiedelt sind. Ganze Talschaften und Regionen sind so auf Gedeih und Verderb von einer Firma abhängig. Trudelt diese in die Krise, dann trifft es die Region besonders hart. Den Gemeinden gerät das Haushaltsbudget ausser Kontrolle, das lokale Gewerbe verliert Aufträge und der Detailhandel Umsatz. Auch die Vereine müssen sich einschränken und andere Finanzquellen finden. Andererseits verschaffen die meist international tätigen Firmen den Gemeinden ein nicht zu unterschätzendes Renommée. Ibach hat es nicht zuletzt dank Victorinox zu einer gewissen Berühmtheit gebracht.

Die derzeitige Krise hat auch Victorinox nicht verschont. Doch für Firmenchef Elsener kommt ein Personalabbau nicht in Frage. «Noch nie ist bei uns jemand aus wirtschaftlichen Gründen entlassen worden», sagt er mit einigem Stolz. Der Grund liege in der nachhaltigen Personalpolitik, welche die Firma von jeher verfolge. In den Boomjahren habe man nicht einfach Leute eingestellt. «In dieser Zeit», sagt er, «waren wir zurückhaltend mit der Werbung, aber auch mit neuen Produkten.»

«Victorinox ist ein Familienbetrieb, der von der christlichen Ethik geprägt ist», sagt der Schwyzer Gemeindepräsident Stephan Landolt. Eine solche Firma stelle die Leute nicht einfach auf die Strasse. Dazu kommt, dass das Unternehmen eine wichtige Rolle bei der Integration der Ausländer spielt – gerade weil in der Firma der Mensch als Persönlichkeit behandelt wird. «Deshalb», so Landolt, «haben wir im Gegensatz zu anderen Gemeinden wenig Probleme mit den Ausländern.»

Beste Steuerzahler. Landolt betont, welche Bedeutung die Firma für die Gemeinde Schwyz und den Talkessel hat – nicht nur weil sie die wohl beste Steuerzahlerin ist. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre hat die Firma jährlich eine Lohnsumme von 43 Millionen Franken an die Mitarbeiter ausbezahlt, die im Talkessel wohnen. Sie investiert im Jahr 6,9 Millionen Franken ins regionale Gewerbe. «Viele Projekte», so Landolt, «hätten ohne Victorinox gar nie realisiert werden können. Eines davon war das Mythen-Forum, das regionale Tagungs- und Kulturzentrum in Schwyz. Oder das Projekt Swiss Knife Valley, eine Aktiengesellschaft, die den Talkessel und die Umgebung (Sattel-Hochstuckli, Mythengebiet und Muotatal) touristisch vermarkten soll.

Nicht ganz unwesentlich sind die Unterstützungs- und Sponsoringbeiträge an die Talschaft. «Es gibt in der Gemeinde kaum einen Verein, der nicht schon von uns unterstützt wurde», sagt Elsener. Insgesamt wendet die Firma in der Region dafür 650  000 Franken für Sponsoring auf. 400  000 Franken gehen an kulturelle und soziale Vereine wie Kinderkrippen, der Rest fliesst in den Sport. Für Elsener ist klar: «Solche Investitionen sind gerade in einer Krise besonders wichtig.»

In diesem Punkt fährt der Industriemöbelhersteller Lista in Erlen TG einen rigideren Kurs. «Wir haben das Budget fürs Jahr 2009 krisenbedingt gekürzt», sagt CEO Fred Gamper. Der Aufwand fürs Sponsoring war zwar auch bis anhin bescheiden. Doch hat sich die Firma bei Anfragen etwa des Schützenvereins, des Jassclubs oder von Sportvereinen nie knauserig gezeigt. Ein Schubladenschrank aus eigener Produktion für die Tombola lag da schon mal drin.

Sparschraube. Doch jetzt zieht das Management die Sparschraube an. Nach einem sensationellen Geschäftsjahr 2007/08 kam im letzten Dezember der Einbruch. «Der Geschäftsgang ist gegen Ende Jahr regelrecht eingebrochen», sagt Gamper. So sind Aufträge und Umsatz zwischen Dezember und Januar beinahe 40 Prozent zurückgegangen. Das Geschäft mit Schränken, Rollregalen und Lagersystemen sei extrem kurzfristig, der Auftragsbestand garantiert maximal sechs Wochen Arbeit. Schon im September 2008 hat sich die Firma von 30 Temporärmitarbeitern getrennt, dennoch waren Entlassungen von 40 Festangestellten zu Beginn des Jahres unvermeidlich.

Den Unbilden der Lage zum Trotz hat Gemeindeammann Roman Brülisauer nur lobende Worte für die Firma. Schliesslich beschäftigt diese 300 Mitarbeiter im 3000-Seelen-Dorf. Rund ein Fünftel des Personals wohnt in Erlen, der Rest in einem Umkreis von zwanzig Kilometern. In den letzten Jahren hat die Gemeinde von den Steuereinnahmen stark profitiert, 2008 gar einen Überschuss verbucht. Das Steueraufkommen von Lista hat sich in den letzten zwei oder drei Jahren auf insgesamt 3,7 Millionen Franken verdoppelt. «Aber 2010/11 wird es krachen», sagt Brülisauer. Er rechnet mit markanten Steuerausfällen – nicht nur die Firma verdient weniger Geld, auch die Lieferanten und die Mitarbeiter liefern dem Fiskus weniger Geld ab.

«Lista hat ein grosses Potenzial», sagt Andreas Emödi, Head Corporate Strategy von Lista. In der jüngsten Vergangenheit sei dieses nicht voll ausgeschöpft worden. Die Produktpalette war zu breit. «Wir haben sogar Veloständer vermarktet», sagt Emödi. Nun gilt es, das Sortiment zu straffen und neue Märkte zu erobern. Lista will sich mittelfristig auf das Kerngeschäft, ein breites Sortiment von Schubladenschränken, konzentrieren und sich neue Marktsegmente wie Spitäler, Museen und den Hobbybereich erschliessen.

«Wir wollen die Arbeitsplätze in Erlen langfristig sichern», sagt Gamper. Das sei für den Thurgau ausserordentlich wichtig. Schliesslich komme die jährliche Lohnsumme von 19 Millionen Franken direkt oder indirekt Gemeinde und Region zugute. Deshalb hat das Management auch eine Reihe von kurzfristig greifenden Massnahmen in die Wege geleitet. Dazu gehört, dass die Kadersaläre um bis zu 20 Prozent gekürzt wurden – ein einstimmiger Beschluss, wie Gamper betont. Im Markt will die Firma zusätzlich 30 Millionen Umsatz generieren. Dafür wurden neue kostengünstige Produkte entwickelt. Effizienzsteigerungen sollen nochmals acht Millionen Franken an Einsparungen bringen.

Lukrativer Partner. Das grösste Geschenk bereitete Lista der Gemeinde indessen, als sie eine Vermittlerrolle bei der Ansiedlung von Stadler Rail in Erlen spielte. Das Projekt ist spruchreif. Stadler baut in Bahnhofsnähe die Inbetriebsetzungshalle für ihre Zugkompositionen. Nach Angaben der Gemeinde sollen 40 bis 60 qualifizierte Arbeitsplätze entstehen. Dennoch betreibt die Gemeinde keine forcierte Industriepolitik. «Wir wollen unseren ländlichen Charakter beibehalten», sagt Brülisauer. Noch beherbergt Erlen rund 15 Bauernhöfe. Fast 18 Prozent der Beschäftigten arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft. Lista ist selbstverständlich auch fürs lokale Gewerbe ein lukrativer Partner. Rund ein Fünftel des Einkaufsvolumens oder 45 Millionen Franken gibt die Firma in der Region aus.

In Erlen arbeiten fast 50 Prozent der Beschäftigten in der Industrie – ein enorm hoher Wert. Im ländlichen Kanton Thurgau selbst arbeiten 35 Prozent der Beschäftigten in der Industrie. Im schweizerischen Durchschnitt sind nur rund 25 Prozent im zweiten Wirtschaftssektor beschäftigt. Im Bergkanton Obwalden sind es 36 Prozent und im Jura 39 Prozent. Fazit: Es sind vorab kleine ländliche Kantone, die den Kern der Schweizer Industrie ausmachen (siehe Grafik im Anhang).

Dies gilt im Besonderen für den Kanton Glarus. Seit der Frühindustrialisierung ist er der Industriekanton schlechthin. Fast 42 Prozent der Beschäftigten sind im zweiten Sektor tätig. Kein Wunder, leidet der Kanton unter der scharfen Rezession. Noch nie zuvor sind die Exporte der Industrie in so kurzer Zeit derart krass zurückgegangen. Kurzarbeit und Entlassungen sind auch im Glarnerland an der Tagesordnung, die Zahl der Arbeitslosen steigt.

Bei Netstal-Maschinen ist der Auftragseingang im Kerngeschäft, den Spritzgussmaschinen, in den ersten Monaten um 50 Prozent eingebrochen. Über alle Bereiche gesehen beträgt das Minus 20 bis 25 Prozent. Die 152-jährige Firma musste in zwei Wellen insgesamt 78 Mitarbeiter entlassen – ein tiefer Schnitt für die Standortgemeinde Näfels. «Im Dorf sind die Zeiten grossen Wachstums vorbei», sagt Gemeindepräsident Bruno Gallati. Die Einwohnerzahl des Dorfes stagniert bei rund 4000.

Selbstredend ist die Gemeinde mit der Netstal sehr eng verzahnt. Das Unternehmen beschäftigt am Hauptsitz 550 Mitarbeiter. «Ein Viertel dieser Mitarbeiter wohnt in Näfels oder im Nachbardorf Mollis», sagt CEO Bernhard Merki. 70 Prozent der Belegschaft wohnen im Kanton, der Rest seien aussserkantonale Pendler. «Der Kanton», so Merki, «ist stark von Netstal abhängig.» Wobei Merki keine Zahlen nennt.

Im Kanton jedenfalls hat die Netstal als grösstes privates Unternehmen viele Abhängigkeiten geschaffen. Die Firma beschafft 50 Prozent des Umsatzes von externen Quellen. «Über 300 Firmen sind für uns im Kanton tätig», sagt Merki. Die Goethe AG etwa, eine Metallwarenfabrik in Glarus, ist vom rückläufigen Auftragseingang betroffen. Firmeneigentümer Roland Goethe rechnet mit einem Minus von 20 Prozent in diesem Jahr. Besonders stark abhängig ist die CNC-Süssli in Glarus, die mechanische Teile fertigt. 40 bis 50 Prozent der Aufträge stammen von Netstal, die Umsatzeinbusse bewegt sich laut Aussagen von Emil Süssli in denselben Dimensionen.

«Auch Hotels und Restaurationsbetriebe profitieren von der Netstal», sagt Gallati. Denn 90 Prozent der Produktion gehen in den Export. «Wir haben immer viele internationale Kunden im Haus», sagt CEO Merki. Übers Jahr gerechnet sind dies rund 2000 bis 3000 Kunden, die in der Umgebung eine oder mehrere Nächte logieren. Dazu kommen die Schulungskurse an den komplexen Spritzgiessmaschinen, die vier Tage dauern. Es sind einige hundert Personen pro Jahr, die in Näfels auf die Maschinen eingefuchst – und in der Kantine verpflegt – werden.

Hohe Transparenz. «Wir haben immer Wert darauf gelegt, mit lokalen Partnern zu arbeiten», sagt Merki. Dies wirke sich in der Rezession halt negativ aus. Die guten Beziehungen zu Kanton und Gemeinde hat dies nicht tangiert. «Die Behörden jedenfalls mussten den Stellenabbau nicht der Zeitung entnehmen», sagt Merki. Der Informationsfluss insbesondere zum Dorf bleibe intakt, was in den kommenden schwierigen Zeiten speziell wichtig sei.

Ein speziell enges Verhältnis pflegen die MDC Max Daetwyler AG und das Dorf Bleienbach im Berner Oberaargau. Der grosse Fabrikkomplex liegt etwas ausserhalb des Dorfes beim Flugplatz. So ist der ländliche Charakter des Dorfes mit seinen stolzen Riegelbauten und den rund 700 Einwohnern weitgehend erhalten geblieben. Das Dorf wird im Milizsystem geführt, der Gemeindeammann ist einer der 20 Landwirte im Dorf, der Vize betreibt die lokale Schreinerei. Keine Firma im Dorf beschäftigt mehr als zehn Mitarbeiter.

Die grosse Mehrheit der 340 Daetwyler-Angestellten am Standort Bleienbach kommt aus der näheren oder weiteren Umgebung. Dasselbe gilt für den Ableger im nahe gelegenen Ursenbach. Dennoch geniesst das Dorf einige Privilegien. Junge Bleienbacher werden bei der Lehrstellensuche bevorzugt behandelt. Insgesamt bildet die Firma rund 50 Lehrlinge aus. Die Steuern der Daetwyler sind für die Gemeinde ein willkommener Zustupf. «Deshalb», sagt Vize-Ammann Ernst Gerber, «stehen wir als kleine Landgemeinde finanziell gut da.»

In Bleienbach ist die Daetwyler seit 1951 ansässig. Zuerst im Flugzeugbau aktiv, wandte sie sich später dem grafischen Gewerbe zu. Heute produziert die Firma Maschinen für die Herstellung von Tiefdruckzylindern. Als zweites Standbein fertigt sie hochpräzise Rakeln, geschliffene Metallbänder, die bei den Tiefdruckzylindern die Farbe abstreifen. Und als Drittes ist sie im Präzisionsmaschinenbau tätig, wo sie im Auftragsverhältnis für Kunden Maschinenteile fertigt oder ganze Maschinen zusammenbaut.

Patron Peter Daetwyler, der zum Familienunternehmen keine Zahlen veröffentlicht, rühmt die Gemeinde in den höchsten Tönen. Gerade jetzt steht die neue Produktionshalle mit einer Fläche von 10  000 Quadratmetern vor der Vollendung. «Die Kooperation mit den Behörden ist vorbildlich», betont er. Die Baukosten betrugen zwölf Millionen, es kam vorab das regionale Baugewerbe zum Zug. Regelmässig hat Daetwyler auch Aufträge für das Transportgewerbe in der Umgebung. Aus dem Betrieb in Ursenbach, wo die Grossfräsen stehen, müssen die tonnenschweren Maschinenteile zur Weiterverarbeitung nach Bleienbach transportiert werden.

Die 45 Entlassungen waren für den Chef, der fast alle Mitarbeiter persönlich kennt, keine einfache Entscheidung. Froh ist er darüber, dass bereits 60 Prozent wieder eine Stelle haben. «Die Stammbelegschaft will ich möglichst halten», sagt er. 70 Prozent unter ihnen sind qualifizierte Berufsleute. Die anhaltende Flaute benutzt er nun, die Produktionsanlagen auf Vordermann zu bringen und die Gebäude zu sanieren. Nach den Sommerferien startet die Firma ein breit angelegtes Ausbildungsprogramm. «Im Zentrum», sagt Peter Daetwyler, «stehen Fach- und Sprachkurse.» Die Firma lässt sich von der Krise nicht einfach überrollen.