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Standorte Schweiz

Man nehme den theoretischen Fall, dass im ganzen Land niemand mehr arbeitet, keiner mehr Güter und Dienstleistungen produziert, alle nur Däumchen drehen. Frage: Welches europäische Land könnte am längsten nur von den Ersparnissen leben? Antwort: die Schweiz.

Vier Jahre würde es dauern, bis die über 1700 Milliarden Franken, welche die hiesige Bevölkerung auf die hohe Kante gelegt hat, aufgebraucht wären – das über die vergangenen Jahrzehnte angehäufte Geldvermögen der Schweizer beträgt knapp das Vierfache des jährlichen Bruttoinlandprodukts. Andere Länder haben kleinere Polster: In Deutschland wäre nach zwei Jahren Schluss, in Griechenland schon nach etwas mehr als einem Jahr.

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Die Schweiz gilt als reiches Land – und ist es auch. Ist diese Tatsache in guten Zeiten angenehm, so ist sie in Zeiten der Krise mehr: ein Stabilisator und ein Puffer, der die Resistenz des Landes gegen wirtschaftliche Erschütterungen erhöht.

Was ansteht, ist nichts anderes als die schärfste Rezession in den Industrieländern seit 60 Jahren, wie die neuesten Konjunkturprognosen der OECD zeigen. Auch die Schweiz wird in den nächsten Monaten noch verstärkt in den Strudel der Weltwirtschaftskrise geraten. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) rechnet fürs laufende Jahr mit einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts um 2,7 Prozent. Gewisse Wirtschaftszweige, allen voran die Industrie, stehen angesichts von Rekordeinbrüchen bei Produktion und Bestellungseingang vor einem Jahrhundertdebakel. Die Arbeitslosenquote wird nach offiziellen Schätzungen bis 2010 auf rund 5,5 Prozent oder 200  000 Personen steigen (siehe Artikel und Grafik «Arbeitslosigkeit» in "Weitere Artikel").

Dem Land steht eine holprige Fahrt bevor. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Volkswirtschaften, die sich auch auf dem zunehmend schwierigen Terrain bewegen müssen, geht die Schweiz mit einem gut geschützten Gefährt in das Rallye. Ein komfortabel ausgerüsteter Wohlfahrtsstaat mit automatischen Stabilisatoren wie einer grosszügigen Arbeitslosen- und Rentenversicherung, eine diversifizierte Branchenstruktur sowie ein flexibles Wirtschaftsmodell mit gewichtigen Standortvorteilen wie günstigen Steuern und liberalen Arbeitsbedingungen prägen die Schweiz – das Land geht mit Airbag und Seitenaufprallschutz ins Rennen.

Eigene Essenz. Was die Schweiz einzigartig macht, ist die Mischung aus den Vorteilen der verschiedenen Wirtschaftsmodelle, welche die westliche Welt zuletzt prägten. So wurden in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach die Vorteile der unterschiedlichen wirtschaftlichen Denkweisen verschiedener Länder in Kontinentaleuropa und der angelsächsischen Welt zusammengefügt – zu einer neuen, eigenen, schweizerischen Essenz. Vom kontinentaleuropäischen Modell stammen dabei die automatischen Krisenstabilisatoren wie die Arbeitslosenversicherung, vom angelsächsischen Modell jene Elemente, die es der Wirtschaft erlauben, auf Veränderungen schnell zu reagieren, wie etwa die sehr flexiblen Arbeitsmarktbedingungen. «Die Schweiz vereint geschickt das Beste beider Seiten», sagt Jochen Hartwig, Leiter des Bereichs Internationale Konjunktur bei der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH.

Kennzeichnend für kontinentaleuropäische Staaten wie Frankreich oder Deutschland sind der grosse Anteil des Staates an der Wirtschaft sowie ein gut ausgebautes Sozialsystem. Das Magazin «Economist» hat jüngst in einem Artikel mit dem Titel «Europas neue Hackordnung» aufgezeigt, dass sich das kontinentaleuropäische Modell in der Krise als erfolgreicher herausgestellt hat als das lange als vorbildhaft geltende liberale Modell der angelsächsischen Welt. Sind die USA und Grossbritannien im Rahmen der Finanzkrise besonders gebeutelt worden, so zeigte sich das als sklerotisch belächelte Frankreich in der Krise stabil: Der Rückgang des Bruttoinlandprodukts, das Budgetdefizit und die Verschuldungsraten sind tiefer als in Grossbritannien oder den USA.

Inzwischen gilt Frankreich als Musterbeispiel für den positiven Einfluss der sogenannten «automatischen Stabilisatoren» des Sozialstaats. In Frankreich sind 21 Prozent aller Arbeitnehmer Staatsangestellte. Nimmt man noch jene dazu, deren Einkommen oder Jobs ebenfalls nicht dem Auf und Ab des Konjunkturzyklus unterworfen sind, so kommt man gar auf 49 Prozent der Einwohner. Die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs muss sich also im Grunde nicht um die Rezession scheren – ihre Einkommen fliessen unverändert. Im liberalen System der USA indes ist die Staatsquote tief, der Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassungen minim, die Leistungen an Arbeitslose und Rentner unterdurchschnittlich (siehe Grafik "Standort Schweiz"). Für viele Amerikaner bedeutet die Krise unmittelbar Einkommensverlust – kein Wunder, ist der Konsum in der angelsächsischen Welt drastisch eingebrochen. Dies verstärkt die Krise weiter.

Im Lobgesang auf das krisenresistente kontinentaleuropäische Modell darf aber nicht vergessen werden, dass das System auch schwerwiegende Nachteile birgt. Die Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer haben zu einer grossen Sockelarbeitslosigkeit geführt. So ist die Arbeitslosenrate in Frankreich mit 8,9 Prozent derzeit gleich hoch wie in den USA. Bemerkenswert dabei ist aber, dass sie in Frankreich auch in guten Zeiten kaum unter 8 Prozent fällt, während die USA in Rekordzeit von relativ tiefen Zahlen auf den heutigen Wert geklettert sind. In besseren Zeiten schaffen die USA schnell wieder neue Jobs.

Hohe Erwerbstätigkeit. Für die Schweiz erwarten die Auguren für den Höhepunkt der Krise in den Jahren 2010 und 2011 eine Arbeitslosenquote von 5,5 Prozent. Dies bedeutet viel Leid und finanzielle Sorgen für die Betroffenen. Es bedeutet aber auch, dass selbst dann noch 94,5 Prozent einen Job haben. In Ländern wie Spanien mit einer Arbeitslosenrate von rund 20 Prozent sind es nur vier Fünftel der Bevölkerung. Die hohe Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz wird noch eindrücklicher, wenn man sie vor dem Hintergrund der sehr hohen Erwerbsquote sieht. Fast 80 Prozent der 15- bis 64-Jährigen sind arbeitstätig. In Frankreich oder Italien sind es nur rund 60 Prozent. Diesbezüglich gleicht die Schweiz den angelsächsischen Volkswirtschaften: In Grossbritannien und den USA liegt die Erwerbsquote ebenfalls bei über 70 Prozent.

Im Gegensatz zu den USA sind die Arbeitslosen in der Schweiz grosszügig abgesichert – 70 bis 80 Prozent des Verdienstes sind im Regelfall bezahlt. «Eine ausserordentlich hohe Lohnersatzquote», so KOF-Ökonom Hartwig. Auch wenn die Leistungen nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit stark abnehmen, gehört die Schweiz international zur Spitzengruppe (siehe Grafik «Arbeitslosenersatz» im Anhang). Trotz Arbeitslosigkeit können die Betroffenen weiterhin ihre Rolle als aktive Wirtschaftsteilnehmer spielen – wer weiterhin einen Grossteil des Lohnes bekommt, muss seinen bisherigen Lebensstandard und seine Konsumgewohnheiten nicht vollumfänglich aufgeben. In dieser Beziehung kann die Schweiz also die Vorteile des kontinentaleuropäischen Systems nutzen. In Frankreich ist die Ersatzquote bei den Arbeitslosen sogar noch leicht höher als hierzulande.

Hier wie dort wirkt diese Grosszügigkeit stabilisierend. Im Rahmen des von Bundesrätin Doris Leuthard jüngst verkündeten neuen Konjunkturpakets in Höhe von 750 Millionen Franken wurden quasi nebenbei auch einige Zahlen zu den positiven Folgen des Arbeitslosenerwerbsersatzes mitgeliefert. Diese Zahlen lassen den Effekt des Konjunkturprogramms klein erscheinen. So erwartet das Volkswirtschaftsdepartement von den verteilten Arbeitslosengeldern für die kommenden zwei Jahre einen stabilisierenden Zusatzbeitrag von 5,6 Milliarden Franken.

Stabilisatoren hat das Modell Schweiz nicht nur bei der arbeitsfähigen Bevölkerung aufzuweisen. Nicht vergessen werden darf, dass die Rentner heute rund ein Sechstel der Bevölkerung stellen. Sie sind mit ihren monatlichen Zuwendungen ebenfalls nicht vom Auf und Ab der Konjunktur betroffen. Die Schweiz nimmt auch hier eine Spitzenstellung ein: Die Bruttoerwerbsersatzquote staatlicher Renten ist mit fast 60 Prozent deutlich höher als in Deutschland (35 Prozent), den USA (40 Prozent) oder Frankreich (50 Prozent). Nur Länder wie Italien (65 Prozent) oder Spanien (fast 80 Prozent) sind noch grosszügiger.

Und nicht nur das: Die Vermögenszahlen zeigen, dass die Rentner in der Schweiz auch sehr wohlhabend sind. Das Durchschnittsvermögen eines Schweizer Rentners betrug im Jahr 2005 rund 270  000 Franken, im Kanton Zürich gar 660  000 Franken. Die Rentner in der Schweiz können zudem im Schnitt von ihren Zuwendungen und den Zinsen leben und müssen nicht wie in anderen Ländern, etwa den USA, von der Substanz des Ersparten zehren – so kann das Geld fast unvermindert an die nächste Generation weitergegeben werden.

Spare in der Zeit, so hast du in der Not – nach diesem Motto lebt der Schweizer in ausgeprägtem Masse. Die Sparquote liegt mit rund 13 Prozent derzeit besonders hoch – wie immer, wenn härtere Zeiten anstehen. Generell sparen die Kontinentaleuropäer deutlich mehr als die Angelsachsen; auch die Deutschen legen 12 Prozent ihres Einkommens auf die hohe Kante. In den USA sind es selbst heute lediglich 3,2 Prozent, nachdem in den Boomjahren Gespartes aufgelöst worden war, damit man sich ungebremst dem Konsumrausch hingeben konnte. Im Jahr 2005 betrug die Sparquote der USA minus 0,7 Prozent. Die Schweizer indes hoben in den Jahren der Euphorie im Saldo nie Geld ab: Zu keinem Zeitpunkt in den letzten sechs Jahren sank die Sparquote unter 9 Prozent.

Kein Wunder, spiegelt sich dieses Verhalten auch bei den Staatsausgaben: Die Verschuldungsrate des öffentlichen Haushalts liegt deutlich unter jener der USA oder Frankreichs. Wie bei den Privaten gibt dies auch dem Staat einigen Spielraum, den andere nicht im gleichen Mass haben. Im Gegensatz zu vielen kontinentaleuropäischen Ländern hat die Schweiz den Staat aber nicht zu einem Moloch anwachsen lassen und liegt bezüglich Staatsquote nur leicht über den USA.

Allerdings mit dem Unterschied, dass sich in der Schweiz Firmen und Private weit weniger stark verschuldet haben als in den USA. Die Banken hätten im heimischen Hypothekarmarkt sehr vorsichtig agiert, sagt Daniel Kalt, Leiter volkswirtschaftliche Analyse von UBS Wealth Management: «Man hat im Inland die Lehren aus der Immobilienkrise der neunziger Jahre gezogen», urteilt er. Auch die Schweizer Unternehmen hätten nach der Strukturkrise jener Jahre ihre Verschuldung deutlich reduziert und viele sich zudem bewusst aufs Kerngeschäft konzentriert. «Corporate Switzerland ist gut vorbereitet in die derzeitige Krise gestartet», so Kalt. Fundamental präsentiere sich die Schweizer Wirtschaft daher heute «sehr solide».

Tiefe Steuersätze. Entscheidend zum Ruf eines wirtschaftsfreundlichen Landes beigetragen haben in der Schweiz die tiefen Steuerquoten. Der Steuersatz für Firmen liegt im Schnitt bei 19,2 Prozent und damit deutlich unter den Sätzen unserer Nachbarländer, wo rund ein Drittel der Gewinne an den Fiskus fliesst. Ein Vorteil der Schweiz mit ihrem föderalistischen System ist, dass einzelne Kantone noch deutlich tiefer gehen können. Obwalden verlangt einen Durchschnittssteuersatz von 12,7 Prozent, Schwyz 14,7 Prozent.

Damit sind einzelne Kantone in Steuersachen selbst gegenüber jenen europäischen Staaten konkurrenzfähig, die in den letzten Jahren mit Dumpingsätzen gezielt Firmen anlockten, wie Irland, Lettland oder Litauen. Die wirtschaftliche Implosion der meisten dieser ehemaligen Musterstaaten im Zuge der Finanzkrise hat aber gezeigt, dass die Schweiz neben den tiefen Sätzen noch weiteres zu bieten hat, was den andern fehlt: ein stabiles politisches und wirtschaftliches Umfeld.

Damit sich diese Vorteile in die Zukunft retten lassen, muss das Land vorsichtig agieren. International steigt der Druck auf zwei der wichtigsten Standortvorteile, das Bankgeheimnis und die Stellung des Landes als Steueroase. Staaten wie Deutschland oder die USA wollen angesichts leerer Kassen und steigender Verpflichtungen nicht länger dulden, dass ihre Firmen ins Paradies Schweiz flüchten und ihre Bürger Steuergelder bei Schweizer Banken verstecken.

Selbst wenn die Schweiz nicht darum herumkommen wird, Zugeständnisse zu machen, so hat sie noch weitere Trümpfe auszuspielen. Da der Staat generell sparsam mit dem Geld seiner Steuerzahler umgeht, kann er mit weniger Steuergeldern auskommen als die in Budgetfragen seit Jahrzehnten weniger zurückhaltenden Nachbarn. Der Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen habe in der Schweiz generell zu Steuerdisziplin geführt, sagt UBS-Ökonom Kalt. Heute biete der Schweizer Staat «hohe Qualität der öffentlichen Leistung bei einer bemerkenswert tiefen Steuerquote».

Wenn also umstrittene Spezialfälle, wie etwa das Domizilprivileg, die dem internationalen Rechtsempfinden immer weniger entsprechen, aufgegeben werden müssen, so bleibt für die Schweiz immer noch der Spielraum, mit generell tiefen Sätzen beziehungsweise materiellen Ansätzen – etwa der reduzierten Besteuerung von Zins- und Lizenzverträgen – die Sonderstellung als Steuerparadies zu verteidigen.

Jörg Walker, Steuerexperte und Mitglied der Geschäftsleitung beim Beratungsunternehmen KPMG Schweiz, rät zu einer gezielten Innovation in Steuerfragen. Schliesslich sei der Mut zu neuen Ansätzen stets eine Stärke der Schweiz gewesen. Interessante Vorschläge gibt es bereits. Walker würde es begrüssen, wenn sich die Stellung der Schweiz als Standort hoher Wertschöpfung verstärken liesse, indem man gezielt Steuervorteile für Forschungsaktivitäten schaffte. Dies beispielsweise dadurch, dass der Aufwand von Firmen für Forschung und Entwicklung mit mehr als 100 Prozent vom Reingewinn abgezogen werden dürfte. «So kann sich die Schweiz auch mit steuerlichen Mitteln zu einem attraktiven Standort für zukunftsträchtige Branchen machen», sagt Walker.

Widerstandskraft. Ein Kennzeichen des Modells Schweiz ist die ausgeprägte Fähigkeit, auf Widerstände mit innovativen Lösungen zu reagieren. Dies zum Teil erst nach langen politischen Diskussionen und im Streit, aber schliesslich doch erfolgreich. So wurde 1937 mit dem Friedensabkommen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Grundlage für eine neue, zukunftsträchtige Ordnung gelegt. In den siebziger Jahren reagierte die Uhrenindustrie auf den Absatzeinbruch mit der Lancierung der Swatch und mit dem Revival der automatischen Luxusuhr. In den letzten 150 Jahren hätten die Prozesse der Neuausrichtung in der Schweiz immer gegriffen, lautet das Fazit von Hansjörg Siegenthaler, emeritierter Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich (siehe Artikel «Krise! – Krise?» in BILANZ 9/2005).

Laut Siegenthaler zeigt die Wirtschaftsgeschichte auch, dass der Mensch generell dazu neigt, in unsicheren Zeiten Krisensignale überzubewerten. Die Furcht vieler Schweizer, das Ende aller guten Tage sei erreicht, ist jedenfalls kein Phänomen der heutigen Krise. 1889 schrieb der angesehene Ökonom Alfred Furrer im von ihm herausgegebenen volkswirtschaftlichen Lexikon der Schweiz, dass die Wirtschaft ihren Höhepunkt hinter sich habe. Mehr liege für das Land nicht drin, und er riet, man solle die Leute in Zukunft, um sie wenigstens etwas zu beschäftigen, Körbe flechten lassen.

Das Ende der guten Tage für die Schweiz war das Jahr 1889 indessen nicht – im Gegenteil, denn bald folgte ein einzigartiger wirtschaftlicher Quantensprung. Noch in den Jahren der Krise setzte die Wirtschaft, zuerst langsam und unbemerkt, getrieben von damals noch nicht absehbaren Innovationen in Elektroindustrie und Chemiebranche, zur bisher längsten und erfolgreichsten Wachstumsphase in der Geschichte an. Nichts deutet heute darauf hin, dass die Schweiz ihre Erneuerungskraft in der Zwischenzeit verloren hat.