«Muss ich selbst drücken?», fragt Wolfgang Schäuble ungläubig. Gerade hat der neu gewählte Bundestagspräsident mit seiner mit Spannung erwarteten Rede begonnen, da merkt er, dass seine Stimme im Rund des Bundestages gar nicht zu hören ist. Die Unkenntnis des längstgedienten Bundestagsabgeordneten, dass er als Präsident selbst das Mikrofon anschalten muss, sorgt erst einmal für Gelächter unter den 709 Parlamentariern im vollgepackten Reichstag – und schafft einen Moment der Lockerheit in einer ansonsten eher nervösen, angespannten ersten Sitzung des neuen Parlaments. Denn alle lauern seit dem Beginn der Sitzung um 11.00 Uhr darauf, ob es mit den Vertretern der AfD gleich zu Beginn einen Eklat geben wird.
Schäuble dimmt in seiner gut 20-minütigen Rede die Stimmung bewusst herunter. Die AfD erwähnt er mit keinem Wort – sondern belässt es bei allgemeinen Ermahnungen, dass «Töne der Verächtlichmachung und Erniedrigung» keinen Platz haben dürften. Der CDU-Politiker verzichtet auf ein rhetorisches Feuerwerk gegen Rechts- und Links-Aussen, bemüht sich eher um die Herstellung einer ruhigen Arbeitsatmosphäre
Alle Blicke auf die AfD
Das scheint auch nötig. Denn der neue Bundestag tagt gerade erst zwei Minuten, als um 11.02 Uhr bereits der erste AfD-Antrag in dieser Legislaturperiode abgelehnt wird. Alle anderen Fraktionen weisen den Wunsch zurück, die Regelung wieder rückgängig zu machen, dass nicht der älteste, sondern der dienstälteste Abgeordnete die Sitzung eröffnet.
Alle Kameras sind an diesem Vormittag auf die AfD-Fraktion gerichtet – jedes distanzierte Nicken zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und AfD-Fraktionschef Alexander Gauland, der Händedruck von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit Gauland um 13.03 Uhr wird genau vermerkt.
Selfie vor der Regierungsbank
Doch der Eklat bleibt aus: Die 92 AfD-Neulinge sitzen brav am rechten Rand des Plenums und verhalten sich wie alle anderen auch: Applaus bei eigenen Anträgen, ab und zu sogar Klatschen für andere Redner. Ganz hinten sitzen auf zwei Katzenstühlen die Fraktionslosen Frauke Petry und Marco Mieruch. «Die sind kaum zu sehen», mault der FDP-Politiker Hermann Otto Solms, der die Eingangsrede hält.
Gleichzeitig herrscht eine Stimmung wie am ersten Schultag in einem Parlament, in dem überwiegend Männer sitzen. AfD- und FDP-Politiker, die erstmals in den Bundestag einrücken, fotografieren sich gegenseitig. Die bisherige AfD-Europapolitikerin Beatrix von Storch fertigt ein Foto von sich vor der Regierungsbank an. Auf der Zuschauertribüne sitzen der FDP-Grande Rainer Brüderle neben dem AfD-Parteichef Jörg Meuthen - wenn auch eher schweigend. Es werden viele Hände geschüttelt, durchaus über Parteigrenzen hinweg.
An den erbitterten Sitzstreit, bei dem die FDP nicht neben der AfD sitzen wollte, denkt niemand, wenn er den FDP-Abgeordneten Michael Theurer mit den AfD-Kollegen neben sich tuscheln und scherzen sieht. Merkel bewahrt unterdessen ihr Pokerface, während die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel mehrfach verächtlich das Gesicht verzieht, als Schäuble spricht.
Erste erfolgreiche Abstimmung
Aber so sehr die Aufmerksamkeit auch auf der AfD liegt: Viel entscheidender ist, dass schon das erste Zusammentreffen im Bundestag zum politischen Schlagabtausch und zur Positionsbestimmung genutzt wird. Um genau 12.00 Uhr stimmen etwa die Fraktionen der sich anbahnenden Jamaika-Koalition erstmals erfolgreich gemeinsam ab, um einen Geschäftsordnungsantrag der SPD abzuschmettern.
Merkel bemüht sich in Pausen mehrmals zu Grünen-Parteichef Cem Özdemir. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Hasselmann, empört sich, dass die SPD sie mit dem Geschäftsordnungsantrag zu einer viermaligen Kanzlerinnen-Befragung im Jahr «vorführen» wolle – und gibt dem früheren Wunschpartner dann noch spöttisch Tipps für die Opposition.
Bei so viel Übereinstimmung der Jamaikaner fällt kaum ins Gewicht, dass der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Marco Buschmann, in seiner Rede nochmal betont, dass die Liberalen ja noch gar nicht entschieden hätten, ob sie nun in die Regierung oder die Opposition gingen. Denn alle wissen zu diesem Zeitpunkt: Am Dienstagabend um 18.00 Uhr finden die ersten inhaltlichen Jamaika-Sondierungen statt. Und die vier Parteien fühlen sich in der Mitte des Parlaments sichtlich wohl.
Vergleich mit Hermann Göring «geschmacklos»
Die SPD ist dagegen durch die Sitzordnung weiter nach links gerutscht – zumindest optisch. Und als erster SPD-Redner kann es Carsten Schneider schon nach 28 Minuten der Sitzung nicht abwarten, sich endlich vom bisherigen Koalitionspartner Union distanzieren zu können: Kanzlerin Merkel wirft der Parlamentarische Geschäftsführer vor, mit Einzelinterviews in Talkshows die AfD mit gross gemacht zu haben – und löst die erste Empörung der Unionsfraktion im neuen Bundestag aus.
Ohnehin geben die jeweils fünfminütigen Beiträge der sechs Fraktionen in der Geschäftsordnungsdebatte einen ersten Eindruck von der Schlachtaufstellung der kommenden vier Jahren – bis hin zum Vergleich des AfD-Politiker Bernd Baumann, der die Änderung des Ältestenpräsidenten mit dem Vorgehen von Hermann Göring im Reichstag 1933 vergleicht – was Buschmann danach unter breitem Applaus als «geschmacklos» kritisiert.
Am Ende mahnt Schäuble, dass es in den kommenden Jahren auch viel auf den Stil des Umgangs miteinander ankomme, wenn der Bundestag sein Recht als zentraler Ort der politischen Auseinandersetzung zurückerobern wolle. Für die Kontrolle über den Stil weiss er seit der Sitzung zumindest, wo der Knopf ist, um Mikrofone an – und auszustellen.
(reuters/ccr)