2005 haben Sie mit der Mahjong-Ausstellung, deren Katalog seither als «die Bibel» bezeichnet wird, vielen die Initialzündung für das Sammeln chinesischer Gegenwartskunst gegeben. Wie sehen Sie den Einfluss, den Sie als bedeutendster Sammler dieser Kunst auf die derzeitige Kunstwelt ausüben?

Uli Sigg:
Sicher haben die Ausstellungen der von mir erworbenen Werke in Europa, in den USA und in Lateinamerika – mittlerweile um die zehn – Signalwirkung gehabt. Während es lang eher ein Spezialgebiet war, haben sich inzwischen auch internationale Grosssammler der chinesischen Gegenwartskunst zugewendet. In diesem Sinne hat sich die Zahl der Sammler sehr stark erweitert; dies ist aber nicht mein alleiniges Verdienst. Hinzu kommt, dass die chinesischen beziehungsweise asiatischen Sammler nun das Feld zu dominieren beginnen. Bei diesen war mein Einfluss möglicherweise gewichtiger, denn diese Sammler, die sich in der Vergangenheit noch nicht so mit dieser Kunst hatten auseinandersetzen können, haben sich dann an den Ausstellungskatalogen und meinen zahlreichen Interviews orientiert.

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War das nicht vor einigen Jahren noch anders, als sich das Interesse der asiatischen Sammler mehr auf die traditionelle Kunst richtete?
Das Publikum für die chinesische Gegenwartskunst ist zweifellos gewachsen. Viele, die vornehmlich aus Investitionsgründen gesammelt haben, haben sich jedoch abgewendet. Der Marktcrash von 2008 hat auch die zeitgenössische chinesische Kunst mit heruntergerissen und somit Investoren frustriert. In den letzten Jahren haben sie sich wieder auf die traditionelle Kunst konzentriert, wo es unglaubliche Preissteigerungen gab. Auch die traditionelle chinesische Malerei, primär Tusche auf Papier, zählt zu dieser Kunst. Unter den zehn an den internationalen Auktionen 2010 am meisten gehandelten Künstlern waren vier Chinesen, welche man diesem Genre zurechnen kann. Die Werke dieser Künstler, welche ausserhalb des asiatischen Raumes völlig unbekannt sind, wurden für dreistellige Millionenbeträge verkauft.

Wählen Sie als Sammler Werke rein subjektiv aus oder soll Ihre Sammlung die Entwicklung der chinesischen Gegenwartskunst nachzeichnen?
Es geht mir um Letzteres. Ich stelle meinen persönlichen Geschmack eher in den Hintergrund und sammle im Grunde wie eine Institution. Bis vor wenigen Jahren war mein Ziel, das Kunstschaffen in China in seiner ganzen Breite abzubilden. Seit zwei, drei Jahren ist das allerdings nicht mehr möglich, weil die Kunstszene gewissermassen «explodiert» ist. Ich habe mich somit hinsichtlich des Anspruchs der Vollständigkeit einschränken müssen.

Wie viele Positionen umfasst die Sammlung heute?
2200 Arbeiten von rund 350 Künstlern. Diese Arbeiten umfassen alle Medien und die Zeitspanne von 1979 bis heute. Hinzu kommt die wichtige Werkgruppe des Sozialistischen Realismus aus der Zeit der Kulturrevolution. Diese ist Voraussetzung für das Verständnis der nachfolgenden Künstlergenerationen.

Wie sehen Sie Ihre Rolle gegenüber den chinesischen Gegenwartskünstlern?
Für die einen bin ich so etwas wie ein Übervater und Mentor, aber es gibt auch kritische Stimmen. Die Künstler nehmen mich wahr als jemanden, der sich seit Beginn für sie eingesetzt hat, der internationale Kuratoren für ihr Werk zu gewinnen vermochte und der mit der Schaffung eines Kunstpreises und eines Kunstkritikerpreises in China selbst den Diskurs über zeitgenössische Kunst beeinflusst hat. Die kritischen Stimmen glauben, dass es nicht an mir sein sollte zu bestimmen, was gute und was schlechte chinesische Kunst ist. Gerade jetzt wird in China der Kanon für die ersten 30 Jahre chinesischer Gegenwartskunst formuliert. Deshalb ist die Diskussion um meine Person erneut aktuell. Ich kann mich jedenfalls nicht beklagen über mangelndes Interesse der chinesischen Medien, die fast täglich von mir Interviews fordern. Meine Sammlung ist mittlerweile auch als die einzige repräsentative weltweit anerkannt. Das fügt auch diesem Diskurs noch etwas Salz hinzu.

Werden Sie heute von Künstlern auch um Ihr Urteil über Ihre Arbeiten angefragt?
Ich werde oft zur Kritik aufgefordert, schreibe auch gelegentlich dazu und produziere auch gemeinsam mit Künstlern ihre Arbeiten. Dafür ist das Gespräch dann ohnehin Voraussetzung. Vor allem junge Künstler suchen mein Urteil. Ich bin mir aber der Problematik solcher Anfragen bewusst und entziehe mich deshalb auch oft der Aufforderung zur Kritik, weil ich nicht massgeblichen Einfluss auf Künstler nehmen will. Kritik ist aber auch oft Basis für interessante Gespräche, wobei vor allem ich viel lerne. Es geht mir nicht nur um die zeitgenössische Kunst, sondern um den Zugang zu China, den ich mir über Business, Politik und eben über die zeitgenössische chinesische Kunst verschaffe.

Wie positioniert sich die chinesische Gegenwartskunst heute auf dem Kunstmarkt? Kann man immer noch von einem Hype sprechen, wie dies 2008 noch der Fall war?
Von einem Hype würde ich nicht mehr sprechen. Da sich die Preisexzesse korrigiert haben, ist heute eine breitere und fundiertere Kunstbewegung entstanden. Das chinesische und darüber hinaus das asiatische Interesse am Markt werden auch in Zukunft bleiben. Allein das schafft bereits einen Nachfragesog, vor allem nach etablierten Künstlern. Noch ist diese Sammlergemeinschaft nicht zu experimentierfreudig, denn im Hintergrund spielt immer noch die Investitionsüberlegung. Diese Faktoren prägen die Marktselektion. Asiatische Sammler sind noch immer sehr stark auf das Zweidimensionale fokussiert, vor allem auf die Malerei. Die Fotokunst hingegen – und nicht zu reden von der Installations- und Videokunst – hat es sehr schwer auf dem Markt.

Die chinesische Gegenwartskunst hat sich somit in China selbst etabliert?
Ja, das ist so. Sie ist aus dem Untergrund herausgetreten und salonfähig geworden.

Wie wichtig ist die politische Entwicklung für die künstlerische Inspiration?
Die politische Situation ist für die Künstler weiterhin von Bedeutung. Es gibt natürlich alle denkbaren Arten von Kunstäusserungen. Die können, müssen aber nicht politisch sein. Oft stehen auch Fragen der Individualität oder des Formalismus im Vordergrund.

Die Wechselwirkung von Tradition und Gegenwart, die rasante wirtschaftliche Entwicklung Chinas und der Blick von aussen auf das eigene Land, sind dies immer noch die prägenden Themen der chinesischen Gegenwartskunst?
Das Wirtschaftswachstum per se würde ich eher ausklammern, aber neu ist die Hinwendung der Gegenwartskünstler zur Tradition. Sie haben die Konzepte der Westkunst studiert und erprobt. Viele sind aber mittlerweile eher desillusioniert und suchen deshalb neu in ihren eigenen Wurzeln nach Inspiration. Diese Hinwendung zur Tradition interessiert mich sehr, denn noch vor zehn Jahren galt die chinesische Tradition für die Grosszahl der Zeitgenossen als unergiebig.

Wie wollen die chinesischen Künstler denn wahrgenommen werden?
Viele Künstler möchten nicht mehr als «chinesisch» wahrgenommen werden, sondern als gute Künstler im globalen Kunstbetrieb. Andere wiederum besinnen sich noch stärker auf ihre chinesische Herkunft als Reaktion auf die Globalisierungstendenzen.

Bis heute haben Sie – anders als viele andere Sammler – noch nie den Gedanken eines eigenen Museums für Ihre Sammlung geäussert…
Der Grund ist, dass ich plane, noch einige Jahre in der Kunstwelt zu verbringen! Mein Nachfolgeproblem stand deshalb noch nicht im Vordergrund. Allerdings führe ich Gespräche über die Zukunft der Sammlung, die ich stets in China gesehen habe. Die Chinesen sollen ihre zeitgenössische Kunst, die sie nicht wirklich kennen, zu Gesicht bekommen. An einem eigenen Museum bin ich nicht interessiert. Ich finde, dass die Sammlung in öffentliche Hände gehört.

 

Der Mensch

Name: Uli Sigg
Funktionen: Vizepräsident des VR des Ringier-Konzerns; Mitglied in mehreren VR; Berater des Architekturbüros Herzog & de Meuron
Jahrgang: 1946
Wohnort: Mauensee LU
Familie: Verheiratet

Karriere:
1967–1972: Jusstudium in Zürich
1976: Promotion zum Dr. iur.
1972–1977: Wirtschaftsjournalist, unter anderem bei «Finanz und Wirtschaft»
1977–1990: Managementtätigkeit bei Schindler AG, Hergiswil NW
1980: Gründung des ersten Joint Venture Chinas mit einem westlichen Unternehmen (Schindler)
1990–1995: Selbstständig
1995–1998: Botschafter der Schweiz für China, Nordkorea und die Mongolei.
Seit 1998: In den heutigen Funktionen tätig.