Eine Tomate gegen Angela Merkel in Heidelberg, massive Störversuche der Rede der CDU–Vorsitzenden in Torgau und anderen ostdeutschen Orten – der Bundestags-Wahlkampf ist in den vergangenen Tagen vor allem für Kanzlerin Merkel härter geworden.
Aber nicht nur sie hat darunter zu leiden. Denn systematische Störungen, Vandalismus und in Einzelfällen auch Gewalt sind an der Tagesordnung – und der Personenschutz etwa für türkisch-stämmige Politiker wie den Grünen-Spitzenkandidaten Cem Özdemir ist schon seit Wochen wegen der Auseinandersetzung mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verstärkt worden.
Diebeslust auf Wahlplakate
Exemplarisch hat etwa das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern bis zum 5. September 74 Straftaten im Zusammenhang mit dem Wahlkampf zusammengetragen. In den meisten Fällen handelt es sich um die Beschädigung oder den Diebstahl von Wahlplakaten – ein Phänomen, das schon bei der Landtagswahl 2016 vermehrt auftrat.
Dabei stammen laut Polizeistatistik mehr als 40 Prozent der beschädigten Wahlplakate von AfD und NPD – die allerdings auch häufiger Zerstörungen melden als andere Parteien. «Das passt zum Opfer-Image, das sich beide Parteien gerne geben», heisst es dazu in der Union.
Reserven gehen zur Neige
Dabei sind auch andere Parteien massiv betroffen: «Die Zahl der zerstörten Plakate hat gegenüber früheren Bundestagswahlkämpfen deutlich zugenommen, betroffen ist rund ein Fünftel der aufgehängten Plakate», sagt etwa Linkspartei-Sprecher Hendrik Thalheim.
«Bei den Grossflächenplakaten reicht mittlerweile die Reserve nicht mehr aus, um die zerstörten Plakate zu ersetzen. Kleine Plakate werden teilweise strassenzugsweise abgehängt.» Dazu kommen Brandanschläge: Im August brannten in Herne zwei Fahrzeuge der SPD-Bundestagsabgeordneten Michelle Müntefering.
Busladungen mit Störern
Die Rechtsaussen-Parteien AfD und NPD wiederum stören Merkels Wahlveranstaltungen systematisch. Vor allem in Ostdeutschland wird bei Auftritten der Kanzlerin gepfiffen, gebuht, es werden Parolen wie «Hau ab» gebrüllt.
Störer werden dabei wie in Torgau mit Bussen auch aus anderen Gegenden angekarrt. Dabei, so berichten Beobachter übereinstimmend, treten sowohl AfD, NPD, als auch die sogenannte Identitäre Bewegung oder Anhänger der Anti-Flüchtlings-Protestbewegungen wie Pegida oder der thüringischen Thügida auf.
Merkel im Visier
Nicht immer bleibt es bei verbaler Aggressivität: Im thüringischen Vacha wurde am Rande eines Merkel-Auftritts ein Anhänger der Jungen Union verprügelt. In Finsterwalde wurde laut Medienberichten Strafanzeige gegen zwei Männer gestellt, die am Rande des Merkel-Auftritts den Hitlergruss zeigten. Zudem wurden zwei prügelnde Männer kurzzeitig festgenommen.
«Störungen von Kundgebungen der Linken sind nicht so gravierend. Da scheint sich die AfD sehr auf Merkel zu konzentrieren», meint Linkspartei-Sprecher Thalheim und beschreibt dabei eine Erfahrung auch der anderen Parteien. Selbst CDU-Veranstaltungen ohne die Kanzlerin werden meist in Ruhe gelassen.
Hassfigur der Rechtsradikalen
Für Forsa-Chef Manfred Güllner ist dies wenig verwunderlich: «Merkel ist wegen der Flüchtlingspolitik die Hassfigur der Rechtsradikalen», sagt er. «Mit solchen Aktionen bei Merkel-Auftritten, die in den eigenen Gruppen in sozialen Netzwerken fleissig geteilt werden, mobilisieren rechte Gruppen ihre Anhänger.»
Dabei verläuft der Wahlkampf auch im Osten ansonsten meist ruhig – wie übrigens auch bei einem Merkel-Auftritt in Greifswald. Und in westdeutschen Grossstädten wie Bremen wagen Rechtspopulisten ohnehin keinen grossen Auftritt.
Gegen den offiziellen AfD-Kurs
Am Donnerstag distanzierte sich die AfD aber von den Gruppen: «Das Stören von Veranstaltungen von demokratischen Parteien ist kein guter Stil und sollte unterbleiben», sagte AfD-Sprecher Christian Lüth auf Anfrage. «Wir organisieren keine systematischen Störaktionen.»
Etwa mit NPD und der Identitären Bewegung habe die AfD nichts zu tun. Lüth verwies aber darauf, dass auch AfD-Veranstaltungen «regelmässig durch teils sogar gewalttätige Proteste» gestört würden.
Gelassene Kanzlerin
Fragt sich, was in den verbleibenden 18 Tagen des Wahlkampfes passiert. In der Union gab es seit längerem die Erwartung, dass radikale rechte Gruppen noch aggressiver auftreten könnten, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – der Tomatenwurf in Heidelberg könnte ein Hinweis gewesen sein.
Merkel selbst will den gezeigten Hass nun für sich und die Mobilisierung der Union nutzen: «Sie spüren ja hier auf diesem Platz, es wird am 24. September darauf ankommen», rief sie ihren Anhängern auch in Torgau zu, nachdem sie ihre Rede ungerührt vom Lärm gehalten hatte.
Das Gebrüll der meist männlichen Störer mache jedem klar, wo man selbst stehe, heisst es intern. Die CDU-Granden hat Merkel jedenfalls dazu verdonnert, bewusst auch im Osten aufzutreten, um der AfD dort nicht das Feld zu überlassen.
Proteste können nutzen
«Viele Menschen, die sich den Trillerpfeifenkonzerten und den Sprechchören nicht anschliessen, brauchen Ermutigung dafür, weiter Zivilcourage zu zeigen und dem Hass entgegenzutreten», sagte sie im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Nicht provozieren lassen, ist die oberste Devise. «Schaden werden Merkel die Proteste auf keinen Fall – vielleicht sogar nutzen», meint Forsa-Chef Güllner.
Im übrigen aber warnen alle vor Übertreibungen. Denn auch früher wurden Wahlveranstaltungen von gegenseitigen Störungen begleitet. Und eine Sprecherin des Landeskriminalamtes in Mecklenburg-Vorpommern verweist darauf, dass das Niveau des Vandalismus derzeit auf dem Niveau von 2013 liege – aber unterhalb der Zahlen des aufgeheizten Landtagswahlkampfes 2016.
(sda/jfr)