Als Mark Zuckerberg im vergangenen Jahr eine Virtual-Reality-(VR)-Brille für 200 Dollar ankündigte, schüttelten Beobachter die Köpfe. Unmöglich. Der Facebook-Chef wollte, dass diese Brille eigenständig ohne ein eingeschobenes Smartphone und ohne einen per Kabel angeschlossenen leistungsfähigen Computer funktioniert. Geht nicht, hiess es damals aus der Branche. Und schon gar nicht zu diesem Preis.
Geht doch. Die Facebook-Tochter Oculus startet den Verkauf ihrer Oculus Go. Eine mobile VR-Brille, die gleich alles mit eingebaut hat, darunter einen kleinen Computer und ein Display. In Deutschland wird die Brille, je nach Speichergrösse, ab 219 Euro verkauft.
Oculus hofft mit der neuen Oculus Go auf einen iPhone-Moment: den Durchbruch für VR-Brillen. Nachdem wir die Brille für einige Tage getestet haben, stellen wir fest, dass dieses Vorhaben tatsächlich gelingen könnte.
Oculus Go ist erfrischend einfach
Virtuelle Realität war bisher eine komplizierte Angelegenheit. Es gab zwei Möglichkeiten, in diese Welt einzutauchen. Entweder schob man sein Smartphone in eine Brillenhalterung, band sich das Konstrukt vor die Augen und blickte in diese neue Welt der Rundumvideos und Spiele. Zuvor mussten dafür allerdings die richtigen Apps auf dem Mobiltelefon installiert werden. Googles Daydream-Brille funktioniert so. Und Samsungs Gear VR.
Oder man kaufte sich gleich das ganz grosse Ensemble, verband seine VR-Brille über ein dickes Kabel mit einem leistungsfähigen Computer oder mit einer Spielkonsole. Für einige Lösungen mussten dann noch separate Kameras an die Wände des Raumes angebracht werden, in dem man die Brille tragen wollte. So wie bei der Oculus Rift, HTC Vive und Playstation VR. Zu kompliziert? Problem erkannt.
Die Oculus Go ist dagegen erfrischend einfach. Die Einrichtung über eine Smartphone-App dauert nur wenige Minuten und wird in einem kleinen Videotutorial erklärt. Dann ist die Brille mit dem WLAN verbunden und startbereit. Selbst VR-Anfänger dürften mit dieser Brille problemlos zurechtkommen.
Mit vielen Apps kompatibel
An der Brille selbst gibt es nur zwei Knöpfe. Einen zum Ein- und Ausschalten, einen zweiten für die Lautstärke. Ausserdem gibt es einen Micro-USB-Anschluss zum Aufladen und zum Übertragen von Fotos und Videos und einen Kopfhöreranschluss.Zur Oculus Go gehört ausserdem noch ein kleiner Controller mit einem Trigger-Knopf für den Zeigefinger, einem Touchpad und zwei weiteren Knöpfen (Zurück und Home) für den Daumen. Der Umgang mit dem Controller wird ebenfalls in einem Tutorial schnell gelernt.
Natürlich steht und fällt eine VR-Lösung mit der Art und Zahl der Anwendungen. Die Oculus Go muss hier nicht von vorn anfangen, weil sie mit den meisten Apps und Spielen kompatibel ist, die es bereits für die Gear VR von Samsung gibt, an der Oculus ebenfalls beteiligt war.
So stehen zum Start der Oculus Go mehr als 1000 Apps, Filme und Spiele zur Verfügung, fast 100 davon sind eigens für die Oculus Go entwickelt und optimiert worden. Wir konnten nicht in Ansätzen alle Angebote ausprobieren, haben aber eine grössere Auswahl getestet, von der vieles allerdings noch ausschliesslich in englischer Sprache zu haben ist.
Die Brille funktioniert unabhängig vom Smartphone
Eine grosse Zahl der Apps, Spiele und 360-Grad-Videos ist kostenlos, andere können für wenige Euro aus dem Store geladen werden. Dabei finden die Auswahl, das Bezahlen und der Download komplett in der Brille statt. Wer nicht will, muss sein Smartphone mit der Oculus-Go-App gar nicht mehr anfassen. Die Brille funktioniert sowieso unabhängig davon, ob ein Smartphone in der Nähe ist oder nicht.
Besonders gut gefallen hat uns die Umsetzung des Spiels «Siedler von Catan», das in der VR-Version aber nur auf Englisch zur Verfügung steht. Hier können mehrere Spieler gegeneinander antreten, die virtuell zusammen an einem Tisch sitzen. Das funktioniert übrigens auch, wenn einer der Spieler auf seiner Oculus Rift spielt, die an einem Computer angeschlossen ist.
Für nicht so schreckhafte Gemüter empfiehlt sich auch «Face Your Fears», bei dem der Spieleentwickler versucht, den Zuschauer zu erschrecken. Man befindet sich dann beispielsweise in der Welt der Netflix-Serie «Stranger Things» und wird von hässlichen Wesen bedrängt. Im Test sind wir dann bei der Episode «Dead of Night» ausgestiegen und haben schnell die Brille abgenommen.
Mehrere Zuschauer können gemeinsam einen Film ansehen
Besonders gelungen ist die virtuelle Umgebung, die sich hinter Oculus Rooms versteckt. Hier befindet sich der Besucher in einer Wohnung, in die er auch Freunde einladen kann, die natürlich ebenfalls eine Oculus Go nutzen müssen. So können mehrere Besucher im Wohnbereich gemeinsam einen Film ansehen oder am Spieltisch ein Spiel zusammen spielen und dabei sogar miteinander reden. Derzeit stehen sieben Spiele zur Auswahl, darunter «Memory», «Dame», «Schach» und «Reversi». VR muss also nicht unbedingt einsam sein.
Nutzer navigieren durch Menüs und Spiele mit dem Controller in der Hand, der dann wie ein Laserpointer funktioniert. Sie können sich ausserdem nach allen Seiten umsehen. Allerdings erfasst die Brille nicht ihre genaue Lage im Raum, weshalb man sich auch nicht in der virtuellen Welt nach vorn und nach hinten lehnen oder bücken kann. Man kann das zwar versuchen, aber die Bewegung wird nicht in den virtuellen Raum übertragen. Andere VR-Brillen sind dazu in der Lage. Sie sind dann aber deutlich teurer.
Im Vergleich zu anderen Brillen ist die Oculus Go angenehm zu tragen. Ein mitgelieferter Abstandhalter schafft sogar genug Platz, dass eine grössere Brille noch mit unter die VR-Brille passt. Mit weniger als 500 Gramm ist das Gewicht der Brille auch noch in Ordnung.
Die Batterie hält für knapp drei Stunden
Schlau umgesetzt ist das eingebaute räumliche Audiosystem. Der Ton wird durch eine Plastikführung an den Seiten der Brille bis in die Nähe der Ohren geführt. In der Praxis ist das absolut ausreichend. Wer eine höhere Qualität wünscht, kann eigene Kopfhörer verwenden. Aber die eingebaute Lösung führt dazu, dass der Nutzer auch noch Aussengeräusche vernimmt. Man fühlt sich dadurch weniger isoliert von der Aussenwelt und hört beispielsweise noch Menschen in der Umgebung.
Die fest eingebaute Batterie hielt im Test beim Spielen etwa zwei Stunden durch. Schaut man einen Film, reicht sie sogar für knapp drei Stunden. Etwa so lang braucht sie auch, um wieder aufgeladen zu werden. Im Unterschied zu anderen VR-Brillen hatten wir nicht den Eindruck, dass während der Nutzung übermässig Hitze entsteht.
In der grossen Zahl der Apps und Spiele haben wir für uns sogar eine Killeranwendung gefunden: Die Oculus Go eignet sich hervorragend als Kinoersatz. Getestet haben wir das an der Netflix- und an der Plex-App. Während sich die Netflix-App im Streamingkatalog des US-Anbieters bedient, greift die Plex-Anwendung auf Filme zu, die im Netzwerk beispielsweise auf einer Festplatte gespeichert sind.
Die Qualität der Displaydarstellung ist hervorragend
Schon bei Netflix kann der Nutzer in der Oculus Go die Filme auf einer beeindruckend grossen Leinwand betrachten. Doch in der Plex-Anwendung lässt sich die Leinwand beliebig vergrössern, sodass man plötzlich den Eindruck bekommt, im Kino in einer der ersten Reihen zu sitzen. Wer das nicht mag, kann die Leinwand auch wieder verkleinern.
Die Qualität der Displaydarstellung ist im Vergleich mit anderen VR-Brillen hervorragend. Oculus nutzt hier ein LC-Display mit kurzen Antwortzeiten und einer Auflösung von 538 Bildpunkten pro Zoll. Der Fliegengittereffekt ist nicht zuletzt wegen der Nähe des Auges zum Display zwar noch zu erkennen, aber nicht mehr sonderlich störend.
Die Bildwiederholfrequenz beträgt wahlweise 60 oder 72 Hertz. Auf beide Werte können die Entwickler zugreifen. Das ist weniger als die sonst üblichen 90 Hertz bei teureren VR-Brillen. Zwar ist die Bildwiederholfrequenz wichtig, um das Unwohlsein beim Betrachten von VR-Inhalten in Grenzen zu halten. Doch im Test haben wir festgestellt, dass dafür die Art des Spiels den Ausschlag gibt. Wer sich mit einer VR-Brille auf eine virtuelle Achterbahnfahrt begibt, wird auch bei 90 Hertz höchstwahrscheinlich mit Übelkeit belohnt.
Das fehlende Tracking im Raum ist ein Manko
Fazit: Die Oculus Go ist der mit Abstand einfachste Einstieg in die virtuelle Realität. Und sie bringt eine Erfahrungsqualität, die man bisher nur bei deutlich teureren und komplizierteren Lösungen hatte. Der Preis ist bei dieser Qualität mehr als gerechtfertigt. Weil die Brille auf das bisherige Oculus-Angebot an Apps und Spielen zugreifen kann, umgeht sie auch das Henne-Ei-Problem. Es gibt schon jetzt eine sehr grosse Auswahl an Inhalten.
Wir sind allerdings schon nach wenigen Testtagen an die Grenze des internen Speichers von 32 Gigabyte gekommen. Wer sich beispielsweise ein kurzes VR-Video herunterlädt, kommt schnell auf ein halbes Gigabyte. Will man unterwegs Filme schauen, sollte man sich die Dateien auf die Brille speichern, was über ein USB-Kabel möglich ist. Dann ist der Speicher schnell voll. Für diese Fälle empfiehlt sich das Modell mit 64 Gigabyte, das für 269 Euro angeboten wird.
Leider ist der Akku nach einem Film bereits leer, sodass die Brille auf einer längeren Zugfahrt oder einem längeren Flug schnell wieder im Gepäck verschwindet. Ein weiteres Manko ist das fehlende Tracking im Raum. Es würde das Empfinden in der virtuellen Welt vervollständigen, wenn der Nutzer sich auch nach vorn und hinten bewegen könnte. Wer neu ist in der VR-Welt, wird das nicht missen. Wer das an anderen Brillen schon einmal ausprobiert hat, wünscht es sich aber auch für die Oculus Go.
Dieser Text erschien zuerst in der «Welt» unter dem Titel «Oculus Go soll Zuckerbergs iPhone-Moment werden».