Es ist sehr schwierig, einem Schweizer zu erklären, was Cricket ist. Wir kommen heute nicht drum herum, machen es aber kurz.
Cricket muss man sich so vorstellen: Ein Spieler nimmt einen faustgrossen Stein, holt Anlauf und wirft diesen Stein gegen seinen Gegner, der zehn Meter entfernt steht. Er wirft den Stein möglichst hart, damit es den Gegner auch richtig schmerzt, wenn er ihn trifft. Der Gegner hält zur Abwehr des faustgrossen Steins nur ein Holzstück in Händen.
Das ist es. Cricket ist eine der brutalsten Sportarten dieses Planeten. Viele wissen dies nicht und denken, weil die Cricketspieler stets in Weiss gekleidet sind, es handle sich um ein sanftes Sonntagsvergnügen.
Ein Cricketspiel dauert fünf Tage, sieben Stunden pro Tag. Jeden Tag auf die Sekunde genau um 13.00 Uhr lassen die Spieler ihre faustgrossen Steine und Holzstücke fallen und gehen zum Lunch. Wir, die Zuschauer, tun das auch, breiten auf dem Rasen unsere Decke aus, öffnen unsere mitgebrachten Picknickkörbe und machen uns über den Champagner, die Gänseleber, den Hummer, den Château Margaux und den Whisky her.
Wir sind im Lord’s, dem berühmten Cricketstadion im Borough of Westminster von London, gleich um die Ecke von Madame Tussaud’s. Es ist Mitte Juli, und wir haben die vier härtesten Wochen des Jahres hinter uns, den alljährlichen Härtetest der männlichen Leber. Vier Etappen hat der Härtetest, der für jeden Anhänger der klassischen Männersportarten eine Pflichtübung ist.
Die erste Etappe startet am 20. Juni bei den Pferderennen in Royal Ascot, eine Stunde ausserhalb Londons. Wir verfolgen die Rennen aus der Royal Enclosure, jenem Tribünenteil, in dem auch die Queen jedes Jahr sitzt. Ausländer haben hier nur Zutritt, wenn sie eine Erlaubnis ihrer Botschaft vorweisen können, aber die bekommt man, wenn man die Embassy in London rechtzeitig kontaktiert.
Für allfällige Neueinsteiger zwei Tipps. Erstens: Für uns Männer sind hier graue oder schwarze Morning Suits obligatorisch, eine Art Frack, dazu ein grauer oder schwarzer Zylinder. Wer sich nun seinen Morning Suit mietet oder kauft, beachte Folgendes: Ein Morning Suit wird vom Grossvater auf den Vater vererbt und vom Vater auf den Sohn, muss also etwas abgewetzt sein und darf unter keinen Umständen neu aussehen, denn das wirkt proletarisch. Zweitens: Ans Royal Ascot nimmt man keine Picknickkörbe mit. Man macht sich zwischen den Rennen an kleinen Tischchen über den Champagner, die Gänseleber, den Hummer, den Château Margaux und den Whisky her.
Am 24. Juni ist Royal Ascot vorbei, am 26. Juni beginnt die zweite Etappe in Wimbledon. Wimbledon dauert zwei Wochen, und in Wimbledon gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man nimmt einen Picknickkorb mit und macht sich auf dem Rasen neben den Tennisplätzen über den Champagner, die Gänseleber, den Hummer, den Château Margaux und den Whisky her, oder man macht sich an kleinen Tischchen über den Champagner, die Gänseleber, den Hummer, den Château Margaux und den Whisky her.
Nun sind zwei Wochen Tennis mitunter etwas eintönig. Deshalb findet gleichzeitig mit Wimbledon etwas weiter oben an der Themse auch die Henley Royal Regatta statt. Henley ist 1 Meile und 550 Yards lang, und es ist mit genau 1 Meile und 550 Yards die längste Champagnertheke dieser Erde. Sie haben vor Ort aber auch Gänseleber, Hummer und Château Margaux und Whisky.
Royal Henley ist auch darum speziell, weil die Regatta nach dem Knock-out-System durchgeführt wird. Anders als überall sonst treten immer nur zwei Ruderer gegeneinander an, der Sieger kommt weiter, der Verlierer scheidet aus. Deswegen finden während dieser zwei Wochen Hunderte von Rennen statt, was die Engländer aus zwei Gründen sehr passend finden. Erstens: Man hat zwischen den Rennen genügend Zeit, um sich über den Champagner, die Gänseleber, den Hummer, den Château Margaux und den Whisky herzumachen. Zweitens: Man hat zwischen den Rennen genügend Zeit, um sich drüben in Wimbledon ein paar Tennisspiele anzusehen und dort natürlich – aber das wissen Sie inzwischen schon.
Am 9. Juli sind Henley Royal und Wimbledon zu Ende. Dann beginnt Cricket, unsere vierte Etappe. Wir schauen zu, wie sie werfen, und auch wir haben in den letzten vier Wochen stolze Fortschritte gemacht. Auch unsere Leber ist zu diesem Zeitpunkt faustgross und hart wie ein Stein.