Jahrelang ging die Wahlbeteiligung in Deutschland zurück. Bei der Bundestagswahl 2013 gaben nur 71,5 Prozent der Wähler ihre Stimme ab. Für den 24. September erwarten Wahlforscher und Parteien nun wieder eine höhere Wahlbeteiligung - einige bis zu 80 Prozent. «So viel zur Annahme, dass die Bürger den Wahlkampf als langweilig empfinden und sich nicht für Politik interessierten», sagte der Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa, Hermann Binkert, zu Reuters.

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Dabei ist allerdings die Unsicherheit sehr gross, wem eine höhere Wahlbeteiligung eigentlich nutzen würde - und ob sie nicht erheblichen Einfluss auf den Ausgang des politischen Rennens haben könnte. Denn sowohl die AfD als auch die AfD-kritischen Parteien mobilisieren derzeit.

«Die Beteiligung wird steigen»

«Die Beteiligung wird auf jeden Fall steigen», glaubt Binkert. Er hatte zuvor bereits auf einen Wert von 75 bis 80 Prozent getippt. Ähnlich äusserte sich Forsa-Chef Manfred Güllner. «Allerdings bin ich nach dem TV-Duell vorsichtiger geworden», sagte Güllner zu Reuters. Denn die Debatte zwischen CDU-Chefin Angela Merkel und ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz könnte doch etliche Wähler abgeschreckt haben - weil sie nach Einschätzung Güllners zu grosse Nähe demonstrierten und eine echte politische Auseinandersetzung haben vermissen lassen.

Allerdings spricht der Trend der vergangenen Monate für eine tatsächlich steigende Wahlbeteiligung. Über einen längeren Zeitraum waren sowohl im Bund, den Ländern als auch den Kommunen bei den meisten Wahlen immer weniger Leute an die Urnen gegangen. Bei Bundestagswahlen etwa fiel die Quote von mehr als 80 Prozent in den achtziger Jahren auf die historischen Tiefststände 2009 von 70,8 und 2013 von 71,5 Prozent. Auf kommunaler Ebene waren die Werte dramatisch tiefer. Die frühere SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi hatte deshalb sogar vorgeschlagen, Wähler künftig in Supermärkten abstimmen zu lassen, um mehr Leute zu erreichen.

Parteien und Medien mobilisieren

Auf Bundesebene erklärt die niedrige Wahlbeteiligung auch den Vorwurf an Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Merkel, sie betreibe eine Politik der «asymmetrischen Demobilisierung» - einen Vorwurf, den sie stets vehement zurückgewiesen hatte. Im Wahlkampf 2017 setzt die Union wie ihre Konkurrenten auch auf einen echten Mobilisierungswahlkampf - was schon die steigende Zahl an Haustürbesuchen zeigt.

Die SPD hat eine Werbekampagne fürs Wählen gestartet. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» fährt eine eigene Initiative mit dem Titel «80 Prozent für Deutschland». Die fünf Generalsekretäre und Bundesgeschäftsführer der im Bundestag vertretenen Parteien starteten zusammen den Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl, der ebenfalls als Mittel zur Wählermobilisierung angesehen wird - weil der Test für die eigene Übereinstimmung mit den Parteipositionen 2013 immerhin 13,3 Millionen Mal absolviert wurde.

Wem nutzt die hohe Wahlbeteiligung

Der Grund dafür ist, dass mit der AfD ein wichtiges Element in den Bundestagswahlkampf 2017 gekommen ist. Offenbar glauben viele Wähler, dass es doch etwas zu entscheiden gibt - und eine Stimmabgabe lohnt oder wichtig für ihr Leben ist. «Wir sehen zwei Mobilisierungseffekte: Die AfD sorgt für ein zusätzliches politisches Angebot und lockt Nichtwähler an die Urnen», meint Insa-Chef Binkert. Dazu komme die starke emotionale Ablehnung Merkels wegen ihrer Flüchtlingspolitik - das motiviere ihre Gegner. «Gleichzeitig gibt es aber auch einen Anti-AfD-Effekt», sagte Binkert.

Auch der Berliner Politologe Gero Neugebauer verweist auf die Mobilisierung der Mitte-Wähler, die mit einer hohen Wahlbeteiligung ein gutes Ergebnis für die AfD verhindern wollten. «Möglicherweise kann gerade die Person Merkel viele Leute wegen der harten Angriffe an sie in die Wahlkabinen ziehen», meint er. Denn es gebe viele, die derzeit sagten: «Union will ich nicht wählen, aber Merkel soll bleiben.»

Aufsteigender Trend zeigte sich bei Landtagswahlen

Die Landtagswahlen der vergangenen Monaten haben beide Phänomene gezeigt: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsdebatte 2016 profitierte vor allem die AfD von einer steigenden Wahlbeteiligung. Allein in Sachsen-Anhalt etwa brachten die Rechtspopulisten laut Analyse der Wählerwanderungen mehr als 100'000 Nichtwähler an die Urnen - weit vor der CDU (39'000) und der FDP (10'000). Damals jubilierte AfD-Chefin Frauke Petry, dass ihre Partei schon wegen der Mobilisierung der Nichtwähler gut für die Demokratie sei.

Aber 2017 schlug das Pendel bei den drei Landtagswahlen im Westen zurück: Zwar legte auch dort die AfD zu. Aber auch CDU und FDP konnten in absoluten Zahlen wesentlich mehr Wähler anziehen als in früheren Landtagswahlen. In den öffentlichen Debatten wurde das Werben um mehr Wähler nun ausdrücklich auch damit verbunden, dass damit der Wert rechter Parteien gedrückt werden könne.

Falls die Wahlbeteiligung am 24. September entgegen der Erwartungen doch nicht steigen sollte, entsteht laut Neugebauer allerdings auch kein grosses Problem. Er verweist auf die viel niedrigeren Wahlbeteiligungen in einigen anderen Demokratien. «Wirkliche Legitimationsprobleme gibt es erst, wenn die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent fallen sollte», sagte er. Davon war man in Bremen im Jahr 2015 mit 50,2 Prozent allerdings nicht mehr weit entfernt. 2006 waren es in Sachsen-Anhalt sogar nur 44 Prozent - aber die Zahl stieg in dem Bundesland 2011 wieder auf 51,2 und 2016 sogar auf 61,1 Prozent.

(reuters/ccr)