Irgendwann im vergangenen Sommer klingelt bei Elisa Sighicelli in Turin das Telefon. Am Draht ist Ludovico Pratesi, Kurator und intimer Kenner der jungen Kunstszene. Er erzählt der Fotokünstlerin von einem neuen Preis, der vom Florentiner Weinimperium der Marchesi de’ Frescobaldi ins Leben gerufen wurde: Drei zeitgenössische Künstler sollten eines ihrer Weingüter besuchen und mit eigenen Ausdrucksmitteln interpretieren. Die erste Ausgabe sieht als Modell Castelgiocondo vor, ein 1100 errichtetes Schloss, das in der Hügellandschaft südöstlich von Montalcino steht und in dessen Weingärten die Trauben für einen eleganten und mehrfach ausgezeichneten Brunello reifen.
Elisa Sighicelli taucht ins Herz der Anlage – in den Weinkeller. Sie klettert mit ihrer Fotoausrüstung in einen der Stahltanks, beleuchtet ihn von innen und lichtet den kreisförmigen Deckel mit seiner mittig platzierten Einguss-Öffnung ab. Das Resultat wirkt wie die Iris eines Auges, nur das schimmernde Bordeaux-Rot, das mehrere Weinjahrgänge auf dem Metall hinterlassen haben, irritiert.
«Meine Arbeit sprengt die Grenze zwischen Realität und Abstraktion», sagt die Künstlerin, «gleichzeitig zeigt sie den intimen, verborgenen Ort, an dem Wein entsteht.» Sie bekommt dafür den ersten Preis des Frescobaldi-Wettbewerbs, ihr Werk ziert die Etiketten einer limitierten Serie von Magna Castelgiocondo Brunello 2008, die in ausgesuchten Weinhandlungen ab 200 Euro zu haben sind und deren Verkaufserlös der Florentiner Künstlervereinigung Base zufliesst.
Lange Familientradition. «Wir möchten die Tradition des Mäzenatentums neu beleben», sagt Tiziana Frescobaldi, die das Projekt Artisti per Frescobaldi gewünscht und entwickelt hat. Zur Vernissage der Ausstellung der Wettbewerbsarbeiten lud sie in die Salons des prächtigen Florentiner Palazzo Frescobaldi, es gab Fingerfood, Pasta und Wein zwischen antiken Gobelins und goldgerahmten Renaissance-Gemälden. Tatsächlich unterstützen die Frescobaldis seit 700 Jahren Künstler, darunter so grosse Namen wie Donatello, Michelozzo und Filippo Brunelleschi, der im Auftrag der Marchesi die zauberhafte Santo-Spirito-Kirche gleich um die Ecke des Familien-Palazzo entwarf. «Indem wir uns mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen, öffnen wir uns der Welt von heute», sagt Tiziana Frescobaldi, «das ist wichtig und tut uns gut.»
Dieser Austausch hatte in vielen adligen Familien Tradition, und weil die Aristokratie oft über grosse Ländereien mit Weinbergen verfügte, ist die Verbindung zwischen Kunst und Wein nicht neu. Offenbar erlebt dieses Zusammenspiel zurzeit eine Renaissance. Das mag ein Marketing-Schachzug sein – jedenfalls umgeben sich Winzer wieder gerne mit grosser Kunst, vor allem in Italien.
Im Norden des Landes führt Alois Lageder in fünfter Generation die 1823 gegründete Kellerei. Sein Name steht für höchste Qualitätsstandards im biologisch-dynamischen Weinbau, für eine ganzheitliche und nachhaltige Unternehmensphilosophie ebenso wie für eine grosse Bandbreite künstlerischer Aktivitäten. «Lange habe ich nach Kunstwerken gesucht, die meine Verbundenheit mit der Umgebung zum Ausdruck bringen», sagt der Südtiroler, «dann beschloss ich, Künstler einzuladen und ihnen meine Kellerei zu zeigen, damit sie diese als Inspiration für ihre Werke nutzen können.»
Eine der heute fertig gestellten Arbeiten ist das Bienenhaus des Belgiers Carsten Höller und der Deutschen Rosemarie Trockel. Sieben bunte Kugeln aus gebranntem, einseitig glasiertem Ton und Edelstahl schimmern unter den Ästen eines alten Feigenbaums im Garten von Ansitz Löwengang. Inspiration für das Werk war der kreisrunde Kelterturm, in dem die Trauben dank dem Prinzip der Schwerkraft von einer Ebene zur nächsten gleiten. Er steht – wie die Bienenkugeln – für eine Symbiose zwischen Natur und Technik. Das künstlerische Bienenhaus ist bevölkert, und Alois Lageder geniesst jeden Morgen den eigenen Honig auf seinem Frühstücksbrot. Realisiert wurde auch das Werk des Schweizers Christian Philipp Müller. Er füllte drei würfelförmige Glascontainer mit Erde aus den Weinbergen Löwenfang, Römigberg und Lindenburg und setzte sie in die Mitte des grossen Wintergartens. Aus den Glasquadern wachsen Gräser, Brennnesseln und andere Pflanzen. Die Arbeit thematisiert das Naturverständnis des Winzers und versetzt ein Stück Weinberg in das Innere des Betriebes.
Kunsttouristen unterwegs. Etwas weiter südlich, in der lombardischen Franciacorta, werden jene nach der Region benannten perlenden Weissweine produziert, die selbst den besten Prosecco weit hinter sich lassen. Als Vorzeigekellerei gilt Ca’ del Bosco, zu deren Erzeugnissen die Cuvée Annamaria Clementi zählt. Das Weingut befindet sich unweit von Rovato, etwa auf halber Strecke zwischen Brescia und Bergamo, das erste Kunstwerk passiert der Besucher gleich am Eingang des Orts: ein kreisförmiges Bronzetor mit fünf Metern Durchmesser, kreiert von Italiens wichtigstem Bildhauer, Arnaldo Pomodoro. Anderswo steht Igor Mitorajs mächtiger Kopf aus weissem Carrara-Marmor auf der grünen Wiese, während Stefano Bombardieri ein Nashorn in Originalgrösse aus Fiberglas gestaltete, das im Eingang der Kellerei von der Decke baumelt. «Inzwischen wird unsere Hightech-Kellerei nicht nur von Weinliebhabern besichtigt, sondern auch von Menschen, die sich für Kunst interessieren», sagt Maurizio Zanella, CEO von Ca’ del Bosco.
Auch in der sanften Hügellandschaft des Piemonts sind Kunsttouristen unterwegs. Die geometrischen und poppig bunten Wandmalereien von Sol LeWitt sind zwar weltweit in Museen zu sehen, eines seiner poetischsten Werke jedoch steht unter freiem Himmel: die von ihm bemalte Fassade der kleinen Kapelle SS. Madonna delle Grazie, 1914 inmitten erstklassiger Barolo-Weingärten erbaut. Reben und Kirche gehören den Cerettos, die seit den dreissiger Jahren Winzer und Kunstsammler sind. Sie haben nicht nur der antiken und beinahe vergessenen weissen Traubensorte Arneis zu einem fulminanten Comeback verholfen, sondern produzieren auch exzellenten Barbera, Barbaresco und Barolo.
Es heisst, der amerikanische Konzeptkünstler habe sich seine Arbeit mit einer Barolo-Cru-Flasche pro Woche honorieren lassen, und zwar auf Lebzeiten und übertragbar auf seine Erben. Sol LeWitt war nur einer der Künstler, die eine Zeit lang in einem Ceretto-Weingut lebten und arbeiteten. Auch Francesco Clemente, Anselm Kiefer oder Kiki Smith profitierten von der Gastfreundschaft der Familie und hinterliessen Werke. «Wir planen, ein kleines Museum in den Weinbergen zu eröffnen», verrät Roberta Ceretto.
Versteigerungen en vogue. Die anspruchsvollste Verbindung von Kunst und Wein sieht man wohl auf dem Gut Tenuta dell’Ornellaia im bildhübschen Winzerdorf Bolgheri in der Maremma. In den gut 500 französischen Barrique-Fässern des 1981 gegründeten Weinguts reift eine Selektion aus Cabernet Sauvignon, Merlot, Cabernet Franc und Petit Verdot, die es in zwanzig Jahren zu Weltruhm gebracht hat. Der Ornellaia Bolgheri Superiore wurde mit Auszeichnungen überhäuft, Kenner loben seine Frische, seine Struktur und seine barocke mediterrane Fülle. Um die nur 150 000 jährlich produzierten Flaschen streiten sich etwa Sharon Stone, George Clooney und Claudia Schiffer.
«2008 kam die 20. Ernte von Ornellaia auf den Markt, das wollten wir feiern», erzählt Giovanni Geddes, CEO von Ornellaia. «Wir baten den Künstler Luigi Ontani, ein Kunstwerk zu schaffen, das die Essenz des Weines zum Ausdruck bringen würde.» So entstand das Projekt Vendemmia d’Artista, bei dem jedes Jahr ein anderer Künstler einen Beitrag leistet. Eine limitierte Anzahl von Ornellaia-Flaschen wurde mit Etiketten vom selben Künstler versehen und anschliessend versteigert. Der Erlös kommt einer kulturellen Institution zugute. «Bis jetzt haben wir über eine Million Euro spenden können», freut sich Giovanni Geddes.
Nach Luigi Ontani, der vier opulente und farbenprächtige Skulpturenbrunnen für die Eingangshalle von Ornellaia schuf, interpretierte die Ägypterin Ghada Amer den eleganten Jahrgang 2007 mit einer Ausseninstallation aus duftenden Jasminsträuchern. 18 Doppelmagna, 4 Imperial-Flaschen und eine Salmanazar mit von der Künstlerin gestalteten Etiketten wurden von Sotheby’s im Rahmen einer Soirée in New York versteigert. Der Erlös von 157 000 Dollar ging an das Whitney Museum. Die Deutsche Rebecca Horn stellte 2010 ein mannshohes, mehrarmiges, bewegliches Kupferobjekt zwischen die Barrique-Fässer – mit Spiegeln, die sanfte Lichtspiele an die Kellerdecke zaubern, und gläsernen Weinkelchen, die sich heben und senken. Letztes Jahr schuf der Chinese Zhang Huan für den Innenhof der Kellerei eine Edelstahlskulptur, die den chinesischen Philosophen Konfuzius darstellt.
2013 kommen die Weine der 25. Ornellaia-Ernte von 2010 auf den Markt. Um das Jubiläum zu feiern, wurde der Arte-Povera-Star Michelangelo Pistoletto gebeten, den Jahrgang zu interpretieren. Der charismatische 80-Jährige setzte dabei auf das Grundthema seiner Werke: den Spiegel. Sowohl bei der Spirale, die sich um die Doppelmagna windet und im Fall der einzigen Salmanazar dreidimensional dargestellt ist, als auch beim modifizierenden Formenspiel um die Imperial-Flaschen setzte er ein spezielles spiegelndes Material ein, das er für seine Arbeiten entwickelt hat. «Der Ornellaia 2010 ist ein gewaltiger Wein, der Weinliebhaber aufhorchen lassen wird», so Serena Sutcliffe, Master of Wine und Leiterin des International Wine Department von Sotheby’s.
Die neun Lose, die im Rahmen eines Galaabends im Royal Opera House in London versteigert wurden, fanden reissenden Absatz – und erzielten Höchstpreise: Eine einzelne Doppelmagnum mit Pistoletto-Etikette ging für 12 000 Pfund an einen Griechen, eine Imperial-Flasche brachte 28 000 Pfund, und für die spektakuläre Salmanazar legte Cécile Allegri, eine Sammlerin aus Monte Carlo, 80 000 Pfund auf den Tisch.
«Es herrscht ein Gleichklang zwischen der Kultur der Künste und jener des Weins, zwischen Venus und Bacchus», erklärte Michelangelo Pistoletto gleich nach der Benefizauktion. «Beide haben keine praktische Funktion, können aber sehr wirksam den Geist beflügeln. Viele Künstler haben im Wein eine Inspirationsquelle gefunden.» Er selber ist keine Ausnahme und hat sich ein paar Kisten Ornellaia gesichert. Auf dass sein Geist auch weiterhin beflügelt werde.