Die «SS Thistlegorm» war im Oktober 1941 von Glasgow auf dem Weg zum Suezkanal, als die beiden deutschen Heinkel-Jagdbomber sie erwischten. Zwei 1000-Pfund-Bomben trafen mittschiffs ihren Laderaum. Sie explodierte in einem riesigen Feuerball, denn sie hatte grosse Mengen an Munition, Granaten und Minen geladen. Sie sank wie ein Stein.
Ich mag die «SS Thistlegorm», sie ist eine der schönsten Leichen unseres Planeten. Sie liegt heute zwischen 15 und 32 Metern unter Wasser und ist pure Zeitgeschichte. Die Ladung, die für die 5. britische Armee bestimmt war, ist nahezu unversehrt: Morris-Armeetransporter, BSA-Motorräder, Universal-Carrier-Kettenschlepper, Ford-Lastwagen, Eisenbahnwaggons, Flugzeugteile, Bomben, Gewehrkisten. Neben dem Schiff liegen zwei Stanier-8F-Lokomotiven auf Grund, die vom Druck der Explosion über Bord geschleudert wurden.
Zwischen dem Armeematerial schwimmen Doktorfische, Jacks, Stachelmakrelen, Soldatenfische, Barrakudas und Snapper.
Damit wären wir in unserem Brevier der Männersportarten beim entscheidenden Unterschied angelangt. Der Unterschied ist nicht der, dass Frauen nicht tauchen. Unter den 25 000 Tauchern der Schweiz stellen sie rund ein Drittel. Der Unterschied ist, warum sie tauchen.
Die Frauen kommen zum Tauchen wegen all dieser lustigen, süssen, bunten Fische, die so nett zwischen den Korallen herumflitzen. Wir Männer kommen wegen der Wracks.
Wracktauchen ist die Königsklasse des Unterwassersports. Für die meisten ist sie es darum, weil Klaustrophobiker nur bedingt geeignet sind und es durch das diffuse Licht und die wechselnden Strömungen im Schiffsinneren etwas gefährlicher ist als das normale Plantschen. Ich mag Wreck Diving aber besonders darum, weil es das Tauchen, eine sonst eher einfallslose Natur- und Tierbeobachtung, durch erlebte Geschichte und Geschichten veredelt.
Wer einmal getaucht hat, der weiss, dass es nichts Faderes gibt als einen Abend mit Tauchkollegen am Roten Meer oder auf den Malediven. Den ganzen Abend erzählt eine von diesen tollen Schildkröten, die sie gesehen hat, einer erzählt von diesen tollen Seepferdchen, die er gesehen hat, eine erzählt von diesen tollen Falterfischen. Sonst nichts.
Wer nach Wracks taucht, hat Besseres zu berichten. Ich mag zum Beispiel die «Oro Verde» auf Grand Cayman, 55 Fuss unter Meer. Sie war ein famoser Kahn, mit dem sie Unmengen von Marihuana quer durch die Karibik verschoben haben. Als die Küstenwache die «Oro Verde» aufbringen wollte, setzte die Crew sie vor ihren Augen in Brand. Noch heute erzählen die lokalen Rastafaris verzückt, wie der Wind den ganz speziellen Geruch von den im Laderaum brennenden Ballen an die Küste wehte.
Ich mag auch die «Dunraven» im Roten Meer. Der viktorianische Frachter, beladen mit Hölzern, Gewürzen und Baumwolle, sank im Jahr 1876 auf dem Weg von Bombay. Er lief bei Shaab Mahmoud auf ein Riff, weil an Bord ein gewalttätiger Streit zwischen dem besoffenen Kapitän, seiner Frau und dem ebenfalls besoffenen ersten Maat, dem Liebhaber der Frau, eskalierte. Ein paar Dutzend Matrosen riss das Ehedrama mit in den Abgrund. 18 bis 30 Meter tief liegt sie heute, bewacht von fetten Napoleonfischen.
Wracktauchen ist erlebte Geschichte. Und erlebte Geschichten. Und wenn es keine Geschichten gibt, so muss man sie halt konstruieren. Ich erzähle darum zum Schluss gern eine aus meinen aktuellen Tauchgründen, die Geschichte der «King Cruiser» von Phuket.
In Thailand hatten sie lange keine Wracks unter Wasser. Das war Pech für den Tauchtourismus, doch am 4. Mai 1997 änderte sich dies. Es war ein perfekter Tag, kein Wind, keine Wellen, ideale Sicht. Dennoch sank – was für ein Zufall – die Passagierfähre «King Cruiser» genau an diesem Tag. Sie lief – was für ein Zufall – auf ein kleines Riff, das einzige Hindernis im Umkreis von 25 Meilen. Zuvor war sie während 3700 Diensttagen nie auch nur in die Nähe des Riffs gekommen. Die «King Cruiser» sank ganz, ganz langsam, und – was für ein Zufall – es hatte jede Menge anderer Schiffe in der Nähe, welche die Passagiere aufnahmen. Es gab keine Toten, nicht einmal Verletzte. Heute liegt sie – was für ein Zufall – auf für Taucher idealen 20 Metern unter Meer.
«Thai solution» nennt man das Wrack vor Ort. Ist doch eine bessere Geschichte als all diese lustigen, süssen, bunten Fische.
Kurt W. Zimmermann, Inhaber der Consist Consulting AG