BILANZ: Herr Sedlácek, Ihr Buch über die «Ökonomie von Gut und Böse» wurde ein Weltbestseller. Verstehen Sie heute, warum?
Tomáš Sedlácek*: Ich dachte vorher nur, dass das Buch in den akademischen Zirkeln gelesen würde. Dass es so populär wurde, hat mich sehr überrascht.
Aber es hat Sie sicher erfreut.
Klar. Seit meinen ersten Studien war ich immer an einem anderen Blick auf die Ökonomie interessiert. Seitdem versuche ich, über den dominant vorherrschenden mathematisch-analytischen Ansatz hinauszuschauen. Daher habe ich andere Disziplinen studiert, um zu verstehen, wie die Ökonomie geboren wurde: die Moral- und die politische Philosophie, die Theologie, Kunst und Literatur. Obschon wir herausfinden, dass die Ökonomie lediglich als eine Teilmenge dieser Disziplinen entstanden ist, wissen wir bis heute nüchtern betrachtet herzlich wenig über die Beziehungen zwischen diesen.
Sie treffen wohl auch den Zeitgeist. Seit der Finanzkrise zählen die Kritiker der Mainstream-Ökonomen bereits selbst zum Mainstream.
Sie haben recht. Mit dem Schreiben an diesem Buch habe ich lange vor der Krise begonnen, es ist dann 2009 erschienen. Die Krise sorgte dafür, dass so viele danach griffen, die den Mainstream-Ansatz nicht mehr als hilfreich empfinden. Das hat die Debatte angeregt.
Sie kritisieren, dass die ökonomische Annahme rationaler Märkte missverstanden wird und nicht als Denkmodell, sondern als ökonomische Realität betrachtet wird.
Sie hören es immer wieder: Blasen, Über- und Unterbewertungen von Wertpapieren oder Währungen. Das bedeutet ganz einfach, dass sich der am Markt gebildete Preis vom Wert wegbewegt hat. Mit anderen Worten: Die Märkte liegen falsch, der Preis weicht vom Wert ab. Aber wer kennt den wahren Wert dieser Dinge? Den Wert von Gold zum Beispiel?
Analysten versuchen es zumindest.
Sie behaupten, Modelle zu haben, die ihnen das sagen. Aber diese Modelle beruhen auf der Annahme, dass sich die Märkte rational verhalten, während das Ergebnis uns zeigt, dass sie es nicht tun. Deswegen werden Märkte als «falsch» und Analysen als «richtig» angesehen. Sie können es aber auch einfach umgekehrt sehen: Die Märkte liegen richtig und die Modelle falsch. Oder beide.
Ist es aber nicht so, dass die Annahme der Rationalität stimmt, wenn wir auf einen einzelnen Wirtschaftsteilnehmer schauen: Der CEO eines Unternehmens trifft ja durchaus rationale Entscheidungen, die zwar nicht im Interesse des Unternehmens, aber in seinem persönlichen Interesse vernünftig sind – zum Beispiel wenn er seinen Bonus optimiert.
Wir erachten Profitmaximierung als rationales Verhalten, aber das ist eine enge Sicht von Ratio. Wir glauben nur, dass bestimmte Vorgänge rational sind. Doch das hängt nur von der Schule des Glaubens ab, nicht der Schule des Denkens.
Managementlehre als Religion?
Wir lehren die künftigen Manager nicht, zu denken wie ein Ökonom, wir lehren sie, zu glauben wie ein Ökonom! Zu glauben, dass bestimmte Dinge wichtig sind und andere nicht.
Aber wie sollen die Wirtschaftswissenschaften ohne Modelle funktionieren?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist okay, wenn wir Annahmen treffen. Aber es ist falsch, an sie zu glauben.
Ein Beispiel?
Es ist okay anzunehmen, dass die Menschen rationale Wesen seien. So wie es in Ordnung ist anzunehmen, dass die Reibung der Luft im freien Fall keine Rolle spiele. Es ist aber nicht okay, auf religiöse und philosophische Weise zu glauben, dass sie rational seien. Dann nämlich werden Ökonomen zu den Gläubigen ihrer eigenen Mythologie.
Womit wir bei Ihrer Kernkritik der ökonomischen Lehre sind, die davon ausgeht, dass wir nur Dinge tun, die einen wirtschaftlichen Sinn ergeben.
Genau. Diese ökonomische Ethik wurde zur führenden ethischen Schule, besser: zu einer Religion. In der gesamten globalisierten Welt. Ökonomie ist in erster Linie eine Ideologie. Und wir sollten sie auch so behandeln.
Zurück zu unserem rational handelnden CEO. Einzelne Bankmanager vermehrten ihr Vermögen sehr rational.
Rational ist nicht das Gleiche wie gut. Wir alle wissen das aus unserem persönlichen Leben. So wie es Blaise Pascal gesagt hat…
… der französische Mathematiker und christliche Ethiker des 17. Jahrhunderts …
Ja, Pascal sagte: Die höchste Form der Erkenntnis ist es, dass der Verstand seine eigenen Grenzen erkenne. Ich denke, wir sollten vernünftig sein. Nicht rational.
Wo sehen Sie den Unterschied?
Vernünftig meint, dass jemand die Grenzen seiner Vernunft erkennt und andere Beweggründe ebenso berücksichtigt. Adam Smith, der Begründer der klassischen Ökonomie, hat zwei Bücher geschrieben. Eines davon, «Wohlstand der Nationen», vermittelte den Eindruck, dass rationales Eigeninteresse unter Geringschätzung der Schmerzen und Nutzen der anderen das Einzige ist, was die Gesellschaft zusammenhält. Das zweite Buch, seine «Theorie der ethischen Gefühle», zieht diese Sicht in Zweifel. Darin spricht er davon, dass vor allem die gegenseitige Sympathie als natürliches Band die Menschheit zusammenhält.
Ist nicht beides richtig?
Ja, aber die Ökonomie sollte auf diesen beiden Beinen stehen. Wenn sie nur auf einem dieser Beine steht, dann wird sie aus dem Gleichgewicht geraten.
Das spüren wir dann ja auch.
Rationalität ohne Empathie ist eine Versündigung an der Rationalität. So wie wir Sünden der Gefühle haben, so haben wir auch Sünden der Rationalität. Der Holocaust war ein Beispiel einer Rationalität, die frei von Sympathie war, wie es der polnische Philosoph Zygmunt Bauman erklärte. Und diese Sünden sind sehr viel gefährlicher …
… als perfektionierte rationale Entscheidungen des Grauens.
Sie können eine perfekte, rationale Entscheidung treffen, die keine gute Entscheidung ist. Die Gaskammern erschienen den Tätern als sehr effizienter und rationaler Weg nach vorne. Oder sagen wir es mit einem anderen Philosophen, mit David Hume: Es kann rational sein, wenn ich lieber die Zerstörung des ganzen Kontinents will als einen Ritz an meinem Finger.
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*Tomáš Sedlácek lehrt an der Prager Karls-Universität, ist Chefökonom der grössten tschechischen Bank und war Berater des verstorbenen Präsidenten Václav Havel. Sedlácek (38) erschüttert den Glauben an die ökonomischen Modelle und kommt auf die philosophischen Grundlagen zurück. Am 8. Mai spricht er in Zürich am Mindful Leadership Symposium. Das eintägige Symposium zum Thema «The Age of Enoughism / Das Zeitalter der Genügsamkeit» zeigt in zehn Referaten, drei Debatten und konkreten Mindful Practices auf, wie nachhaltig sich achtsame Führung auswirkt: Auf Teams, Organisationen, Kunden und auf die Führungskräfte selbst.