Sie hasse Trends, sagt Pascale Mussard. Sie steht in ihrem Atelier im Pariser Vorort Pantin, in der Halle nebenan wird das Leder für die legendären Kellys, Birkins und andere Hermès-Taschen in Form geschnitten. Mussard gehört zur sechsten Generation der Hermès-Familie und hat in den letzten 30 Jahren sämtliche Abteilungen der 1837 gegründeten «Maison» durchlaufen. Sie weiss genau, wie viel Arbeit in einem Paar Handschuhen steckt, wie lange man nach seltenen Ledersorten suchen muss, wie schwierig es ist, ein neues Stoffmuster zu entwerfen. Sie kennt den wirklichen Wert der Hermès-Produkte, nicht nur die Zahlen, die für alle sichtbar auf dem Preisschild stehen.

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Als kleines Mädchen wurde sie oft belächelt, weil sie alles, was sie in den Hermès-Werkstätten fand, aufhob, für den Fall, dass man es irgendwann gebrauchen könnte. «Damals geschah das rein instinktiv, heute weiss ich, dass, was auch immer in unseren Ateliers für nicht gut befunden und aussortiert wird, anderswo eingesetzt werden kann», erklärt sie. Seit rund drei Jahren betreibt sie ihre Sammelleidenschaft offiziell: Ungebrauchte oder fehlerhafte Dinge, die die strenge Hermès-Qualitätskontrolle nicht bestanden haben, bekommen in ihrer Kollektion «Petit h» eine zweite Chance.

«Upcycling» gilt als das neue Konzept der Kreativbranche. Im Gegensatz zum Recycling, wo aus Altem etwas Neues, aber nicht unbedingt Hochwertiges entsteht, ist Upcycling als Aufwertung gedacht. Die Produkte, die bei diesem Prozess entstehen, sind nicht nur nützlich oder sinnvoll. Sie sind edel und exklusiv, meistens einzigartig und oft ziemlich teuer. «Mein Ziel ist es, die Schönheit der Materialien, die wir besitzen, ins Bewusstsein zu rufen», sagt Pascale Mussard, «es geht um die Wahrnehmung dieser Dinge, um eine Art Upgrading.» Sie setzt dabei schamlos auf ihren doppelten Vorteil: sehr viel Know-how und den wohl luxuriösesten Abfalleimer der Welt.

Respekt für Mensch und Material. Reste wegzuwerfen, war bei Hermès schon immer verpönt, dafür sind die verwendeten Materialien zu wertvoll. Was bei der Taschenverarbeitung übrig bleibt, wird gesammelt und bei Uhrenarmbändern oder Gürteln eingesetzt. Doch was macht man aus einer unschön gemusterten Kroko-Haut? Vor Petit h wurde sie beiseitegelegt und vergessen. Heute entstehen daraus bunte Manschetten für die stets zu heissen Pappbecher, in denen «Coffee to go» transportiert wird. Oder ein Armband. Oder eine Giraffe, entworfen von der holländischen Künstlerin Marjolijn Mandersloot, die auch schon einen lebensgrossen Panda, ein Kamel und einen Esel für Mussard gestaltet hat. Die Einzelstücke dieser Leder-Menagerie kosten bis zu 100 000 Dollar und zählen zu den meistfotografierten Objekten der Linie Petit h, die mittlerweile mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als ihr grosser Bruder Hermès.

Pascale Mussard nimmt ein klassisches Carré-Tuch von einem Stapel Seidenschals und zeigt auf einen winzigen weissen Flecken, der wohl beim Färben entstanden ist. Undenkbar für Hermès, dieses Produkt zu verkaufen. Aber wegwerfen kommt für Mussard nicht in Frage. «An der Herstellung dieses Seidenschals waren über 300 Menschen beteiligt», sagt sie, «und ausser diesem kaum sichtbaren Fehler ist er perfekt.» Bei Petit h werden Abfallprodukte wie dieses einer handverlesenen Truppe aus Künstlern, Designern und Handwerkern zur Verfügung gestellt, die sich davon inspirieren lassen. Es ist die Umkehrung des kreativen Prozesses: Normalerweise hat der Designer ein Produkt im Kopf und lässt dafür die nötigen Materialien beschaffen. Petit-h-Designer müssen mit Vorhandenem arbeiten, sie erfinden etwas Neues aus Dingen, die es schon gibt.

Etwa eine Kommode aus aquamarin gefärbtem Kalbsleder, mit farblich passenden, gemusterten Frottée-Tüchern und alten Koffergriffen oder eine Schaukel aus Lederriemen und Steigbügeln. Eine grosse Kristallvase wurde mit Tragehalterungen aus Leder versehen. Der Charme dieser Dinge liegt im spielerischen, poetischen, fantasievollen Umgang mit den «objets trouvés», die zwar verfremdet werden, aber zugleich absolut Hermès-like bleiben. Der defekte Seidenschal wurde um ein spiralförmiges elektrisches Kabel gewickelt und festgenäht, dann in heissen Dampf gelegt, getrocknet und von Nähten und Kabel befreit. Das Resultat ist eine plissierte, dreidimensionale und dehnbare Kordel, die als federleichtes Collier getragen wird.

«Die Idee hinter Petit h hat nichts mit Umweltschutz oder politischer Korrektheit zu tun» erklärt Mussard, «sondern mit Wertschätzung. Ich möchte, dass unsere Materialien, die Menschen, die sie für uns bearbeitet haben, die Geschichten und Erinnerungen, die sie in sich tragen, respektiert werden.»

Auch Daniel und Markus Freitag hatten mit Öko wenig am Hut, als sie vor knapp 20 Jahren damit begannen, alte LKW-Planen und ausrangierte Autogurte in lässig-bunte Umhängetaschen zu verwandeln – es ging ihnen um Coolness, bestenfalls um Zweckmässigkeit. «Daniel und ich waren auf der Suche nach einer robusten und wasserabweisenden Tasche, um unsere grafischen Entwürfe auf dem Velo durch die Stadt zu transportieren. Da es keine solche Tasche gab, haben wir kurzerhand selber eine genäht. Dass wir dafür auf gebrauchte Materialien zurückgriffen, erschien uns nur natürlich; die Idee, sogenannten Abfall in ein nächstes Leben überzuführen, mochten wir schon damals. Der Spass ging erst richtig los, als unsere Freunde unbedingt auch so eine Tasche haben wollten», erzählt Kreativdirektor Markus Freitag. Heute arbeiten über 130 Menschen im neuen Headquarter in Zürich Oerlikon. Jährlich werden dort 390 Tonnen weit gereiste Planen, 36 000 alte Fahrradschläuche, 220 000 ausrangierte Autogurte und 1200 Airbags in Taschen verwandelt, deren Konzept sogar in die Design Collection des New Yorker Museum of Modern Art aufgenommen wurde.

Die Brüder dürfen sich zu Recht als Pioniere im Upcycling betrachten, denn schon immer war das, was sie aus Abfall produzierten, heiss begehrt und deutlich mehr wert als das gebrauchte Ausgangsmaterial. Inzwischen sind sie weiter gegangen: mit einer Limited Edition, in der seltene Farben verarbeitet werden – wie oft sieht man schon rosa oder schwarz abgedeckte Lastwagen? –, und mit der neuen, reiferen Linie «Freitag Reference», die zwar ebenfalls aus gebrauchten LKW-Planen gefertigt wird, aber klassischer, raffinierter und deutlich teurer daherkommt als die kultigen Kuriertaschen. «Jede Freitag-Tasche ist so unterschiedlich wie die Plane, aus der sie gefertigt wurde. Wir nennen unsere Taschen deshalb liebevoll R.I.P.: rezyklierte individuelle Produkte», sagt Markus Freitag. Nach ein paar Flops und Fehlinvestitionen sind die Freitags wieder auf Erfolgskurs. 2011 eröffneten sie Läden in Wien und New York, sogar Tokio hat seit Oktober einen Flagship Store im begehrten Geschäfts- und Vergnügungsviertel Ginza.

Schmuck aus Teebeuteln. Ilaria Venturini Fendi ist dort längst angekommen. Ihre «Carmina Campus»-Taschen werden bei Isetan und Takashimaya verkauft, aber auch im Dover Street Market in London, bei L’Eclaireur in Paris und in ihrem eigenen Laden RE(f)USE in Roms schicker Via Fontanella Borghese. Die Preise starten bei 300 Euro und klettern schnell in die Höhe. Dabei sind die Car Bags bloss aus den Sitzbezügen und den Kunstleder-Innenverkleidungen schrottreifer Autos hergestellt. Der Sicherheitsgurt wird zum Trageriemen, und als Schliessklappe dient die ehemalige Sonnenblende inklusive integrierten Make-up-Spiegels. Aber Fendi ist eben Fendi, und die Car Bags wirken wie eine hippe Version der berühmten Baguette-Tasche, die Ilaria Venturini Fendi vor vielen Jahren für das Familienunternehmen erfand.

Alle Taschen und Accessoires von Carmina Campus, dem 2006 gegründeten Brand der früheren Fendi-Kreativdirektorin, sind komplett aus wiederverwerteten Materialien gefertigt. Die Bags for Africa entstanden aus den farbenfrohen Häkelmützen von Frauen einer Dorfgemeinschaft in Kamerun, die Jako Bags sind dagegen aus ausgedienten Spannteppichen, Plastikbändern und Tischsets gefertigt. Jedes Stück ist ein Einzelteil, ein Prototyp, der nie multipliziert werden wird. Signora Fendi sieht keinen Grund, diese Kreationen zu verramschen: «Ich habe nie verstanden, weswegen Recycling billig sein muss», sagt sie, «man kann aus gut gewählten Abfällen richtig tolle Dinge machen, für die auch ordentlich Geld ausgegeben wird.»

So oder so ähnlich sieht das auch Lina Lundberg. Die 33-jährige Schwedin produziert Schmuck aus Fundstücken unterschiedlichster Art. «Mir gefällt die Idee, Dingen ein neues oder zweites Leben zu bescheren», sagt sie. «Ich arbeite mit jedem Material, das mich inspiriert, das können Schlüssel, Teebeutel oder Kokosnüsse sein, die ich mit Edelmetallen oder Halbedelsteinen kombiniere.» Die Linie Lady Lilith etwa besteht aus den auseinandergenommenen Elementen von Fahrradketten, die mit Zuchtperlen, schwarzem Onyx und Silber zu Armbändern, Halsketten und Ringen verarbeitet wurden. Bestseller sind das Armband Carla und die Halskette The Lilith, die für 600 Euro zu haben ist.

Selbst aus Amerika kommen wunderschöne Taschen und Textilien, die grösstenteils aus Materialien bestehen, die bereits ein anderes Leben hinter sich haben. Hinter dem Label Elliot Mann steht aber eine Dänin: Louise Paul, ausgebildet am New Yorker Fashion Institute of Technology und erklärter Vintage-Fan: «Ob Bekleidung, Keramik oder Möbel – ich hatte schon immer eine Vorliebe für die schönen Dinge der Vergangenheit.» Nicht widerstehen kann sie bei handgearbeiteten Textilien, und so werden wertvolle Stoffe aus Nepal, Peru, Bolivien, Marokko, Afghanistan, der Türkei und anderen Ländern gesucht und zu unverwechselbaren Taschen verarbeitet. Kundinnen wie Alicia Keys, Kate Hudson und Halle Berry durchstöbern höchstpersönlich das Sortiment im Elliot Mann Flagship Store in New Yorks East Village und nehmen ein einzigartiges Patchwork-Modell der Linie Province Bag mit nach Hause oder eine handgeknüpfte, fransige Indie Bag mit einer bunten Borte, die mit Perlen, Münzen und Stickereien verziert wurde.

Um eines der Petit-h-Produkte zu erwerben, kann man nicht einfach in einen Laden gehen, nicht einmal wenn Hermès auf der Tür steht. Die Kollektion ist eine Sammlung limitierter Einzelstücke, die in limitierten Zeitspannen in jeweils einer einzigen Hermès-Boutique angeboten werden. Den Panda-Bären gab es nur in New York, den Esel nur in Tokio, die Kroko-Giraffe nur in Paris, und von den plissierten Seidenketten werden immer genauso viele produziert, wie der Ausschuss an Carré-Tüchern ermöglicht. «Es war nie meine Absicht, zusätzliche Produkte und zusätzlichen Umsatz zu generieren, selbst wenn unsere Kunden gerne dafür bezahlt hätten», sagt Pascale Mussard, «ich wollte eine neue und kreative Verwendung für jene Dinge finden, die übrig geblieben waren.» Seit Ende April ist die Linie Petit h mit rund zweitausend neuen Produkten in Berlin – für gute vier Wochen oder so lange, wie der Vorrat reicht.

Wo Abfall alles andere als Müll ist:

Freitag: Der Zürcher Flagship Store befindet sich an der Geroldstrasse 17, Tel. 043 366 95 20, www.freitag.ch

Lina Lundberg: Die Schmuckstücke werden über Spreeglanz Berlin vertrieben, www.spreeglanz.com

Elliot Mann: Der Flagship Store steht in New Yorks East Village, 324 East 9th Street, Tel. +1 212 260 06 58, www.elliotmann.com

Carmina Campus: Die grösste Auswahl gibt es bei RE(f)USE in Rom, Via Fontanella Borghese 40, Tel. +39 06 68 13 69 75, www.carminacampus.com

Petit h: Noch bis etwa Ende Mai gastiert die Kollektion in der Hermès-Boutique in Berlin, Kurfürstendamm 58, Tel. +49 303 270 8375