Thomas Wellauer mag es nicht, wenn man ihn ehrgeizig nennt. Einen negativen Beigeschmack habe dieses Adjektiv. Auf sich wolle er es nicht bezogen wissen, auch wenn es häufig als Erstes genannt wird, wenn er beschrieben wird. Ambitioniert sei der passendere Ausdruck, befindet Wellauer. Und das sei er zweifellos. Denn: «Ohne Ambitionen stirbt der Mensch ab.» Die Ambitionen des 44-Jährigen gehen weit. Er ist nicht nur Chef der Winterthur-Versicherung, dem Schweizer Marktführer und drittgrössten Ertragsbringer der Credit Suisse Group. Er ist auch der engste Vertraute von CS-Chef Lukas Mühlemann und gilt intern bereits als dessen natürlicher Nachfolger, wenn der 49-Jährige nach der Übernahme des VR-Präsidiums im Mai 2000 den operativen Chefposten abgeben sollte. Doch über Personalfragen redet der jüngste Spartenchef der neunköpfigen CS-Konzernleitung ungern. Der Mann, dessen einzige Schwäche laut wohl wollenden Mitarbeitern darin besteht, dass er das Rampenlicht zu stark meide, will an diesem Sommermorgen im frisch renovierten Hauptsitz der «Winterthur» vor allem über seine Sache sprechen - die Positionierung der Credit Suisse in der neuen Finanzwelt.
«Ich habe eine klare Meinung, in welche Richtung die Finanzindustrie sich entwickelt», betont er. Und nennt die Argumente, die er gegenüber Mitarbeitern und bei Vorträgen stetig wiederholt: Bank und Versicherung verschmelzen, es entsteht ein einziger Allfinanzmarkt aus Steuer-, Anlage- und Versicherungsprodukten, und der wächst in den nächsten fünf Jahren weltweit um nicht weniger als zehn Billionen Franken, davon allein 2,5 Billionen in Europa. «Meine Ambition ist, dass wir uns in diesem Wachstumsmarkt richtig positionieren.» Doch das ist das Problem: Mit ihrer gegenwärtigen Struktur der fünf Geschäftseinheiten ist die CS-Gruppe aus Wellauers Sicht eben nicht richtig positioniert. Setzt er sich durch, steht der CS ein weiterer Umbau bevor. Begonnen hat er bereits.
PFS, für Personal Financial Services, lautet das Kürzel, hinter dem sich die Sprengkraft verbirgt. Die neue Einheit, von Wellauer aufgebaut und geleitet, bietet wohlhabenden Privatkunden Rundumbetreuung für ihre Finanzbedürfnisse: vom Hypothekarvertrag über Fonds bis zur Lebensversicherung und Steueroptimierung. Erster Testmarkt der neuen Einheit ist die im April neu gegründete Credit Suisse Italien. Dort sind bereits mehr als 200 so genannte Personal Banker im Einsatz, bis Ende des Jahres sollen es 300 sein. Zusammengezogen wurden sie aus der «Winterthur», dem Asset-Management der Credit Suisse und dem Private Banking. Das ist ein Frontalangriff auf die bisherige Gruppenstruktur, die nach fünf verschiedenen Kundensegmenten organisiert ist - der heimischen Credit Suisse für die Kleinkunden, dem Private Banking für die Privatkunden, dem Asset-Management für die institutionellen Anleger, der Credit Suisse First Boston für die Grossunternehmen und der «Winterthur» für die Versicherungskunden. Italien ist für Wellauer erst der Anfang.
Seine 30-köpfige PFS-Arbeitsgruppe in Zürich plant die weiteren Schritte. Natürlich äussert sich Wellauer vorsichtig. Noch sei PFS ein Projekt, das Zeit brauche. Erst Anfang 2000 sollten weitere Länder folgen. Doch dann sagt er Sätze wie: «Was das organisatorisch bedeutet, müssen wir schauen.» Oder: «Im Moment machen wir das ausserhalb der Schweiz. Da müssen wir nicht Rücksicht nehmen auf das Bestehende.» Der Moment, in dem das wellauersche Konzept auch auf den Heimmarkt übertragen wird, steht bevor, und er wird für viele Mitarbeiter schmerzhaft werden. «Die jetzige Struktur ist bereits drei Jahre alt», sagt ein hochrangiger CS-Manager. «Der Gruppe steht eine neue Umstrukturierung bevor.» Aus ihr dürfte Wellauer als der klare Sieger hervorgehen.
Hinter dem Umbau steht Mühlemann, der mit dem Rückzug des langjährigen VR-Präsidenten Rainer Gut endlich seine eigene Version eines integrierten Allfinanzkonzerns umsetzen kann. Die jetzige Struktur, eine wenig originelle Kopie des damaligen Bankverein-Modells, wurde noch von Gut konzipiert, und Mühlemann blieb bei seinem Amtsantritt im Januar 1997 lediglich ihre Einführung. In der Nach-Gut-Ära ist Mühlemann der Antreiber und Wellauer sein Exekutor. McKinsey, für beide in ihrem Denken und Handeln noch immer die Heimat, verbindet eben ein Leben lang. 1985 stellte Mühlemann, damals bereits acht Jahre bei der Unternehmensberatung und seit drei Jahren Partner, Wellauer bei der Unternehmensberatung ein. Der hatte ein Doppelstudium zum Chemieingenieur (ETH Zürich) und Betriebswirt (Uni Zürich) hinter sich. «Er verströmte schon damals eine riesige Energie», erinnert sich eine Kommilitonin. «Wellauer war ein Karrieretyp, doch immer sehr beliebt.» Neben dem Studium organisierte er Reisen für die SSR-Reisen in Zürich und fand noch Zeit für Tennis und ausgiebige Schachpartien.
Mühlemann imponierte neben Wellauers Ausbildung vor allem dessen Fähigkeit, Konflikte zu schlichten und seine Mitarbeiter zu motivieren. Die beiden fanden schnell zueinander. «Sie bildeten das engste Tandem damals bei McKinsey Schweiz», erinnert sich ein McKinsey-Mitarbeiter. Mühlemann war als Partner auch für Wellauers Entwicklung zuständig und zog ihn nach - Wellauer folgte ihm als Chef der Finanzberatungsgruppe und betreute zeitweise auch die Pharmabranche. Auch übernahm er Mühlemanns Vorliebe für Zigarren und die McKinsey-Tradition von Morgenmeetings, die heute in der CS-Konzernleitung noch Bestand hat. Doch Wellauer sei seinen eigenen Weg gegangen, betont ein anderer hochrangiger McKinsey-Manager, was schon seine Aufenthalte bei McKinsey New York und Tokio zeigten.
Unter den McKinsey-Mitarbeitern erfuhr Wellauer grössere Loyalität als Mühlemann. «Dem lagen seine Mitarbeiter wirklich am Herzen», sagt ein Ex-McKinsey-Manager. «Welli» lud sie schon mal in sein Haus in Erlenbach ein, wo er auch heute noch mit Frau und zwei Töchtern - ein drittes Kind ist unterwegs - lebt. Die spärliche Zeit, die ihm bei seinen 14-Stunden-Tagen bleibt, verbringt er ausschliesslich mit der Familie: «Für Hobbys bleibt keine Zeit, da muss man realistisch sein.» Auch sein Abschied von der Unternehmensberatung folgte jedoch dem Vorbild Mühlemanns. Der war als Mc-Kinsey-Chef Schweiz auf den Chefsessel der Schweizer Rück gewechselt. Jetzt machte es ihm Wellauer - «es stand für mich immer fest, dass ich einmal operativ tätig sein wollte» - nach. Als Peter Spälti einen Nachfolger suchte, empfahl ihm Mühlemann seinen Weggefährten Wellauer. Der betreute bei McKinsey bereits seit mehreren Jahren die «Winterthur» und kannte Spälti daher gut.
Die Ära Spälti beendete Wellauer unsentimental. Der «Winterthur»-Patriarch hatte sich anfänglich gegen eine Allfinanzstrategie und den Einstieg in die Vermögensverwaltung gesträubt, was ihm eine deutlich geringere Börsenkapitalisierung einbrachte als dem ewigen Rivalen «Zürich» und ihn letztlich über die Attacke des BZ-Bankiers Martin Ebner im Sommer 1997 in die Arme der CS trieb. «Mir wurde immer klarer, dass die reine Versicherung nur noch als Nischenanbieter bestehen kann», erinnert sich Wellauer an die Phase nach seinem Amtsantritt als «Winterthur»-Chef im Oktober 1997. «Wir mussten uns entscheiden - entweder ein Spezialist zu werden oder in Richtung Finanzdienstleistungen zu gehen.» Wellauer, schon bei McKinsey vom Zusammenwachsen von Bank und Versicherung überzeugt, begann einen Prozess, bei dem alles auf den Prüfstand kam und drei Generaldirektoren gehen mussten. «Vor seinem Eintritt wurden die Entscheide oft aus Emotionen heraus getroffen», erinnert sich ein «Winterthur»-Konzernleitungsmitglied. «Wellauer zog alle Daten zusammen, analysierte gründlich und traf dann sachliche Entscheidungen.» Seinem VR-Präsidenten Spälti lässt er die Auftritte vor grossem Publikum, wie unlängst bei der Winkonferenz, bei der die «Winterthur» alljährlich hochkarätige Wirtschaftsvertreter zusammenbringt. Bei den «Winterthur»-Pressekonferenzen darf vor allem der redegewandte Anlagechef Erwin Heri brillieren. Doch hinter den Kulissen ist Wellauer der Chef.
Der Strategieprozess der «Winterthur» führte direkt zur Gründung der Personal-Financial-Services-Einheit. Denn wenn die Märkte der persönlichen Finanzdienstleistungen wirklich zusammenwachsen, wie Wellauer prognostiziert, dann muss die Führung aus einer Hand erfolgen. Ende 1998 bekam Wellauer von Mühlemann das Mandat zur Bildung dieser Einheit. Heute verbringt Wellauer den Vormittag meist in der CS-Zentrale am Paradeplatz.
Wie könnte eine neue Gruppenstruktur nach der Wellauer-Vision aussehen? Mühlemann nennt zwei Hauptaktivitäten der Gruppe - einerseits Vermögensverwaltung für Kleinkunden, wohlhabende Privatkunden und institutionelle Anleger, andererseits die Vermittlung von Finanzdienstleistungen - Financial Intermediation - für Unter- nehmen und Staaten. Derzeit treten die fünf CS-Einheiten noch direkt mit diesen Kundengruppen in Kontakt. In einer neuen Struktur wären sie jedoch nur noch Produktlieferanten für einen Distributionskanal. Die Vermögensverwaltung wäre auf der Distributionsseite unterteilt in eine Personal-Financial-Services-Einheit, die Privatkunden mit einem Vermögen bis zu etwa fünf Millionen Franken vollständige Finanz- betreuung bietet, und eine Institutional-Service-Einheit, die die reichen Privatkunden über fünf Millionen Franken Vermögen und die institutionellen Anleger betreut. Die zweite Sparte wäre eine CS Financial Intermediation, die vor allem aus der CSFB und der Winterthur International, dem Versicherungsgeschäft für Grosskunden, besteht und Unternehmen und Staaten Kapitalaufnahme oder Fusionsberatung anbietet. Alle Einheiten müssten mit Konkurrenzprodukten um den Kunden kämpfen. Schon heute geht die Gruppe in diese Richtung: Das Fundlab bietet Fonds von der Konkurrenz an, und auch Wellauer offeriert seinen Versicherungskunden Konkurrenzpolicen, wenn diese besser sind. Die Veränderungen wären einschneidend: Wellauer als Chef der Personal-Financial-Services-Einheit wäre den Einheiten CS, Asset-Management und teilweise Private Banking vorgesetzt.
Für viele langjährige «Winterthur»-Mitarbeiter wäre eine derartige Struktur der Beweis, dass Consultants keine emotionale Beziehung zu Mitarbeitern und Traditionen haben, sondern Markennamen und Kundenbeziehungen beliebig verschieben. Für Wellauer wäre es ein Schritt, den er als Berater schon oft empfohlen hat: Anpassung an einen Wandel, der nicht aufzuhalten ist. Selbst in seinem offiziellen Lebenslauf, den die «Winterthur» verteilt, heisst es: Von 1986 bis heute - McKinsey & Company.