Mit dem Minibus werde ich an einem kühlen Herbsttag auf die hermetisch abgeriegelte Teststrecke von Mercedes in Sindelfingen bei Stuttgart gefahren. Der Zugang für firmenfremde Personen ist hier eigentlich streng verboten. Aber für den «Millionär» hat Mercedes eine Ausnahme gemacht. Wir können heute zum ersten Mal das sicherste Auto fahren, das Mercedes je gebaut hat – wahrscheinlich das sicherste zivile Auto der Welt. Der gepanzerte S 680 Guard 4-Matic, «The Guard» genannt, eine rollende Lebensversicherung für Diktatoren, Mafiabosse und Topleute im Drogenhandel. Und natürlich für gefährdete Geschäftsleute, Regierungschefs und blaublütige Sprosse von Königshäusern – für die baut Mercedes natürlich das Fahrzeug.
Wir fahren vorbei an Lager- und Montagehallen, dann kommt er langsam in Sichtweite, während sich die letzten Bodennebelfetzen des Herbsttages auf der einsamen Teststrecke verflüchtigen. In meinem inneren Ohr wummern die Anfangsbässe von «Eye of the Tiger». Als der Minibus vor dem Fahrzeug hält, rutscht die Nadel über die Vinylplatte meines inneren Ohres. Der Song bricht ab. Das schwarze Auto vor mir sieht leider nur aus wie eine stinknormale S-Klasse. Das weckt bei mir keine Emotionen, schon gar nicht «Eye of the Tiger» – auch wenn das Design gediegen ist.
Ich versuche mich von der Enttäuschung zu erholen und ordne meine Gedanken: Gut, es soll ja aus Sicherheitsgründen nicht jeder merken, dass der Wagen gepanzert ist. Macht Sinn. Und beim näheren Hinschauen fallen mir schon mal die etwas kleineren Fenster im Vergleich zur normalen S-Klasse auf. Ich öffne die Fahrertür – dabei spüre ich das Gewicht von rund 200 Kilogramm kaum, weil die Türe mit einer Hydraulik unterstützt wird. Das hohe Gewicht erklärt sich nicht nur durch die verbauten Schutzstahlplatten. Als ich die Scheiben herunterlasse, zeigt sich, wie dick die Fenster sind: Rund 10 Zentimeter Glas und Spezialkunststoff sind in mehreren Schichten hintereinandergeklebt, damit auch ein Kugelhagel im Auto drin keinen Schaden anrichten kann.
Doppelt so teuer wie der Maybach
Der Wagen lässt sich nicht einmal von einem 12,5-Kilogramm-Sprengstoffanschlag richtig erschüttern. Das Fahrzeug ist ein 4,2-Tonnen-Monstrum, das doppelt so viel wiegt wie die normale S-Klasse. Motorisiert ist The Guard mit einem Zwölfzylinder, den es sonst nur im Maybach gibt. 190 Kilometer pro Stunde schafft der rollende Panzer bei Höchstgeschwindigkeit. Der Motor könnte mehr, muss aber auf die Reifen Rücksicht nehmen, weil deren Belastungsgrenze bei der Geschwindigkeit erreicht ist. Einigermassen erstaunlich ist seine maximale Fluchtgeschwindigkeit im Rückwärtsgang: 60 Kilometer pro Stunde. The Guard kann also in brenzligen Situationen vor den meisten anderen Fahrzeugen nach hinten flüchten. Weil der Rückwärtsgang der meisten normalen Fahrzeuge bei einer Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern begrenzt ist. Diese Sicherheit hat ihren Preis: Der Guard ist mit einem Preis von 550'000 Franken doppelt so teuer wie das Mercedes-Luxusgefährt Maybach 680 V12.
Man hat ihn beschossen und versucht, ihn zu sprengen
Ob Geschosse aus Scharfschützengewehren mit Stahlhartkern, Brandsatz oder eben 12,5 Kilogramm Sprengstoff, all dem widersteht die Guard-Version der S-Klasse. Das gibt es schriftlich vom staatlichen Beschussamt in Ulm, sogar zertifiziert. Mit deutscher Gründlichkeit – in dem Amt gibt es sie noch – hat die Behörde 300 Kugeln auf das Auto abgefeuert und auch auf die kleinsten Ritzen gezielt, um mögliche Schwachstellen zu erkennen. Nichts! Mindestens fünf Fahrzeuge wurden bei den Tests verschlissen. Man hat sogar versucht, sie zu sprengen. Vergeblich! Und weil den Passagieren drinnen dabei nichts passiert wäre, verdient sich der Guard die höchste zivile Resistenzklasse: Tusch! Die VR10! Als Anhaltspunkt: Gegen Angriffe mit einem AK47-Schnellfeuergewehr hilft schon die Schutzklasse VR6. Alles über VR10 geht ins Militärische und fällt unter die Gesetzgebung für Kriegswaffenexporte.
Der Guard sieht auf den ersten Blick aus wie jede x-beliebige lange S-Klasse. Doch unter dem Blechkleid versteckt sich ein Fahrzeug, das mit der normalen Stuttgarter Oberklasse nicht mehr viel zu tun hat. Rund 2 Tonnen Armierung aus Spezialstahl stecken im Guard. Im Prinzip ist das kein Auto, sondern eine gepanzerte Sicherheitszelle, über welche dann wie ein Kleid die Karosserieteile der S-Klasse gelegt werden. Die Guard-Modelle panzert Mercedes während des Rohbaus in mühevoller Handarbeit – und zwar nahtlos sicher bis in die kleinste Fuge, wie die zahlreichen Beschusstests gezeigt haben. Das kann bei nachträglich gepanzerten Autos, die es auch im Markt gibt, nicht in derselben kompletten Lückenlosigkeit gelingen. Sichere Autos haben bei Mercedes Tradition. So haben die Schwaben vor mehr als neunzig Jahren einen Mercedes Nürburg gepanzert und dem japanischen Kaiser als erstem prominenten Kunden geliefert.
Ein Knopf, der Giftgasangriffe abwehrt
Produziert wird das Auto in einem besonders gesicherten Werk in Sindelfingen – in einer Manufaktur. Alles wird in Handarbeit zusammengebaut, kein Roboter, kein Laufband. Knapp sechzig speziell geschulte Mitarbeitende sind dort beschäftigt. Die Mechaniker, die den Guard zusammenschrauben, sind die Mechanikerelite bei Mercedes. Für eine normale S-Klasse braucht es anderthalb Tage, für den Guard fünfzig. Das jährliche Produktionsziel ist eine dreistellige Zahl.
Die Mittelkonsole schliesslich weckt bei mir einiges an Emotionen. Es gibt Knöpfe wie im Wagen von James Bond. Yes, sir, finally! Brennt das Fahrzeug, aktiviert sich per Knopfdruck eine Löschanlage unter dem Wagenboden und im Motorraum. Bei Giftgasangriffen – klick! – sorgt die Frischluftanlage für einen Überdruck in der Fahrgastzelle und hält damit die Gase fern. James Bond lässt grüssen. Ein Panoramadach gibt es aus Sicherheitsgründen allerdings auch nicht gegen Aufpreis, das macht Sinn. Aber so können wir uns leider auch nicht aus dem Wagen herauskatapultieren, Knopf und Fallschirm hat man sich gespart. Gesperrt sind auch Over-the-Air-Updates wegen möglicher Hackerangriffe, und es gibt auch kein Head-up-Display, weil dafür die Frontscheibe zu dick ist. Die wiegt 120 Kilogramm, die Heckscheibe 100.
Schiessscharten für die Maschinenpistole
Eine schöne Unterstützung für die Bodyguards: Für einen Aufpreis lassen sich Waffenhalterungen im Fahrzeuginneren einbauen. Und einige Kunden schätzen die Sonderanfertigung von verstellbaren, kugelförmigen Schiessscharten in den Türen, die man so öffnen kann, dass gerade der Lauf einer Maschinenpistole hindurchpasst. Man kann ja schon mal emotional werden, wenn man beschossen wird, und würde dann gerne zurückschiessen. Zu den Preisen für solche martialischen Sonderwünsche schweigen die Stuttgarter verlegen, aber bestimmt. Drückt man den Startknopf, ist der Motor fast nicht zu hören. Kein Wunder, das Fahrzeuginnere ist ja geradezu hermetisch gedämmt. Sicherlich spielt auch eine Rolle, dass der V12, den es derzeit nur für den Maybach und den Guard gibt, solch gepflegte Manieren hat. Und 612 PS. Und 830 Newtonmeter. Man darf den kräftigen Motor also durchaus als Sicherheitsmassnahme verstehen wie auch das dem Gewicht angepasste, verstärkte Fahrwerk oder die Pax-Reifen von Michelin. Knapp 50 Kilogramm wiegt ein Rad, dafür kann der S 680 damit aber auch bis zu 30 Kilometer weit und bis zu 80 Kilometer pro Stunde schnell ohne Luft in den Reifen auf einem Vollgummi-Notlaufsteg weiterfahren, falls der äussere Reifen im Kugelhagel zerfetzt wird.
Natürlich besteht die Besonderheit des Guard in seiner Sicherheit. Immerhin fährt er sich für sein Gewicht relativ angenehm. Das Gewicht der über 4 Tonnen ist zwar zu spüren, er untersteuert früher und intensiver, aber es fühlt sich eher so an, als hätte man in seiner Familienkutsche den Kofferraum mit Brennholz vollgepackt und zwischen die drei Kinder auf der Rückbank noch den adipösen Opa gequetscht. Die Lenkung wirkt nicht ganz so hochpräzise wie in der ungepanzerten S-Klasse, aber das kann auch einfach an den Rädern liegen. Selbst beim schnellen Spurwechsel im Hütchenparcours bleibt der Guard noch beherrschbar.
Die Welt ist für betuchte Kriminelle und sonstige gefährdete Personen ein bisschen sicherer geworden. Denen kann in diesem Auto keiner was.
Dieser Artikel ist im Millionär, dem Magazin der «Handelszeitung», erschienen (Dezember 2023).