An diesem Morgen macht es Jean-Christophe Babin, CEO von TAG Heuer spannend. Locker setzt er sich an seinen Arbeitstisch. Dann lächelt er. Und redet. Über die neuste Uhr des Hauses. Was sie kann. Was sie von allem bislang Dagewesenen unterscheidet. Und warum sie einzigartig ist.
Die Uhr steckt in einem hellbraunen Etui. Doch Jean-Christophe Babin lässt sich alle Zeit der Welt, bevor er die Uhr endlich langsam auspackt.
New Aquaracer Kaliber S heisst das Ding, laut TAG Heuer nicht weniger als «die Neuerfindung des Chronographen». Man muss es den Ingenieuren lassen: Mit dem Stück haben sie den Ruf ihres Arbeitgebers als besonders innovative Firma bestätigt: Die Kaliber S hat eine völlig neue Art, die gestoppte Zeit anzuzeigen.
Startet man den Chronographen, zeigt er die gestoppten Stunden und Minuten wie die reguläre Uhrzeit an. Sind also zum Beispiel 3 Stunden und 45 Minuten vergangen, stehen die Zeiger nach der Messung so, als wäre jetzt 3.45 Uhr. Der Sekundenzeiger zeigt die verstrichenen Sekunden an, eine besondere Skala ist für die Zehntelsekunden reserviert. Ein Knopfdruck auf die Krone genügt, und die Uhr zeigt wieder die reguläre Zeit an.
Was ein bisschen gewöhnungsbedürftig klingt, ergibt eine überraschend gut lesbare Uhr – viel lesbarer als die klassischen Stoppuhren mit den kleinen, runden Skalen. Vor allem aber passt der neue Zeitmesser nahtlos in eine Reihe von Innovationen, die das Renommee der Uhrenmanufaktur TAG Heuer begründet haben.
Letztes Jahr machte TAG Heuer Furore mit der Concept Watch Monaco V4. Statt Zahnrädern treiben 13 kleinste Keilriemen die Uhr an, statt eines Rotors liefert ein nur auf- und abbewegter, knapp über vier Gramm schwerer Platinbarren dem Werk die Energie. Die Monaco V4 ist ein komplett neues Konzept der mechanischen Uhr. Sie wurde prompt von der Avantgardezeitschrift «Wallpaper» zur Uhr des Jahres ernannt, das Beratungsunternehmen A.T. Kearney erhob mit dem Wirtschaftsmagazin BILANZ TAG Heuer zu einem der drei innovativsten Unternehmen des Landes, unzählige Auszeichnungen folgten (siehe Nebenartikel «Jean-Christophe Babin, CEO von TAG Heuer: Avantgarde gehört bei uns zum genetischen Code»).
Solche Kreationen sind typisch für das Unternehmen – um den innovativen Geist des Hauses zu verstehen, empfiehlt sich eine Rückblende.
Ende der sechziger Jahre war es, als eines der spannendsten Wettrennen der Schweizer Uhrenindustrie auf ihren Höhepunkt zusteuerte. Auf der einen Seite stand damals die Firma Heuer mit Partnern. Auf der Gegenseite stand Zenith, eine Uhrenfirma, die inzwischen wie TAG Heuer zum LVMH-Luxuskonzern gehört. In den sechziger Jahren, muss man wissen, gab es mechanische Chronographen, wie Uhrenfreunde die Stoppuhren nennen. Und es gab automatische Uhren, also mechanische Uhren, die man nicht aufziehen muss. Aber eine automatische Stoppuhr gab es nicht. Und so banal dies heute klingen mag, damals war es eine gigantische Herausforderung, den fehlenden automatischen Chronographen zu bauen – und damit der Erste auf dem Markt zu sein.
Für die Firma Heuer war Jack Heuer an vorderster Front dabei. Der heutige Ehrenpräsident erinnert sich noch bestens an die aufregenden Monate damals. Als die Firma Büren das erste automatische Werk mit einem Mikrorotor vorstellte, glaubte man zunächst, mit diesem Werk als Basis liesse sich die Sache machen. Doch die Hoffnungen zerschlugen sich zunächst, denn das Werk war eindeutig zu dick. 1966 kam Büren mit einem Nachfolgewerk. Es war nur noch vier Millimeter dick und das, so glaubte man bei Heuer, müsste eigentlich reichen. Heuer gab der Firma Dubois & Dépraz den Auftrag, ein entsprechendes Chronomodul zu bauen. «Das kostet», liess die Firma umgehend wissen, mit einer halben Million Franken, müsse man schon rechnen. «Zu viel», befand Jack Heuer und suchte nach Partnern. Weil man wusste, dass auch Breitling nach einer Lösung suchte, nahm man die damalige Genfer Firma mit ins Boot. Und auch der Werkebauer Büren wurde beteiligt. Zu dritt startete man das Abenteuer.
Herausgekommen ist eines der aufregendsten Werke der Schweizer Uhrengeschichte, das in keiner Sammlung eines ambitionierten Uhrenfreundes fehlt: das berühmte Kaliber 11. Auf das automatische Grundwerk wurde ein Stoppuhrmodul gepfropft. Das Kaliber 11 erkennt der Uhrenfreund noch heute auf einen Blick: Aus technischen Gründen gelang es nämlich nicht, die Krone auf drei Uhr zwischen die beiden Drücker der Stoppuhr zu setzen, wo sie sich normalerweise befindet. Darum steht die Krone einer Uhr mit Kaliber 11 links bei neun Uhr, sozusagen auf der falschen Seite. Werbetechnisch wurde der Fehler umgehend zum Programm erhoben: Die Krone stehe links, hiess es, weil man sie ohnehin nie brauche; schliesslich handle es sich um eine Uhr, die man nicht aufziehen müsse.
Für das Projekt war höchste Geheimhaltung verordnet worden. «Mein Vater war Oberst», lacht Jack Heuer, «entsprechend militärisch war die Geheimhaltung organisiert.» Dennoch muss die Konkurrenz von den Plänen bei Heuer Wind bekommen haben. Und machte der Firma einen gewaltigen Strich durch die Rechnung.
Im Januar 1969 kündigte Zenith mit einer sechszeiligen Pressemitteilung den ersten automatischen Chronographen an. Die kurze Meldung war wie ein Donnerschlag, und Zenith, so schien es zunächst, gewann das Rennen um den ersten automatischen Chronographen. Denn bei Heuer herrschte immer noch Geheimhaltung, obwohl 40 funktionierende Prototypen fertig waren. Am 3. März 1969 präsentierte Heuer dann das Stück an einer aufwändigen Pressekonferenz gleichzeitig in Genf und New York.
Auch Zenith, dies sei fairnesshalber erwähnt, präsentierte dann mit dem bezeichnenderweise El Primero genannten Werk ein Stück, das bald zum Klassiker wurde. In der Uhren-BILANZ von 2004 wird es zu den zehn wichtigsten Uhren der Schweizer Geschichte gezählt. Auch hier ist ein technisches Schmankerl der Grund für die Sammelwürdigkeit der Uhr: Es hat statt der üblichen 28 800 sagenhafte 36 000 Halbschwingungen pro Stunde und könnte deshalb sogar Zehntelsekunden mechanisch messen.
CEO Jean-Christophe Babin kennt diese Geschichte natürlich bestens. Vergnügt sitzt er in seinem Büro. Und wieder lächelt er. Momentan hat er allen Grund dazu. Denn TAG Heuer ist derzeit eine der wohl am meisten unterschätzten Uhrenmarken im Land. TAG Heuer ist der viertgrösste Uhrenproduzent, so viel steht fest, auch wenn die Firma, was das Publizieren von Zahlen anbelangt, eher geizig veranlagt ist. Irgendetwas zwischen einer halben und einer ganzen Million Uhren wird jährlich produziert, so viel wird hartnäckig fragenden Zeitgenossen erklärt – mehr Informationen sind indes nicht zu haben. IWC, dies zum Vergleich, produziert 60 000 Stück, Rolex rund 700 000.
Gut lachen kann Jean-Christophe Babin aber vor allem auch, weil er dieses Jahr an der Basler Messe eine der wenigen Sensationen präsentieren konnte: Mit der Kaliber 360 zeigte er die erste mechanische Armbanduhr der Welt, die auch Hundertstelsekunden stoppen kann. Mechanisch ist die Hundertstelsekunde zwar auch schon gemessen worden, das Patent dazu hatte bereits die Firma Heuer, aber eine kleine Armbanduhr hat das zuvor nie geschafft.
Für Männer, so geht der Spruch, ist die Uhr heute mitunter ein Ersatz für die elektrische Spielzeugeisenbahn, mit der sie als Erwachsene nicht mehr spielen dürfen. Für die Kaliber 360 Concept Chronograph trifft dies bestimmt ein bisschen zu. Denn einen automatischen Chronographen, der mechanisch Hundertstelsekunden stoppen kann, braucht eigentlich kein Mensch. Wer aber bei der Kaliber 360 auf den Startknopf drückt und ein bisschen Bub geblieben ist, freut sich riesig über den rasant drehenden Zeiger auf der kleinen Skala bei sechs Uhr. Sie ist es, die dann tatsächlich die Hundertstelsekunden zeigen kann.
An solch technische Meisterleistungen – die Uhr hat statt der üblichen 28 800 Halbschwingungen bei der Messung 360 000 –wagte Jack Heuer in den siebziger Jahren wohl nicht zu denken. Damals sah alles danach aus, als habe für die Schweizer Uhrenindustrie das letzte Stündchen geschlagen.
Die Krise hatte vor allem mit der Erfindung der Halbleiter zu tun, dank denen man plötzlich billigste Quarzuhren bauen konnte. Dazu kam, dass der Dollar von 4.30 Franken innert weniger Jahre auf 2.70 Franken, dann sogar unter zwei Franken fiel. Und als wäre dies nicht genug, kam noch die Ölkrise übers Land. Die Folgen waren absolut dramatisch: Innert weniger Jahre fiel die Zahl der Beschäftigten in der Uhrenindustrie von 90 000 auf 30 000, reihenweise schlossen Unternehmern für immer ihre Tore. Vor welche Probleme das die nach wie vor produzierenden Firmen stellte, ist heute kaum noch vorstellbar: «Es konnte vorkommen», erinnert sich Jack Heuer, «dass von einem Tag auf den anderen eine Uhr nicht mehr gebaut werden konnte, weil der Zulieferer der Werke aufgegeben hatte und nichts mehr lieferte.»
TAG Heuer profitierte später vom Revival der mechanischen Uhr und setzte konsequent auch auf Klassiker des Hauses, neben der quadratischen Monaco vor allem das Modell Carrera.
Die ersten Carrera und Monaco waren natürlich mit dem legendären Kaliber 11 bestückt. Und sie wurden vom Schweizer Autorennfahrer Joe Siffert sowie von Schauspielern wie Steve McQueen getragen. Auch das ist eine Innovation made by Heuer: Heuer war das erste Unternehmen ausserhalb der Automobilindustrie, das Sponsoring in der Formel 1 betrieb. Jack Heuer hatte die Idee dazu auf seiner USA-Reise. Und vergnügt erinnert er sich daran, wie durchschlagend der Erfolg war: Selbst auf Spielzeugautos wurde der Heuer-Kleber millionenfach appliziert – ein wunderbarer Werbeerfolg.
CEO Jean-Christophe Babin knüpft auch an diese Geschichte an. TAG Heuer ist derzeit offizieller Zeitnehmer und Sponsor des McLaren-Mercedes-Teams mit Kimi Räikkönen.
Wer innovativ ist, so die Überlegung dahinter, muss auf schöne Traditionen nicht verzichten. Ganz im Gegenteil.