Ihr Gehäuse ist nicht grösser als ein Kubikzentimeter. Doch die Kamera, die aussieht wie ein halber Legostein, leistet viel mehr als herkömmliche Geräte: Sie kann nicht nur Bilder aufnehmen und speichern, sie kann diese auch intelligent bearbeiten, sortieren und weiterleiten, wie Mario El-Khoury stolz erzählt. Statt alles aufzunehmen, filtert die neuste Erfindung aus dem Centre Suisse d'Electronique et de Microtechnique (CSEM) die wichtigen und gewünschten Informationen heraus. Statt Datenberge produziert sie also zielgerichtete Dossiers. Oder mit den Worten von CSEM-Chef El-Khoury: «Die Kamera liefert Smart Data statt Big Data.»

Das klingt gut und passt zur Philosophie der Forscher in Neuenburg. Schon das Centre Electronique Horloger (CEH), die Vorgängerorganisation des CSEM, hatte sich als Leitmotiv den haushälterischen Umgang mit Ressourcen auf die Fahne geschrieben. Und nur deshalb vor fünfzig Jahren die erste Quarzarmbanduhr der Welt bauen können.

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Im Namen der Industrie

Die neue smarte Kamera heisst übrigens Vision in Package oder kurz VIP. Wer das Produkt auf den Markt bringen wird, ist noch nicht klar. Priorität hat - wie immer beim CSEM - ein heimisches Unternehmen. «Unsere Aufgabe ist es, der Schweizer Industrie zu dienen», sagt El-Khoury. «Schliesslich werden wir an unserer Wirkung auf die hiesige Wirtschaft gemessen, an den Wachstumsimpulsen, die wir liefern, nicht an der Anzahl akademischer Publikationen.»

Innovation, Industrie, Schweiz. Diese drei Worte wiederholt Mario El-Khoury immer wieder. Für den CSEM-Chef sind sie untrennbar miteinander verbunden: Ohne Innovation keine wettbewerbsfähige Industrie. Und ohne Industrie kein Wohlstand im Land. Also sorgt er mit seinen rund 450 anwendungsorientierten Forschern dafür, dass der Industrie die Ideen nicht ausgehen und der Werkplatz auch in Zukunft brummt.

Das CSEM selbst bezeichnet sich als «Brücke zwischen Forschung und Industrie», als «Innovationsbeschleuniger», als Taktgeber. Das sei jetzt im Zeitalter der Digitalisierung und des starken Frankens wichtiger denn je, sagt El-Khoury. Idealerweise ist es eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen den heimischen Firmen und dem CSEM. Oftmals ist es aber das Forschungsinstitut, das von sich aus auf die Unternehmen zugeht, wie der Chef betont. «Wir müssen die Firmen inspirieren, sonst würde es viele Innovationen gar nicht geben.»

Ausländische Firmen übernehmen CSEM-Start-ups

Nur wenn kein Schweizer Unternehmen Interesse an den neusten Erfindungen zeigt, wendet sich das CSEM an ausländische Konzerne. Alternativ gründet das Forschungslabor ein Start-up. Bis anhin sind es vierzig an der Zahl, wovon in der Zwischenzeit neun von grösseren Konzernen übernommen wurden.

Jüngstes Beispiel: Anfang April kaufte die amerikanische Cognex-Gruppe das CSEM-Spin-off ViDi, einen Anbieter von Deep-Learning-Software für die industrielle Bildverarbeitung. ViDi ist kein Einzelfall, es waren bis jetzt immer ausländische Firmen, welche die CSEM-Start-ups übernahmen. Für El-Khoury keine Überraschung, da in diesen Bereichen keine Schweizer Grosskonzerne existierten. Aber auch kein Problem: «Wichtig ist, dass die Arbeitsplätze und die Forschung in der Schweiz bleiben.»

Chef Mario El-Khoury (l.) und Verwaltungsratspräsident Claude Nicollier

Multidisziplinäres Team: Chef Mario El-Khoury (l.) und Verwaltungsratspräsident Claude Nicollier.

Quelle: François Wavre

Fortschrittsglaube

Rückblick: Es war heiss im Sommer 1962 im Dachstock des Gebäudes an der Rue Abram-Louis Breguet 2 in Neuenburg, drückend heiss sogar. Aber das störte die Wissenschaftler nur wenig, die hier in einem improvisierten Labor für das eben gegründete Centre Electronique Horloger an einem Geheimprojekt arbeiteten. Das Team - am Anfang waren es drei, am Schluss ein Dutzend Männer - entwickelte still und leise ein bahnbrechendes Produkt: die erste Quarzarmbanduhr der Welt. Da steckte man die Sommerhitze locker weg. Und man arrangierte sich auch mit dem zunächst sehr rustikalen Interieur.

Ganz am Anfang gab es nur einen Tisch und eine Lampe, nicht einmal ein Telefonapparat war vorhanden. Geschweige denn all die anderen Utensilien, auf welche die CSEMMitarbeiter heute in ihrem Laboratorium zurückgreifen können.

Unter den begeistert forschenden Männern war auch Eric Vittoz, frisch von der ETH Lausanne abgeworben. Für das Forscherteam hatte der junge Elektroingenieur ein wertvolles Plus im akademischen Rucksack: Er hatte seine Diplomarbeit über Transistoren geschrieben. Sein recht exklusives Wissen in dem Bereich war Gold wert für das Quarzprojekt. Man kann sich die Euphorie im Neuenburger Team nachträglich nur mit dem damals herrschenden Fortschrittsglauben erklären, ganz besonders, wenn man Vittoz heute zuhört: «Ich habe rasch aufzeigen können», erinnert er sich, «dass eine Quarzarmbanduhr machbar wäre.»

«Monsieur Low Power»

Nun muss man wissen, dass damals zwar bereits Quarzuhren existierten, doch das waren grosse Ungetüme. Die Herausforderung waren also erstens die Miniaturisierung der Bauteile und zweitens die Verringerung des Energiebedarfs der integrierten Schaltungen. Deren Stromappetit war gemäss Vittoz' Berechnungen um den gigantischen Faktor 1000 zu verkleinern. Nur so könnte eine Armbanduhr mit einer damals herkömmlichen Quecksilber-Knopfbatterie ein Jahr lang die Zeit anzeigen.

Aus dem CEH wurde 1984 nach der Fusion mit der Fondation Suisse pour la Recherche en Microtechnique (FSRM) und dem Laboratoire Suisse de Recherches Horlogères (LSRH) das CSEM. Die Problematik blieb aber bei den meisten Projekten die gleiche: Wollte man smarte Produkte wie die VIP-Minikamera, musste man deren Energieverbrauch extrem reduzieren. Nur dann würden sie lange unabhängig von jeder Steckdose sein, klein, flexibel und doch extrem leistungsfähig.

Elektroingenieur Vittoz machte die Forderung derart radikal zu seinem Credo, dass er in der internationalen Fachwelt als «Monsieur Low Power» bekannt geworden ist. Am Centre Electronique, an dem neben verschiedenen Uhrenmarken auch die öffentliche Hand beteiligt war, legte er schon im erstenArbeitsjahr statt nur Worte ein selbst gebautes Modell vor. Was aussah wie ein Wecker mit ein paar Kabeln und Radioinnereien und mithin ein bisschen an eine Bombe im Donald-Duck-Comic erinnerte, war in Wirklichkeit eine voll funktionierende Demonstrations-Quarzuhr. Das Verblüffende dabei: Eric Vittoz und seinen Mitstreitern war es bereits gelungen, den Hunger der integrierten Schaltungen auf die erforderlichen Mikrowatt zu reduzieren. Jetzt ging es lediglich noch darum, das ganze Teil auf Armbanduhrgrösse zu bringen. Knacknuss war der Quarzoszillator - der vor allem war viel zu gross.

Die Geschichte der Erfindungen aus dem CSEM-Labor:

  • 1967: Die erste elektronische Quarzuhr der Welt: die Beta 1.
  • 1982: Der erste Mikroprozessor für Uhren.
  • 1991: Das erste kommerzielle allein stehende Atomkraftmikroskop Europas.
  • 1993: Die erste rein optische Computermaus der Welt, entwickelt für Logitech.
  • 1997: Der erste Prototyp der Welt für UMTS (3G).
  • 2003: Die erste 3-D-Kamera, die Längen messen kann.
  • 2007: Die erste Silizium-Spirale für Uhren, entwickelt für Patek Philippe.
  • 2012: Das erste Teleskop mit rekonfigurierbarer Maske zur Observation der ältesten Galaxien des Universums.
  • 2014: Die ersten weissen und damit auch farbigen Fotovoltaik-Panels.
  • 2016: Die erste GPS-freie Lokalisierungshilfe, entwickelt für Semtech. Eine Entwicklung, die das Internet of Things weiterbringen soll.
  • 2017: Der kleinste Bluetooth-Chip, entwickelt gemeinsam mit Swatch Group.

Raumfahrt mit Rosetta

1967 war man am Ziel. Das CEH präsentierte mit der Beta 1 die erste echte Quarzarmbanduhr der Welt. Kurz darauf wurde die verbesserte Beta 2 produziert. In den Präzisionstests liefen die Quarzwerke, amtlich bestätigt, zehn Mal genauer als die allerbesten mechanischen Uhren. Ein paar Monate später reichte auch die japanische Seiko ein paar Prototypen zum Prüfen ein. Im Test des Neuenburger Observatoriums belegten die Japaner in einem Wettbewerb damit die respektablen Ränge 11, 13, 14 und 15. Die Plätze 1 bis 10 gingen an das CEH.

Man zehrt noch heute von den alten Geschichten. Heute ist aber das CSEM viel breiter aufgestellt. Es forscht für 190 industrielle Kunden, darunter viele KMUs ohne eigene Forschungsabteilung, aus den unterschiedlichsten Bereichen, vom Energiesektor über die Medtech- und Telekombranche oder das Transportwesen bis hin zur Raumfahrt. Diese stellt mit 24 Prozent den grössten Anteil. So lieferte das CSEM etwa die nur 100 Gramm leichten «Augen» für die Raumsonde Rosetta, die 2014 nach zehnjähriger Reise den Kometen Tschuri fotografierten.

Viel Raumfahrtflair bringt auch der Verwaltungsratspräsident Claude Nicollier ins CSEM ein: Vor 25 Jahren flog er an Bord der «Atlantis» ins All - als bis heute einziger Schweizer überhaupt. «Ich erinnere mich an diese Momente, als wäre es gestern gewesen», sagt er. Unvergessen ist die Episode aber auch dank Adolf Ogi. Der damalige Bundesrat rief bei einer Liveschaltung am 7. August 1992 zwischen dem Luzerner Verkehrshaus und der Raumfähre dem Astronauten hörbar begeistert zu: «Grüess Gott, Freude herrscht, Monsieur Nicollier» - und prägte damit seinen berühmtesten Satz.

Quarzuhr Beta 1

Beta 1: Die erste elektronische Quarzuhr der Welt.

Quelle: ZVG

Preise in unterschiedlichen Disziplinen

Es ist aber nicht nur die Raumfahrt, sondern vielmehr der multidisziplinäre Charakter, der Nicollier am CSEM gefällt, wie er betont. Und der ihn dazu bewogen habe, vor rund zehn Jahren dem Verwaltungsrat beizutreten, als er von Swatch-Group-Gründer Nicolas Hayek angefragt worden sei. Und so heimsen die Neuenburger heute in den unterschiedlichsten Disziplinen Preise ein - oder feiern heimlich mit, wenn einer ihrer Kunden ausgezeichnet wird.

Zuletzt etwa, als das Zürcher Jungunternehmen AVA in diesem Herbst den «Top 100 Startup Award 2017» gewann. Denn die Technologie für dessen Armbänder, welche die fruchtbaren Tage im weiblichen Zyklus anzeigen, basiert auf einer CSEM-Entwicklung.

Schweizer Perfektion ist wieder gefragt

Die Arbeit jedenfalls geht dem Institut nicht aus. Je mehr Prozessoren überall eingebaut werden, desto mehr ist der Pioniergeist der CSEM-Forscher gefordert. Insbesondere jetzt, da sich das Ende des Mooreschen Gesetzes abzeichnet, das besagt, dass sich die Leistung von Chips alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. «Das ist eine Chance für die Schweiz», sagt Mario El-Khoury. Da die Kosten für die Leistung nicht mehr automatisch weitersinken würden, sei wieder Exzellenz gefragt, Schweizer Perfektion, Verkleinerungskunst und Tüftlertum. Dazu - schon wieder - der haushälterische Umgang mit den Chip-Ressourcen. Und eine Vorstellungskraft, was die Zukunft noch bringen wird.

Die indes lässt sich nicht immer exakt berechnen, wie die Forscher um Eric Vittoz auch erleben mussten. Der Triumph mit den Schweizer Quarzkalibern währte nur kurz. In der berühmten Beta 21 fanden die zwei ersten Prototypen zwar noch ihre industrielle Materialisierung, es wurden aber nur 6000 Uhren mit diesem Werk gebaut. Die Japaner, die sich 1967 mit den Trostpreisen begnügen mussten, zündeten dann den Turbo. Sie setzten rechtzeitig auf die sogenannte CMOS-Technologie, die sich auf breiter Front durchsetzte, und stiegen in diesem Bereich zum Marktführer auf.

Der Zeit voraus

Es gab auch sonst Rückschläge. Zum Beispiel mit einer Smartwatch, die den Puls messen kann. «Wir waren im Jahr 2000 so weit», sagt Mario El-Khoury. Aber die Schweizer Uhrenindustrie wollte damals nichts davon wissen. Also griff Nokia zu. Überhaupt sind die CSEM-Schubladen voll von Ideen und Entwicklungen, die ihrer Zeit voraus waren. «Wir sprachen damals schon über elektronisches Geld, über smarte Uhren und vieles mehr", erinnert sich Vittoz: «Wir haben in Brainstormings alles Mögliche erfunden.»

Wer Taktgeber sein will, muss schnell denken können. Manchmal halt auch zu schnell.