Der Alfred-Escher-Biograf Joseph Jung begeistert mich als Nichthistoriker und Wirtschaftspraktiker mit seinem vielseitigen, reich illustrierten Werk über die Schweiz im 19. Jahrhundert.
Denn er beschreibt ohne Akademikerkauderwelsch, sondern leicht verständlich und packend, wie die Schweiz die Grundlagen für ihren Reichtum geschaffen hat. Die Kapitelgliederung erlaubt es, die Entwicklung der einzelnen Wirtschaftssparten auch separat zu lesen.
Das Panorama mit vielen mir bislang unbekannten Bildern beginnt mit der Entdeckung der Schönheit der einst so gefürchteten Alpenwelt. Es waren vor allem Ausländer, die den Alpinismus und den Tourismus in unserem Land für alle Welt populär machten.
Anstelle einfacher Herbergen entstanden nach und nach wahre Hotelpaläste, selbst in abgeschiedenen Gebirgsgegenden. Zudem entdeckte man den Sport und die Heilkräfte von Sonne, Höhenluft und Mineralquellen.
Die Auswanderung war Folge der noch immer herrschenden Armut, bedeutete aber auch den Aufbruch von tüchtigen Pionieren und wirtschaftlichen Leistungsträgern. Manche scheiterten, einige aber hatten im Ausland enormen Erfolg. Ohne den systematischen Ausbau der Verkehrswege – spät, aber energisch und privatwirtschaftlich vorangetrieben – hätte die Schweiz den wirtschaftlichen Anschluss verpasst. Zuerst wurden die Wasserstrassen mit Dampfschiffen und die Alpenstrassen mit Postkutschen genutzt, ab 1847 erfolgte der Ausbau des Bahnnetzes. Das Eisenbahngesetz von 1852 dürfte das wichtigste Gesetzeswerk sein, das unser Parlament je geschaffen hat. Abenteuerliche Bergbahnen führten bald auf schwindelerregende Gipfel.
Die Industrialisierung im Textil- und Maschinenbereich, aber auch bei Uhren, Schokolade, Milchprodukten, Farben, Chemie und Pharma liest sich höchst spannend. All dies wäre aber nicht möglich gewesen ohne den zeitgleich aufsteigenden Finanzplatz und ohne die Versicherungen und global tätigen Handelshäuser. Dass es einer immer effizienter betriebenen Landwirtschaft gelang, die wachsende Bevölkerung zu ernähren, war ebenso bedeutsam wie die Energiegewinnung. Ein zunehmend besseres Bildungssystem auf Stufe Volksschule, Oberstufe, Berufsschulen, Gymnasien, Universitäten und vor allem der ETH sicherte die entsprechende Ausbildung.
Schliesslich kommt der Autor auch auf die politischen Grundlagen dieses atemberaubenden Aufstiegs zu sprechen: Es handelt sich um die freiheitliche Bundesverfassung von 1848, die auch die Interessen der kleinen Kantone berücksichtigte.
Gegen Ende des Jahrhunderts gelang die Versöhnung mit den im Sonderbundskrieg unterlegenen katholisch-konservativen Orten, indem auch der Gründungsmythos der Innerschweizer Orte und der Bundesbrief von 1291 zur Bildung einer eigentlichen schweizerischen Nation herangezogen wurden.
Joseph Jung hat – im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Historikern – grosses Verständnis für die Bedeutung der freien Marktwirtschaft. Man würde sich heute nach der Lektüre von Jungs Buch mehr Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft mit dem Wagemut und Optimismus des 19. Jahrhunderts wünschen.