Die zwischen Kampanien, Apulien und Kalabrien gelegene Basilicata ist wohl die am wenigsten bekannte Region Italiens. Hier ist zwar nicht, wie immer wieder behauptet wird, die Zeit stehen geblieben, aber vielleicht folgt das trotz seiner landschaftlichen Schönheit touristisch kaum erschlossene Gebiet einfach anderen, gemächlicheren Rhythmen. Dies gilt auch für den Weinbau, wo sich am Fusse des 1326 Meter hohen Monte Vulture, des klassischen Anbaugebiets der Aglianico-Rebe im Norden der Basilicata, nach Jahrzehnten der Krise und des Stillstands eine sanfte, aber beharrliche Aufbruchsstimmung bemerkbar macht. Beinahe wie Pilze sind während der letzten Jahre neue Weinbaubetriebe in den traditionsreichen Weinbaugemeinden Melfi, Rapolla, Barile, Rionero, Venosa, Maschito und Acerenza (um nur die wichtigsten zu nennen) aus dem Boden geschossen. Hier, am Osthang des imposanten, seit Jahrtausenden inaktiven Vulkans, findet die wahrscheinlich von den Griechen im 7. oder 6. vorchristlichen Jahrhundert nach Süditalien gebrachte Aglianico-Rebe ideale Bedingungen vor: Tiefgründige, vulkanische Böden, hohe Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht, häufige Winde sowie warme, trockene Sommer und strenge Winter.
Während Jahrhunderten war der Weinbau im Vulture-Gebiet Teil der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft. Die Reben, traditionell in der «alberello» genannten Buschform gezogen, wurden auf kleinen, durch zahlreiche Erbteilungen verstreut liegenden Parzellen kultiviert, nicht selten zwischen Oliven- und Fruchtbäumen. Noch bis Ende der 1970er-Jahre prägte diese typische Form von Mischwirtschaft das Landschaftsbild. Beinahe jede Bauernfamilie kultivierte nicht nur ihre eigenen Reben, sondern erzeugte auch ihren eigenen Wein. Was nicht für den Eigengebrauch bestimmt war, wurde in der näheren Umgebung, später mit dem Bau der Eisenbahn auch in weiter entfernte Gebiete verkauft. Bis in die 1920er-Jahre kam niemand auf die Idee, den Aglianico in Flaschen abgefüllt zu kommerzialisieren. Der erste, der diesen Schritt wagte, war Anselmo Paternoster aus Barile. 1925 gründete er seine eigene Azienda Vinicola und machte sich einen Namen als Produzent qualitativ guter Aglianico-Weine, die er auch in etikettierten Flaschen verkaufte. Im gleichen Zeitraum etablierte er sich in der Nachbargemeinde Rionero Donato D’Angelo als Traubenhändler und Weinproduzent. Die Erzeugnisse dieser beiden Häuser waren stilbildend und gehören bis heute zu den Vorzeigegewächsen der Appellation.
Gelegentlich wird der Aglianico del Vulture als der Barolo des Südens bezeichnet. Ein Vergleich, der zunächst als gesucht erscheint, der aber bei genauerer Betrachtung einiges für sich hat. Seine Farbe ist von mittlerem bis hellem Rubinrot, das im Alter – dem Barolo ähnlich – eine granat- oder orangefarbene Tönung bekommt. Und wie sein piemontesisches Pendant hat er eine kräftige Säure, ist in seiner Jugend oft rau und herb und braucht ein paar Jahre Reifezeit, um die ihm innewohnende geballte Kraft in harmonische Vielschichtigkeit umzuwandeln. «Der Aglianico ist ein Lagerwein», erklärt Vito Paternoster, der in der dritten Generation zusammen mit seinem Bruder Sergio den gleichnamigen Traditionsbetrieb leitet. «Unsere Herausforderung als Winzer ist es, seine kräftigen Tannine in den Griff zu bekommen und ihm alles Nötige mitzugeben, damit er dereinst seine Klasse zeigen kann.» Dies kann freilich auf verschiedene Arten geschehen, und entsprechend unterschiedlich sind auch die Wege, die die einzelnen Weinproduzenten eingeschlagen haben, um das grosse Potenzial der Aglianico-Traube auszuloten. Während die Traditionalisten in ihren Weinen Eleganz, Harmonie und Langlebigkeit suchen, setzen die Modernisten auf Konzentration und frühe Trinkreife. Wohin die Reise geht, lässt sich zurzeit noch nicht abschätzen. Vielleicht wird die Entwicklung ähnlich verlaufen wie beim Aglianico des Nordens, dem Barolo. Auf eine Phase der stürmischen Neuerungen wird die stilistische Konsolidierung folgen. Und es wird dereinst weniger die Rede sein von Farbintensität, Extraktwerten und Alkoholgradation als vielmehr von Typizität, Authentizität und Trinkbarkeit. Rudolf Trefzer
Auswahl von Produzenten, deren Weine in der Schweiz erhältlich sind, eher modern: Basilisco (Bindella), Cantine del Notaio (Archetti); eher traditionell: Cantina di Venosa (Coop), Elena Fucci (Caratello und Schubi Weine), Grifalco della Lucania (Sacripanti), Paternoster (DIVO und Vini d’Amato).