Der Blick aus ihrem Einzelbüro geht ins Grüne, an der Pinnwand neben ihrem Schreibtisch hängen Bilder der kleinen Tochter, und auf ihrer Visitenkarte steht über lic. iur., LL.M: Leiterin Geschäftsentwicklung Unternehmenskunden. Ivy Klein ist gut ausgebildet, hat Familie und besetzt mit ihren 35 Jahren eine Kaderfunktion beim Vorsorgeanbieter Swiss Life Schweiz. Wäre sie dazu noch ein Mann, würde sie der klassischen Definition der Wirtschaftseliten entsprechen. Doch die Tatsache, dass Klein eine Frau ist, ein Kind hat, mit dem zweiten schwanger ist und eine leitende Funktion in einem Schweizer Grosskonzern innehat, zeigt, dass sich die Eliten langsam zu verändern beginnen.

Der Begriff der Wirtschaftseliten lässt sich auf verschiedene Arten definieren. Im Kern handelt es sich um – meist männliche – Personen mit einer Machtposition in Unternehmen, die über Geld, Bildung und Netzwerke verfügen und so einen konkreten Machteinfluss auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik haben. Doch wie haben sich diese Gegebenheiten und Voraussetzungen in den letzten Jahren verändert, und wie ticken die Wirtschaftsmacher von morgen – jene, die sich noch auf dem Weg nach oben befinden?

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Ein Team der Universität Lausanne hat sich in einer Studie den Wandel der Schweizer Eliten über eine Zeitspanne von 100 Jahren angeschaut und ist unter anderem zum Schluss gekommen, dass die Führungskräfte immer internationaler werden. In der Schweiz zeige sich die höchste Dichte an internationalen Managern an den Spitzen von grossen Unternehmen. «Sie kommen oft in jungen Jahren in die Schweiz und arbeiten sich dann die Karriereleiter hinauf», sagt Felix Bühlmann. Er ist Mitverfasser der Studie, forscht am Institut Obelis – dem Observatoire des élites suisses – und ist Co-Autor der 2017 in Buchform erschienenen Studie «Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010».

Generalisten gesucht!

Bühlmann beobachtet auch Veränderungen in der Wahl der Studiengänge. Generell hätten die Wirtschaftseliten studiert – früher wie heute. In den meisten Fällen Wirtschaft oder Recht. In den achtziger Jahren waren die Studienfächer der Spitzenmanager bei den 110 grössten Schweizer Unternehmen Recht und Ingenieurswesen/Technik, erst dann kam Wirtschaft. Das habe sich geändert. Zudem werde der MBA immer beliebter.

Ivy Klein

Klassische Karrieristin: Ivy Klein ist Juristin und leitet bei der Swiss Life die Geschäftsentwicklung Unternehmenskunden. Die verheiratete Mutter einer Tochter erwartet das zweite Kind.

Quelle: Gerry Nitsch für Bilanz

Das weiss auch Ivy Klein. Nach dem Gymnasium begann sie ein Studium der Psychologie an der Universität Zürich, wechselte aber bald darauf in die Rechtswissenschaften. Sie schloss mit lic. iur., dem Diplom in Rechtswissenschaften, ab und machte den Master of Law. Danach kamen Stages in verschiedenen Kanzleien. «Ich merkte, dass ich mich nicht auf nur einen Bereich spezialisieren wollte», sagt sie. Sie bewarb sich beim damaligen AWD, der heutigen Swiss Life Select, um die Stelle des Compliance Officers. Mit 25 Jahren startete sie ihre Laufbahn bei der Swiss Life. «Ich wollte möglichst viel lernen, Wissen aufsaugen und die Möglichkeit haben, Abläufe mitzuprägen», erzählt sie.

«Im 21. Jahrhundert werden immer mehr Generalisten gesucht.»

Felix Bühlmann, Elitenforscher

«Im 21. Jahrhundert werden immer mehr Generalisten gesucht», sagt Elitenforscher Bühlmann. Ivy Kleins Wunsch nach einer vielfältigen Ausbildung ist also typisch. Neben der universitären Bildung bringt sie einen Rucksack mit Erfahrungen und Sprachen mit: Neben Deutsch, Englisch und Französisch spricht sie Italienisch und Arabisch und hat zudem einen LL.M., der dem MBA für Juristen gleichkommt, sowie die Weiterbildung Competence in Insurance Management der Universität St. Gallen absolviert. Auslandserfahrungen sammelte sie in Washington, Shanghai und Peking – ebenfalls typisch für die Eliten von morgen.

Mit 27 Jahren wurde sie zur Leiterin der Rechtsabteilung befördert. Doch als der AWD in die Strukturen von Swiss Life Schweiz überführt wurde, war unklar, ob sie ihre Stelle würde behalten können. Gleichzeitig suchte der damalige Chef von Swiss Life Schweiz, Ivo Furrer, eine neue Assistentin. «Ich war zuerst skeptisch, denn das Angebot hätte von reinen Administrativarbeiten bis hin zur rechten Hand des Chefs alles heissen können», sagt Klein. Für die Juristin eine schwere Entscheidung – aber eine Chance, die sie nur einmal bekommen würde, sagt sie. Sie nahm an Geschäftsleitungssitzungen teil, hatte Einblicke in die Korrespondenz und bekam hautnah mit, was es bedeutet, ein Unternehmen zu leiten. «Viele der Entscheidungen hätte ich genauso gefällt, bei anderen habe ich mir gesagt, das mache ich dann mal anders», erzählt sie.

Netzwerke aus Lehre und Studium

Die Studie der Universität Lausanne zeigt, dass die letzten Jahrzehnte Umwälzungen in den altbekannten Strukturen der Eliten brachten. Neben der zunehmenden Internationalisierung, den Auswirkungen der Digitalisierung auf Abläufe und Prozesse betrachtet sie auch die Seilschaften. Diese haben sich in Bezug auf die Art der Netzwerke verschoben: «War es einst das Militär, stehen heute Verbindungen aus dem gemeinsamen Studium oder der Lehre im Mittelpunkt», sagt Bühlmann und verweist auf die Partners Group: Die Gründer der Vermögensverwaltungsgesellschaft hätten sich in der Zürcher Filiale von Goldman Sachs kennengelernt, seien gemeinsam ausgestiegen und hätten sich dann selbständig gemacht. «Heute gehören sie zur Elite.» Ebenso werden Verbindungen innerhalb der grossen Unternehmensberater wie McKinsey oder PwC immer wichtiger.

Dorian Selz

Mehrfach-Gründer und Chef Dorian Selz wollte sich nicht fest anstellen lassen. Stattdessen gründete er erfolgreich diverse Unternehmen und nimmt so Einfluss auf die Wirtschaft.

Quelle: Samuel Tr??mpy Photography

Gute Erfahrungen mit einem Studentennetzwerk, dem Europäischen Studierendenforum (AEGEE), machte Dorian Selz. Er ist Mehrfach-Gründer und CEO. Auch er erfüllt die Kriterien, um als Teil der Elite von morgen zu gelten: Eltern, die ihn zu einer guten Ausbildung ermutigten, VWL-Studium in Genf, Promotion an der Universität St. Gallen, internationale Erfahrungen. Europas grösster Studentenorganisation trat Selz während des Studiums bei. Im Rahmen des Netzwerks reiste er viel: «Ausser in Weissrussland, Russland und der Ukraine war ich wohl schon überall», sagt er. Das veränderte seine Sicht auf die Schweiz und die Wirtschaft. «In der Schweiz wird alles, was ausserhalb der Norm ist, eingemittet. Die Wirtschaft steht mit der Digitalisierung vor grossen Herausforderungen, alte Strukturen müssen aufgebrochen werden, doch viele Chefs sind dazu nicht bereit», sagt er.

Als Unternehmer weiss Selz, was es bedeutet, eigenes Geld in eine Firma zu investieren und voll auf Risiko zu gehen. «Viele CEOs grosser Unternehmen mussten nie ihr eigenes Geld in die Firma stecken und haben so ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Job», sagt der 47-Jährige. Anders als viele Mitglieder der Wirtschaftselite hat er sich nicht in einem Unternehmen an die Spitze hochgearbeitet. Ein Angebot, bei Nestlé Karriere zu machen, lehnte er ab. Seinen beruflichen Erfolg und seinen Einfluss hat er sich durch die Gründung von Unternehmen erarbeitet: Er war Partner der Digitalagentur Namics und Gründer der Plattform Local.ch.

Rückbesinnung auf gute Tugenden

Es reize ihn, Neues auszuprobieren: «Ich bin ein kreativer Verwandler», sagt Selz. Um Neues zu schaffen, muss erst Altes aufgebrochen werden. Dazu seien viele CEOs nicht bereit. Sie würden sich zwar hochbezahlte Berater ins Haus holen, Experten aus der Branche einzustellen, falle ihnen jedoch nicht ein. Die Chefs von morgen müssten ausserdem empathischer sein und in die Zukunft investieren. Wenn heutzutage gespart werde, würden zuerst die Mitarbeiter rausgeschmissen, nicht aber die Boni gekürzt. «Die Managergilde von heute hat verlernt, was gute Tugenden und solide Geschäftsgrundsätze sind. Auf diese sollten wir uns zurückbesinnen», sagt Selz.

Der internationale Manager, der an einer ausländischen Universität ausgebildet wurde, habe weniger die Schweiz als vielmehr die globale Wirtschaftssituation im Auge, meint Elitenforscher Bühlmann. Auch der Link von der Wirtschaft zur Politik sei weniger präsent als zum Beispiel zu Zeiten von Rainer E. Gut. Der ehemalige Präsident der Credit Suisse unterhielt Verbindungen in die Politik und pflegte durch den Besitz des Fussballclubs Grasshopper den lokalen Bezug. Beim letzten CS-Chef, dem Amerikaner Brady Dougan, sei das nicht mehr der Fall gewesen, beim aktuellen, Tidjane Thiam, ebenfalls nicht.

Jonathan Mariampillai

Selfmademan mit Migrationshintergrund: Jonathan Mariampillai ist Gründer und CEO der Mobile Klinik. Weltweit hat das Unternehmen 41 Filialen.

Quelle: Nicolas Zonvi

Dass es nicht nur Hochstudierte zu etwas bringen können, zeigt das Beispiel des Einwanderers und gelernten Kellners Jonathan Mariampillai. Aus eigener Kraft baute sich der heute 34-Jährige mit der Mobile Klinik AG eine Firma auf, die inzwischen einen Wert von rund 20 Millionen Franken hat. Der Selfmademan entfloh in den neunziger Jahren dem Bürgerkrieg in seinem Heimatland Sri Lanka. In der Schweiz wurde ihm wegen seines Flüchtlingsstatus eine Ausbildung zum Geräteinformatiker verweigert. Deshalb begann er eine Kellnerlehre. Nebenbei besuchte Mariampillai Computerkurse und bastelte an Handys herum.

Im kleinen Stil begann er 2007 damit, die neuesten iPhones aus den USA in die Schweiz zu importieren – noch bevor diese dort von Apple verfügbar waren. Für Reparaturarbeiten wandten sich die Käufer an ihn. Obwohl er kaum Ahnung hatte, nahm er die Herausforderung an. «Ich bin sehr risikofreudig, habe mir ein Reparaturset bestellt und losgelegt», erzählt er. Das Geschäft lief so gut, dass er 2010 mit 26 Jahren die iKlinik gründete. «Ich habe alles mit meinem eigenen Geld aufgebaut, nie Investoren an Bord geholt oder Bankkredite aufgenommen.»

«Heute haben wir Powerpaare, die beide gut ausgebildet sind und Vollzeit arbeiten. Die Bedingungen, Kind und Karriere zu vereinbaren, sind aber noch nicht gegeben.»

Katja Rost, Professorin am Soziologischen Institut der Universität Zürich

Rund 30 Prozent der Gründer in der Schweiz haben einen Migrationshintergrund. Die Start-up-Szene im Land ist international. Und als Flüchtling hatte Mariampillai nichts mehr zu verlieren, was seine Risikofreude beeinflusste. Er hat eine andere kulturelle Prägung erfahren – die Familie steht weit mehr im Zentrum als in der Schweiz. Das wirkt sich auf seinen Führungsstil aus: Unter seinen 70 Angestellten soll ein familiäres Klima herrschen. «Die Mitarbeiter müssen dir vertrauen und gerne für dich arbeiten. Nur dann werden sie auch alles für das Unternehmen geben», sagt er. Seit Oktober ist er zwar noch Chef, die Firma aber nicht mehr seine. Die neue Besitzerin, die MSS Holding AG in Dietlikon ZH, übernahm das ganze Team – «das war die Bedingung». Denn Mariampillai wollte verhindern, dass sein Unternehmen so wird wie manche Grosskonzerne, wo der Chef die Angestellten kaum mehr kennt.

Für Katja Rost, Professorin am Soziologischen Institut der Universität Zürich, liegt ein Merkmal zur Unterscheidung zwischen den bestehenden und den kommenden Eliten im Generationenthema. Für Rost sind die Wirtschaftsmacher von morgen Weltbürger, die in einem globalen Kontext aufwachsen. «Der lokale Kontext spielt keine grosse Rolle mehr, was auch ein Problem sein kann, denn Unternehmen sind trotz Globalisierung immer auch lokal verankert», sagt sie. Ein Trendthema, das die Führungskräfte von morgen zudem mitprägen werde, sieht sie in der Vereinbarkeit von Kind und Beruf. Frauen würden vermehrt Wert auf ihre eigene Karriere legen. Das Image des Bankers, der mit der Sekretärin verheiratet ist, sei veraltet. «Heute haben wir Powerpaare, die beide gut ausgebildet sind und Vollzeit arbeiten. Die Bedingungen, Kind und Karriere zu vereinbaren, sind aber noch nicht gegeben», sagt sie.

Alte und neue Eliten verschmelzen

Zudem nehme die soziale Ungleichheit zu. Kinder aus einem guten Elternhaus hätten nach wie vor bessere Chancen, in die Elite aufzusteigen, sagt die Professorin. Über 80 Prozent kämen immer noch aus dem Grossbürgertum. Leichte Veränderungen seien jedoch auszumachen: Eine internationale Ausbildung gewinne an Gewicht. So kommen die Eliten von morgen vermehrt aus Expat-Familien und beherrschen mehrere Sprachen.

Mona El Lisa

Internationale Gründerin: Mona El Isa ist gebürtige Britin und Gründerin des Blockchain-Start-ups Melonport. Sie verbindet den klassischen Karriereweg mit Gründergeist.

Quelle: Gerry Nitsch für Bilanz

So wie die gebürtige Britin Mona El Isa, 35. Sie hat ihre Kindheit in Griechenland verbracht und ist oft gereist, spricht neben Englisch noch Französisch, Arabisch und Griechisch. Für sie und ihre Eltern war immer klar, dass sie einmal studieren würde. Am University College London schrieb sie sich für Wirtschaft und Statistik ein. Noch während des Studiums machte El Isa ein Praktikum bei der Investmentbank Goldman Sachs. Sie begann dort nach dem Bachelor, mit 19 Jahren als jüngste Traderin in der Geschichte der Grossbank. «Damals wusste ich wenig vom Investment Banking, aber ich arbeite gut unter Druck, und der Job hat mir Spass gemacht», erzählt sie.

«Wenn du als Chefin erfolgreich sein willst, brauchst du das Vertrauen deiner Mitarbeiter.»

Mona El Lisa, Gründerin und CEo Melonport

Acht Jahre blieb sie dort, wechselte dann den Arbeitgeber, machte sich selbständig und brach wieder ab, um sich neu zu orientieren. Sie hatte den Mut und wagte den Schritt in die Selbständigkeit. «Ich arbeite immer hart und liebe es, Dinge wachsen zu sehen. Sobald ich kein Wachstum – menschlich und unternehmerisch – sehe, muss ich etwas Neues beginnen», sagt El Isa. Letztes Jahr gründete sie zusammen mit dem Schweizer Reto Trinkler das Start-up Melonport, einen transparenten und sicheren Online-Marktplatz für Fondsmanager, basierend auf der Blockchain-Technologie. «Wenn du als Chefin erfolgreich sein willst, brauchst du das Vertrauen deiner Mitarbeiter», sagt sie. Je mehr man unterwegs sei, desto wichtiger sei es, für sein Team präsent zu sein.

Die heutigen Start-up-Gründer verschmelzen laut Bühlmann langsam mit den alten Eliten. Sie würden diese zwar nicht von Grund auf neu definieren, aber ein Transformationsprozess sei erkennbar. Ein gutes Beispiel ist das Silicon Valley: Dort findet Innovation vielfach über den Aufkauf von Start-ups durch Konzerne wie Facebook oder Google statt. Erfolgreiche Start-ups werden so in die bestehende Elite integriert. Und können sie durch ihr Know-how, ihre Sichtweisen und Werte verändern.

Dieser Text erschien im Januar in der BILANZ-Beilage «Who is Who».