Schluss ist schon kurz vor der Zieleinfahrt. Der Audi R18 bremst zu spät, fliegt aus der Kurve, prallt gegen die Bande und bleibt liegen. Dellen an der Motorhaube, Spoiler kaputt. Stimmen der Enttäuschung werden laut. In die Männergruppe am Pistenrand kommt Bewegung. Das Autowrack muss weg, das Rennen muss weitergehen.
Eingedrückte Fronthauben, zerfetzte Kotflügel, sogar Totalschäden sind in Dottikon im Erdgeschoss der alten Bally-Schuhfabrik keine Seltenheit, doch man weiss mit Unfällen umzugehen. Hier dreht der S.B.S. Slot Racing Club Dottikon seine Runden. Hier sitzen die Profis des Rennsports – en miniature.
Slotcar Racing heisst das, was für viele ein Hobby, für manche Lebenseinstellung ist. Das Rennmaterial: Autos im Massstab 1:32. Die Rennbahn: fünf Fahrschlitze, «Slots», auf einer rund 40 Meter langen Piste aus Spanplatte. Die Rennfahrer: Männer zwischen 40 und 70 Jahren. Ertönt das Startsignal, drücken die Fahrer den Gashebel am Handregler durch, die Wagen rasen los. Wer aus der Kurve fliegt, ist raus aus dem Rennen. Race and burn – dazwischen gibt es nichts. Zwar muss auf Benzingeruch, verschmorten Reifengummi und das Driften in den Kurven verzichtet werden, dafür ist der Clubname S.B.S. – Spass beim Slotten – Programm.
Benzin im Blut
Patrick Studer, Schnauz, Brille, dichtes graues Haar, hat Benzin im Blut, den Autobazillus, wie er sagt. Jeden Freitag ist er hier. Seine Leidenschaft für schnelle Fahrzeuge weckte die elektrische Eisenbahn. Studer bekam sie als Bub geschenkt, manchmal spielt er heute noch damit. In den Sechzigern machten in Luzern aber die ersten Slotcar-Hallen auf. Der achtjährige Studer liess sich dort das Sackgeld aus der Tasche ziehen: acht Minuten fahren für einen Franken.
Doch die Mini-Rennwagen reichten ihm nicht: In den siebziger und achtziger Jahren fuhr er richtige Rennen, Formel 2 und 3. 1978, mit 26 Jahren, war er Schweizer Meister in der Formel 3. Er weiss, wie sich Hunderte PS unter dem Hintern anfühlen. Heute beschleunigt der gelernte Automechaniker seine Slotcars auf maximal 25 km/h. «Um die Geschwindigkeit zu spüren, musst du das Auto genau im Auge behalten, sehen, wie es in der Kurve liegt, es fühlen.»
Männer weinen schon mal
Später, nach der Rennfahrerkarriere, machte er den Pilotenschein, ging als Navigator zur Swissair, danach zur Lufthansa. Heute fährt der Pensionär Oldtimer-Rennen, mit einem Freund teilt er sich einen Ford Cortina. Trainiert wird auf dem deutschen Hockenheimring. In der Slotcar-Szene startete Studer vor 20 Jahren durch. «Es ist ein Hobby, das mich nicht mehr loslässt», sagt er. Es geht um die «Competition» – und viel mehr: In Kleinstarbeit werden die Wagen zusammengebaut, geschliffen, justiert, bis alles stimmt, das Chassis perfekt eingestimmt ist, der Wagen über die Rennstrecke flitzt und die Konkurrenz alt aussehen lässt. «Wir wollen unter Gleichgesinnten sein und gewinnen! Nur deswegen kommen wir her», sagt Studer.
Regungslos stehen fünf Männer am Rennbahnrand. Die Zeigefinger zucken am Handregler. Angespannte Stille herrscht, nur die Slotcars surren nervös. Niemand regt sich, kein Seitenblick wird mit den Gegnern gewechselt. Wie hypnotisiert starren die Männer auf die Rennbahn, fahren Kurve um Kurve mit den Augen mit. Gas, Bremse, Gas. Besonders die Schikanen sind gefährlich. In deren scharfen Kurven wirft es die meisten Wagen raus. «Dann sieht man Männer schon mal weinen, denn vom Auto ist manchmal nicht mehr viel übrig», sagt Thomas Umbach. Als Rennleiter des Abends gibt er aus einem Kabäuschen heraus per Mikrofon das Startzeichen und warnt, wenn die letzte Minute anbricht.
Pro Rennen treten fünf Fahrer gegeneinander an. Zwischen drei und fünf Minuten dauert ein «Turn» auf der Strecke, dann ordnet Umbach den Spurenwechsel an. Erst wenn jeder seinen Wagen über jede Spur gejagt hat, ist das Rennen vorbei. Auch der Spurenwechsel ist geregelt: Von 1 auf 3 auf 5 auf 4 auf 2. Der Sieger erhält pro Lauf fünf Punkte, die anderen vier, drei, zwei und einen. Gesamtsieger wird, wer insgesamt am meisten Punkte erfährt. Die Bestzeiten liegen um die sieben Sekunden pro Runde.
Von Frauen belächelt
Der Schwabe Umbach arbeitet bei der Credit Suisse als IT-Controller. Der Freitagabend im Club ist ihm heilig. «Hier kann ich rauchen, Bier trinken und den Abend unter Männern verbringen. Kein Kindergeschrei. Meine Frau respektiert das», sagt er. Auf seinem Handy zeigt er Bilder seiner Wagen in allen Bauphasen: erst die nackte Karosserie, dann wird grundiert, später geschliffen, wieder grundiert und lackiert. Danach werden die Decals – Logos und Markennamen – angebracht. Zum Schluss der Klarlack. «Dann fängt der Spass erst richtig an», sagt Umbach, zeigt auf den winzigen Tankdeckel, den Auspuff und den Rennfahrer – so gross wie ein kleiner Fingernagel.
Selbstklebende Gurte aus Stoff und das Stecknadelkopf-grosse Armaturenbrett müssen montiert werden. «Ich trage dafür eine Stirnlampe mit Lupe.» Unter dem Wagen befindet sich der kleine Leitkiel, der das Auto beim Rennen im Slot, im Fahrschlitz, halten soll. 160 bis 180 Gramm wiegt ein Car, das Rohmodell kostet um die 200 Franken, fertig gebaut können es über 1000 sein. Jedes ist einem Originalwagen nachempfunden. «Die Leidenschaft für Slotcars ist aber auch ein wenig mit Masochismus verbunden. Es tut schon weh, wenn du ein Auto, das du in Kleinstarbeit gebaut hast, bei einem Unfall zerstörst.»
Dass er wegen seines Hobbys von Frauen bisweilen belächelt wird, weiss er, stört ihn aber wenig. Mit seiner Frau war er bereits verheiratet, als er das Slotten als Hobby entdeckte: «Sie findet es gut, kommt aber trotzdem nicht hierher.»
Das Hobby zum Beruf gemacht
«Umbach ist unser schnellster Fahrer», sagt Bernhard Drenowatz. Bernie, wie ihn die Kollegen nennen, organisiert die Rennen, fährt aber selten mit. Slotten ist sein Leben, das Hobby hat der 56-Jährige zum Beruf gemacht. «Man kennt mich in der ganzen Schweiz», sagt er. Halbe Sachen gebe es bei ihm nicht, sagt er.
Seinen Job als Werbefotograf hängte er nach 30 Jahren an den Nagel, um kleine Autos für die grosse Leidenschaft zu bauen. Felgen waren gefragt, und so investierte er 200'000 Franken in eine Maschine, mit der er fortan Felgen produzierte. Das Geschäft lief zwar gut, aber der Markt war zu klein, nach zwei Jahren gab Drenowatz auf.
Zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche
Heute handelt er mit selbst gebauten Autos. Leben kann er davon nicht, bis jetzt zehrt er vom Ersparten. In seinem Haus in Dottikon baut und repariert er Slotcars. Zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche schraubt, klebt, schleift und lackiert Drenowatz in seiner Werkstatt. Und das am liebsten nachts. «Da laufen die besten Sendungen im Fernsehen, und ich habe meine Ruhe.» Seine Frau hilft mit, bemalt Männchen für die Fahrerkabine. Doch sie arbeitet tagsüber, deshalb sehen sie sich eher selten.
In den letzten drei Monaten hat Drenowatz 55 Autos gebaut: «Das Geschäft läuft jedes Jahr besser.» Er weiss, worauf es ankommt: Das Auto muss «Grip» haben; in der Mittelspur ist man immer im «Flow», da läuft es am besten, und man muss weniger abbremsen, um die Kurven unbeschadet zu durchfahren. «Wenn es losgeht, kommt das Adrenalin, man will gewinnen, und dann bekommt man den Tunnelblick», erklärt er. Bei den Rennen seien die Pensionäre die Ehrgeizigsten. Wenn dann ein Auto aus der Bahn fliegt, gibt es schon mal Streit. «Drei bis vier Mal im Jahr», sagt Drenowatz, «haben wir hier eine richtige Krise.»
Don’t drink and drive
In den Rennpausen bereden die «Slotter» ihre Taktik, zischen eine Cola nach der anderen – das Motto «don’t drink and drive» nimmt man hier ernst. Im Radio läuft Popmusik, die Wanddeko hat sich seit 20 Jahren nicht verändert: Von gerahmten Schwarzweissbildern lächeln Pin-up-Girls, irgendwer hat eine karierte Siegesflagge an die Wand gemalt, in einer Vitrine warten Slotcars auf ihren Einsatz.
Wer wie Markus Wurzer gerade nicht fährt, schraubt an seinem Wagen in der «Boxengasse». Im kleinen Nachbarraum wird geölt und optimiert. Auf den Tischen reihen sich die Slot-Koffer aneinander – grosse Holzkästen, Werkzeugschrank und Garage in einem. Hier ruhen die Autos auf herausziehbaren Böden bis zu ihrem Auftritt. Nach jedem Rennen werden die Reifen geputzt und der Staub abgewischt. Wurzer ist ein Neuling in der Slot-Szene. Seine Frau und sein Sohn stehen hinter seinem neuen Hobby, seien auch schon zu Clubanlässen mitgekommen.
Geld muss rein
«Ohne Helm und ohne Gurt, einfach Kurt», stellt sich Kurt Rölli vor. Gerade musste er eine Niederlage einstecken: 10. Platz. Seit drei Jahren ist der 70-Jährige Mitglied, seit Januar Präsident des Clubs. Vorher fuhr er Slotcar-Rennen in einer anderen Klasse, in einem anderen Tempo: 135 km/h, zwei Sekunden pro «Turn», so schnell, dass die Augen kaum folgen können. Jetzt übt er sich in Ruhe und versucht, die magere Kasse zu füllen. «Letztes Jahr haben wir ein Defizit gemacht, nun versuche ich, die Bahn für Events zu vermieten», sagt er.
Denn Geld muss rein, der Club hat Nachwuchssorgen. Die jungen Leute spielten lieber Videogames, anstatt sich im echten Leben zu treffen, sagt Rölli. Als gelernter Maschinenschlosser bastelt er gerne, baut Autos für sich und Freunde. «Wir alle wollen schöne Autos fahren.» Und für die reist er schon mal nach Deutschland an die Meisterschaften. Bis jetzt zwölf Mal. In der Schweiz fährt er an der Spitze mit.
Wie am 19. März, als zur Schweizer Meisterschaft 2016 angepfiffen wurde. Das erste von fünf Rennen wurde im Club durchgeführt. Mit seinen 70 Jahren belegte Kurt Rölli den ersten Platz, in der Bestzeit von 6,8 Sekunden für eine Runde den zweiten. Steht Rölli nicht am Pistenrand, fischt er Forellen oder spielt Eishockey. Aber die Slotcars stehen im Mittelpunkt. «Nur wenn ich und meine Frau in die Ferien fahren», sagt Rölli, «bleiben die Autos zu Hause.»