«Capitale des amoureux», Welthauptstadt der Verliebten, nannte sich am Valentinstag die Industriestadt Le Locle und lud Pressevertreter von nah und fern ein, um ihnen eine Stadt geschmückt mit 1000 Herz-Luftballons vorzuführen. In Illnau-Effretikon wurde zur Verbesserung des Stadtbildes «ohne Not» ein Verbot des Spuckens auf öffentlichem Grund in die Polizeiverordnung aufgenommen. Die Stadt Zug baut ein 18-stöckiges Hochhaus mit integrierter Kunsteisbahn für 60 Millionen. Und die Bundeshauptstadt vermarktet sich in einer Gratiszeitung der Rot-Grün-Mitte-Parteien mit dem Slogan «Rückeroberung von Plätzen und Strassen» als die Stadt mit der höchsten Lebensqualität.

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Es ist nicht zu übersehen: Der Wettbewerb der Städte hat eine neue Qualität erreicht. Während die einen auf Event-Stadt setzen, schärfen die anderen ihr kulturelles Profil, preisen die Qualität ihrer Wissenseinrichtungen, um Zukunftsfähigkeit zu demonstrieren, oder polieren das Stadtbild auf. Das Ringen der Städte um Vorteile als Wirtschaftsstandort ist bekannt. Neu wird um Köpfe gekämpft, um die jungen Nachwuchstalente als Vertreter einer Wissensgesellschaft, die an die Stelle der industriell geprägten Städtelandschaft tritt. Man buhlt um Familien, um der demografischen Falle zu entgehen, VIP aus dem In- und Ausland, um die Stadtkassen zu füllen.

Zwar bevorzugen noch immer 95 Prozent der Befragten in entsprechenden Studien das Leben in ländlichen Gebieten. Doch fast jeder zweite Schweizer wohnt mittlerweile in einer Stadt. Grund genug für die BILANZ, zum dritten Mal in Folge zu untersuchen, welches die Gewinner und Verlierer im Städtewettbewerb sind. In einer Vergleichsstudie bewertete das unabhängige Beratungs- und Immobilienbüro IAZI unter der Leitung von Donato Scognamiglio alle 128 Städte der Schweiz. Über 50 Einzeldisziplinen wurden unter die Lupe genommen und in neun Hauptbereichen zusammengefasst: Steuerbelastung, Reichtum, Sozialstruktur, Arbeitsmarkt, Zentralität, Dynamik, öffentlicher Verkehr, Erholungswert und Tourismus (siehe «So wurde gerechnet» im PDF Anhang).

Das Ergebnis: Als attraktivster Arbeits-, Erholungs- und Wohnort ist die Stadt Zug nicht zu schlagen. Die Stadt verteidigte ihren Vorjahressieg souverän und verwies die härteste Konkurrentin, Zürich, auf Platz zwei. «Ich bin hocherfreut», kommentiert Stadtpräsident Dolfi Müller das Ergebnis: «Wo andere Städte stark auf Steuerwettbewerb setzen, konzentrieren wir uns auf einen Qualitätswettbewerb. Der hohe Wohn- und Lebensstandard, die ausgezeichnete Arbeitsplatzsituation sowie ein guter sozialer Mix der Bevölkerung zahlen sich aus.»

In der Tat ist Zug eine kleine und ziemlich heile Welt. Wohlhabend, aufgeräumt und sauber, eingebettet in die schöne Voralpenlandschaft. Doch anders als Müller sagt, profitiert Zug in erster Linie von den tiefen Steuersätzen. Die Stadt lebt von den Konzernen und Holdings, die in ihrem milden Steuerklima prächtig gedeihen. So kommt es, dass die Gemeindekasse mit durchschnittlichen Pro-Kopf-Steuereinnahmen von 3400 Franken randvoll ist. Des Problems des geringen Wohnungsleerbestandes nimmt man sich an, liegt doch die Neubautätigkeit seit 2001 mit 15,7 Prozent weit über dem Schweizer Schnitt. Dass die Steuerregister im Kanton Zug seit 2001 nicht mehr eingesehen werden dürfen, freut die Top-Shots der Wirtschaft, die sich zahlreich in und um Zug niedergelassen haben, etwa Novartis-Chef Daniel Vasella, Lego-Gründer Kjeld Kirk Kristiansen oder Tom O’Malley, Chef von Petroplus.

Die Silbermedaille geht dieses Jahr an Zürich, das von Platz fünf auf Platz zwei vorgerückt ist. Die Limmatstadt strotzt derzeit vor Wirtschaftskraft und Entwicklungsdynamik. «Die Region Zürich steht heute unangefochtener denn je an der Spitze der Schweizer Wirtschaft», schreibt Martin Schuler, Professor an der ETH Lausanne (EPFL), im «Atlas des räumlichen Wandels der Schweiz» und nennt als Hauptgrund die gelungene Umwandlung zum internationalen, vom Dienstleistungssektor geprägten Metropolraum. Doppelt so viele Firmen wie in Genf, 15  000 mehr als in Basel sind hier ansässig. Mittlerweile verdienen in der Limmatstadt nahezu 330  000 Menschen ihr Einkommen, davon 180 000 Pendler.

Ohne Zürich kein Zug. Überdies haben die Zürcher ein Herz für die Umwelt. Umweltvorlagen zu Verkehrseindämmung, Gewässerschutz und Lufthygiene erzielen an der Urne regelmässig einen Ja-Stimmen-Anteil von 70 bis 80 Prozent und belegen, dass Umweltschutz Wirtschaftswachstum nicht hemmt. Für Stadtpräsident Elmar Ledergerber ist es deshalb schwer nachzuvollziehen, dass seine Stadt «nur» auf Platz zwei rangiert. «Für mich stand Zürich bereits letztes Jahr an erster Stelle, doch es freut mich, dass sich die BILANZ meiner Ansicht angenähert hat.» Die Limmatstadt sei in der beneidenswerten Situation, bei allen wichtigen Faktoren zu punkten. Dass ausgerechnet Zug vor Zürich liegt, ist für Elmar Ledergerber ein Wermutstropfen, und der Zürcher Stadtpräsident stellt fest: «Auch die Stadt Zug braucht Zürichs Zentrumsqualitäten.»

Im Kontext explodierender und sich wohl kaum mehr erholender Energiepreise wird die Nähe zum Arbeitsplatz immer wichtiger. Schon lange geht der Umbruch vonstatten, dass Wohnen und Arbeiten heute wieder vereint werden. Dementsprechend müssen sich die Städte umorganisieren, wenn sie diesen Wandel als Sieger miterleben wollen – weg von der Schlafstadt, hin zur Wohn- und Arbeitsstadt. Interessanterweise haben sich im Wettbewerb um die grössten Arbeitsplatzschaffer Städte hervorgetan, die sonst nur im Mittelfeld rangieren. So verbesserte sich Buchs SG von Rang 113 auf Rang 20, Langenthal BE von 100 auf 14. Den grössten Sprung machte Biel, das vom 124. auf den 39. Platz kletterte.

Auch was die Dynamik der Städte angeht, gibt es in diesem Jahr einige Überraschungen. Während die einen das volkswirtschaftliche Schreckensszenario einer überalterten Gesellschaft ignorieren, haben andere die Wichtigkeit der Vitalisierung einer Stadt erkannt. Zu diesen gehört Allschwil, das sich im Dynamik-Ranking um 64 Ränge auf Platz 51 verbesserte. Tiefere Steuern als in Basel, gepaart mit einem Ausbau des Wohnungsangebots, lockten Zuzügler in die an Basel angrenzende Stadt. Zu den Aufsteigern bei der Bevölkerungszahl gehört Lugano, das aufgrund eines Zusammenschlusses von acht Gemeinden im Jahr 2004 ein Plus von 88,3 Prozent aufweist. Ebenfalls gut im Rennen liegen Bulle FR und Le Grand-Saconnex GE mit einem Plus von 44,3 respektive 19 Prozent.

Besonders behaglich lebt es sich in der Basler Gemeinde Riehen, die punkto Erholungswert unangefochten auf Platz eins liegt, vor Gland VD und den Walliser Städten Sierre und Sion. Münchenstein BL verbesserte sich von Rang 30 auf 5, Littau LU von Platz 35 auf 10, Oberwil BL, neu im Rating, schaffte es gleich auf Platz 9. Die Steueroase Freienbach SZ hingegen, die seit Jahren mit den tiefsten Steuern der Schweiz wirbt, hat es am heftigsten getroffen. Sie stürzte von Rang 31 auf 69 ab. Die zum Teil erheblichen Veränderungen sind begründet durch die veränderte Zahl an Städten (vier Gemeinden haben neu den Stadtstatus erhalten), den neuen Einbezug von Unesco-Welterbe-Auszeichnungen und Wakker-Preisen sowie die Neuvermessung aller Gemeinden der Schweiz durch das Statistische Zentralamt. Dadurch kam es zu Veränderungen von Stadtgrenzen, zum Wegfall oder zur Neuzurechnung von Erholungs- und Grünanlagen.

Basel brummt. Im Wettstreit der Metropolen landet die drittgrösste Stadt, Basel, nur auf Platz 44. Immerhin drei Plätze besser als im letzten Jahr. Für Stadtpräsident Guy Morin ein Grund zur Freude: «Die Plätze, die Basel gutgemacht hat, zeigen die Dynamik dieser Stadt. Dies ist als Trendwende zu sehen.» Er habe immer das Gefühl, dass Basel unterschätzt werde, denn die Stadt habe versteckte Perlen zu bieten. Zu diesen gehört das breite Kulturangebot. Denn die «Kunststadt Basel» mit dem grössten Kulturangebot pro Kopf schweizweit weiss, dass man im ewigen Konkurrenzkampf mit Zürich nicht auf einen See oder auf Steuervögte, die bei Ausländern flexibel seien, setzen könne. Dafür prägen Museen das Basler Stadtbild wie das Tinguely-Museum, das Museum für Gegenwartskunst am St.-Alban-Graben, das Kunstmuseum oder die Kunsthalle, die Besucher in Scharen anziehen.

Gleichzeitig brummt die Wirtschaft. Die hohe Arbeitslosenquote konnte im Vergleich zum letzten Jahr von 6,2 auf 3, 4 Prozent beinahe halbiert werden. Zahlreiche Messen wie die Weltmesse für Uhren und Schmuck und die Kunstmesse Art Basel ziehen jährlich Hunderttausende von Besuchern an. Doch ein altes Problem bleibt: der Steuerfuss. Zwar gehen die jüngsten Steuersenkungen in die richtige Richtung, doch noch immer liegt Basel steuertechnisch hinten. Die Bevölkerung nimmt seit Jahren ab, zieht in die steuergünstigere Landschaft, die Bautätigkeit ist mit 0,1 Prozent fast nicht vorhanden. Es sind Grossunternehmen wie Novartis mit dem «Novartis Campus» sowie Roche mit dem geplanten «Roche Tower», die für Dynamik sorgen.

Bern wächst wieder. Noch vor Basel ist Bern anzutreffen, auf dem 35.  Platz. Damit machte die Stadt nur einen Rang gut gegenüber dem letzten Jahr. «Ratings sollte man nicht allzu ernst nehmen», meint Stadtpräsident Alexander Tschäppät. Es gebe aber immer wieder Punkte, die man sich anschauen müsse. «Nur können wir nicht alles beeinflussen, wie wir es gerne würden.» Die Steuersituation würde er gerne verbessern, könne allerdings nicht, da dies in der Hoheit des Kantons liege. Andere wichtige Dinge wie die Entwicklung neuer Quartiere oder die Fertigstellung des Bahnhofplatzes habe man in Angriff genommen.

Der Mann hat recht. Die Arbeitslosenquote sank 2007 von 4,9 auf 3,2 Prozent. Nach zehn Jahren Stadtflucht gibt es seit drei Jahren erstmals wieder einen Bevölkerungszuwachs. 600 Wohnungen befinden sich im Bau, 700 weitere stecken im Bewilligungsverfahren. Die öffentlichen Verbindungen sind erstklassig. Und wie sehr ist es der Bundeshauptstadt ein Dorn im Auge, dass Zürich so viel weiter vorn liegt? «Ich bin auf Kollege Elmar Ledergerber nicht neidisch», so Tschäppät. «Bern hat andere Stärken und Qualitäten, beide Städte sind wichtig für die Bevölkerung.»

Thuner Aufholjagd. Natürlich lässt sich aus ökonomischen Daten nicht alles herauslesen. Ein Platz auf den hinteren Rängen ist nicht immer ein Indiz dafür, dass die Kommunalpolitiker Weichenstellungen verschlafen haben. Strategien können Jahre benötigen, bis sie sich in Zahlen bemerkbar machen. Wie im Falle Thun. «Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht», sagt Stadtpräsident Hans-Ueli von Allmen, der seine Stadt lieber auf den vorderen als auf dem 93.  Platz sehen würde. Diese liegt idyllisch am Thunersee, vor der atemberaubender Kulisse der Alpen. Majestätisch thront das Schloss Thun über der Stadt und den herrschaftlichen Häusern der Altstadt, die mit ihren Läden und Beizen zum Flanieren einlädt.

Und kaum einer der vielen Touristen, die von Thun aus zu den bekannten Tourismuszielen ausschwärmen, ahnt, welch beachtliche Aufholjagd die 42  000-Einwohner-Stadt hinter sich hat. Anfang der neunziger Jahre gingen mehrere tausend Arbeitsplätze verloren. Die Swisscom und grosse Teile der Armee verlagerten ihre Standorte. Die Spar- und Leihkasse Thun ging Pleite, und ein Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim stempelte die Gemeinde zu einem Hort von Rechtsextremen. Bis heute konnte Thun, aufgrund der hohen Steuerbelastung im Kanton Bern, keine neuen Grossunternehmen anlocken.

Stattdessen förderte man die Gründung und Ansiedlung von Klein- und Mittelbetrieben. «Diese achten weniger auf Steuern und schätzen dafür die gute Infrastruktur, die Thun zur Verfügung stellt», so von Allmen. Unter dem Motto «Mut zum Aufbruch» schaffte man es, neue Arbeitsplätze zu generieren. Die Fortschritte sind spürbar. Rangierte Thun noch letztes Jahr beim Faktor Arbeitsmarkt auf Platz 80, liegt es nun auf Platz 48. Mit einem neuen Businesspark sind weitere 300 Arbeitsplätze in Planung, das Swiss Economic Forum verleiht seit zehn Jahren mit Auftritten von Topmanagern und internationalen Politikern der Stadt zusätzlichen Glanz.

Die rote Laterne des Städte-Rankings geht erneut an Le Locle. Nur gerade bei den Wohnungspreisen kann die Neuenburger Stadt mithalten. Zum Trost: Ein Augenschein in der Stadt relativiert die Bedeutung der nackten Zahlen. Denn die auf 1000 Metern gelegene Kleinstadt präsentiert dem Besucher ein buntes Ortsbild, die Einwohner wirken aufgeweckt und freundlich, Hektik scheint nur durch den überbordenden Stadtverkehr aufzukommen. Im Unterschied zu anderen historischen Industriestädten, wo Wohnquartiere und Industriezonen wegen des Lärms der Fabriken getrennt wurden, greifen in Le Locle Uhrmacherateliers, Mietshäuser, Fabriken und Villen wie Rädchen einer Uhr ineinander.

Die Uhrenindustrie ist die grösste Arbeitgeberin in Le Locle. Und noch immer sind die Folgen der schweren Krise während der siebziger und achtziger Jahre nicht vergessen. Sie zwang 4000 Einwohner zur Abwanderung. «Mittlerweile hat die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Uhrenindustrie abgenommen», sagt Stadtpräsident Denis de la Reussille und verweist auf die 700 Arbeitsplätze der Medizinaltechniksparte von Johnson & Johnson, die für einen gewissen Risikoausgleich sorgen. «Wir haben die Infrastruktur einer grossen Stadt, dennoch ist man schnell im Grünen», meint der Stadtpräsident. Wo es das sonst heute noch gebe, dass man innert zehn Minuten zu Fuss im Büro sei und über Mittag am Familientisch essen könne?

Der Tatsache, dass seit Jahren die Bevölkerungszahl abnimmt, ist man sich bewusst. Deshalb plant de la Reussille, demnächst eine 100  000 Quadratmeter grosse Zone in Bauland umzuwandeln und neue, günstige Mietwohnungen zu erstellen. Fraglich ist nur, ob, aufgrund der hohen Steuerlast, auch tatsächlich Neuzuzieher in die Grenzstadt kommen. Doch de la Reussille ist überzeugt: «In Le Locle bleibt den Einwohnern trotz den hohen Steuern mehr zum Leben als in Genf oder Zürich, wo die Wohnungen teuer sind.» Trotz allem Ärger über den letzten Platz im BILANZ-Ranking kann er diesem auch etwas Positives abgewinnen: «Jetzt spricht man wenigstens über uns.»