Sie komme aus einer «eher konservativen Ecke», sagt Andrea Nahles. «Das ist noch milde ausgedrückt.» Die einstige Juso-Rebellin meint ihr Dorf Weiler in der Eifel, in dem sie als junge Frau den SPD-Ortsverein ins Leben rief. «Das war dann die maximale Provokation und führte zu grossem Gesprächsstoff hier im Dorf», erinnert sich die 47-Jährige im Gespräch mit Reuters-TV. «Und insoweit gehörte erstmal das Überwinden von Widerständen zu meiner politischen Vita von Anfang an dazu.» Seit Sonntag ist die zielstrebige Katholikin erste Parteichefin in der fast 155-jährigen Geschichte der deutschen Sozialdemokraten.

Ihre Gegenkandidatin Simone Lange galt von vorneherein als chancenlos. Als Martin Schulz – tief verletzt durch sein Debakel als Kanzlerkandidat und führungsschwach im Ringen der SPD mit sich und der Neubildung einer ungeliebten grossen Koalition – als Parteichef nicht mehr tragbar erschien, stand niemand bereit, der Nahles den Anspruch hätte streitig machen können.

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Die zum linken Flügel gerechnete, aber pragmatisch orientierte Rheinland-Pfälzerin polarisiert unverändert auch in den eigenen Reihen. Doch von 2009 bis 2013 als Generalsekretärin und zuletzt als Bundesarbeitsministerin verstand sie es, sich Respekt und Anerkennung selbst beim politischen Gegner zu erwerben. Ihr Wahlergebnis auf dem Parteitag war dennoch mit 66 Prozent das zweitschlechteste in der Nachkriegsgeschichte der SPD.

Nahles: Heimat und Teamplay

Ihr Rückzugsort ist das Dorf, wo sie mit ihrer im vorigen Jahr eingeschulten Tochter lebt und an Weiberfastnacht stets Schnaps ausschenkt. «So einen Ort zu haben, wo man akzeptiert wird, ohne dass viele Fragen gestellt werden – das ist für mich Heimat. Das ist für mich das Dorf hier in der Eifel», sagt Nahles.

Als erste Frau übernahm sie im September den Vorsitz der auf 153 Abgeordnete geschrumpften Bundestagsfraktion. Sie wähnte sich damals noch als Oppositionsführerin. Weithin wurde mit einem Regierungsbündnis aus Union, FDP und Grünen gerechnet. Es kam anders, weil die FDP die Jamaika-Sondierungen beendete.

Andrea Nahles übernahm den Vorsitz der Bundestagsfraktion von Martin Schulz.

«Teamplay in der Führung wird einen neuen Stellenwert bekommen», kündigte Nahles damals an. Das war nicht nur ein Versprechen, sondern auch eine Ansage an die Platzhirschen ihrer Partei. Einige Monate später, nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen mit der Union, schloss Nahles den amtierenden Aussenminister und für seine Alleingänge berüchtigten einstigen SPD-Chef Sigmar Gabriel von der Regierungsbildung aus mit den Worten, die SPD-Minister müssten als Team funktionieren.

Nahles war zunächst auf No-GroKo-Kurs

Bei Facebook sprach Nahles schon am Wahlabend von einer «grossen Niederlage» ihrer SPD, die bei der Bundestagswahl mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegszeit einfuhr. Sie legte sich auf Opposition fest, wie die gesamte Parteiführung. «Wir brauchen einen programmatischen und organisatorischen Neuanfang», schrieb sie. «Für die SPD besteht bei dem Wahlergebnis überhaupt kein Anlass, über eine Weiterführung der GroKo nachzudenken.»

Nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen vollzog Nahles eine Kehrtwende und warb dafür, die Chancen einer grossen Koalition auszuloten. Dass ein Parteitag zunächst für Sondierungen und ein Sonderparteitag dann auch grünes Licht für Koalitionsverhandlungen gaben, ist auch kämpferischen Reden von Nahles zu verdanken, während Parteichef Schulz blass blieb.

Andrea Nahles

Andrea Nahles ist für ihre kämpferischen Reden bekannt.

Quelle: Lukas Schulze/Getty Images

Richtete die SPD wieder auf

Nahles war Mitte der 90er-Jahre streitbare Juso-Chefin, brachte 2005 eher ungewollt Parteichef Franz Müntefering zu Fall, stieg zur Vize-Parteichefin auf und richtete nach dem Wahldebakel 2009 als Generalsekretärin mit Gabriel die Partei wieder auf. Wenige dürften in der SPD über ein so engmaschiges Netz an Kontakten verfügen.

Nach der Bundestagswahl 2013 zog sie sich als frisch gekürte Arbeitsministerin aus der vordersten Linie der Parteiarbeit zurück. Über die SPD hinaus erwarb sie sich Anerkennung selbst bei CDU-Fraktionschef Volker Kauder und Innenminister Thomas de Maiziere, die ihr Verhandlungsgeschick, ihre Fähigkeit zur Kompromisssuche und ihre Sachkenntnis lobten.

In der SPD wird sie mit Kernprojekten wie dem Mindestlohn und der Rente mit 63 verbunden – obwohl letzteres vor allem ein Anliegen des damaligen Parteichefs Gabriel war. Zu den Gewerkschaften hat sie einen engen Draht. Der half, Forderungen der Gewerkschaften nach einem Rentenniveau von 50 Prozent zu dämpfen. Nahles schlug in der Regierung zunächst 46 Prozent vor, für das Wahlprogramm der SPD durften es dann 48 Prozent sein. Das setzte sie dann auch im Koalitionsvertrag durch.

Oskar Lafontaine, Andrea Nahles und Franz Muentefering

1996: Der damalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine (l.), Juso-Vorsitzende Andrea Nahles und der damalige Geschaeftsführer Franz Müntefering.

Quelle: Keystone

Verbissen und überdreht

In der Öffentlichkeit wird die Berufspolitikerin, die Politik und Germanistik studierte, bisweilen als verbissen wahrgenommen, bei anderen Gelegenheiten als überdreht, etwa wenn sie im Bundestag Pippi Langstrumpf singt oder beim Abschied aus dem Kabinett den Unions-Ministern gutgelaunt mit auf den Weg gibt, sie bekämen von ihr als Oppositionsführerin «in die Fresse». In ihrer näheren Umgebung gilt Nahles als Frohnatur mit Witz und Schlagfertigkeit.

Um Kraftausdrücke ist die Tochter eines Maurers nicht verlegen. Den damaligen Kanzler Gerhard Schröder bezeichnete sie bei der Agenda-2010-Reform als «Abrissbirne der sozialdemokratischen Programmatik». Über dessen Lob beim SPD-Parteitag im März 2017 freute sie sich aber: «Ich hatte nicht immer erwartet, dass Du das so doll machen würdest», attestierte Schröder der Arbeitsministerin mit rauem Charme.

«Ich bin ein sehr disziplinierter Mensch», sagte Nahles der «Süddeutschen Zeitung». «Mal ehrlich: Ohne Disziplin könnten wir alle doch so einen Job gar nicht machen. Ich bin vielleicht ein bisschen eruptiv. Ich komme aus der Vulkaneifel.» Welche weiteren Karriereschritte Nahles vor sich hat, lässt sie selber offen. Nach der dritten verlorenen Bundestagswahl in Folge ist in der SPD vielerorts die Rede davon, dass 2021 nicht erneut ein Kanzlerkandidat von einer einzelnen Person oder einem kleinen Kreis nach der Popularität ausgerufen werden dürfe. Das sei dreimal schiefgegangen. Als Parteichefin hat Nahles das Vorschlagsrecht. In ihrer Abitur-Zeitung gab sie 1989 als Berufswunsch an: «Hausfrau oder Bundeskanzlerin».

«Ich glaube, ich kann's»

Nahles bekannte vor dem Parteitag, sie habe in den vergangenen Wochen viel über ihre fast 30 Jahre in der SPD nachgedacht. Da seien ihr «teilweise lustige Sachen eingefallen und teilweise weniger lustige Sachen». Es sei eine lange Strecke gewesen, durch die sich Nahles gewappnet sieht für den Parteivorsitz: «Ich glaube, ich kann's.» Die Aufgabe sei «gross, aber ich habe mich auch lange irgendwie vorbereiten können auf die Aufgabe». Auf dem Parteitag sagte sie zu, die Erneuerung der Partei voranzutreiben: «Dafür werde ich arbeiten, dafür werde ich auch rackern.»

(reuters/ccr)