Als das Traktandum Tourismus an der Reihe war, stand Dick Marty auf, verliess ohne Zögern das Kommissionszimmer und überliess das Legiferieren seinen Kollegen. Denn der Tessiner war damals nicht nur FDP-Ständerat, sondern auch Präsident von Schweiz Tourismus – und somit bei diesem Dossier befangen. Amtsältere Ständeräte erinnern sich mit einer gewissen Hochachtung an die Episode, die Marty noch immer als «Selbstverständlichkeit» umschreibt.
Eine Selbstverständlichkeit aber, die heute in Bundesbern die Ausnahme ist. Einige Politiker halten sich zwar in den Kommissionen nobel zurück, falls ein Thema zur Sprache kommt, das in direktem Zusammenhang mit einem ihrer Mandate steht; die meisten Parlamentarier jedoch bringen sich direkt ein und kämpfen gar für spezifische Interessen, für die sie zum Teil sehr gut bezahlt werden.
«Schamloses» Verhalten
Dick Marty, der von 1995 bis 2011 Ständerat war, bezeichnet dieses Verhalten schlicht als «schamlos», dies umso mehr, als die Kommissionssitzungen nicht öffentlich sind und die Protokolle geheim bleiben. Die Wähler haben also keine Chance, nachzuvollziehen, wer sich hinter verschlossenen Türen wie stark wofür eingebracht hat. Martys Fazit: «Man sollte sich nicht über diejenigen wundern, die sich korrekt verhalten, sondern über die anderen.»
Zum Beispiel über solche, die das Präsidium einer Fachkommission übernähmen, obwohl sie in diesem Fachbereich Partikularinteressen verträten und dafür hoch bezahlt würden. Ein unmissverständlicher Seitenhieb gegen seinen Kantons- und Parteikollegen Ignazio Cassis, der als Präsident des Kassenverbands Curafutura und des Pflegeverbands Curaviva vor seiner Wahl zum Bundesrat auch noch das Präsidium der Gesundheitskommission innehatte.
Gegen Interessenkonflikte
Wundern tut sich auch Beat Rieder, der 2015 den Sprung nach Bern schaffte und nach eigenen Angaben am rechten Rand der CVP politisiert. Kaum war klar, dass der Walliser Neo-Ständerat in der Energiekommission Einsitz nehmen würde, erhielt er auch schon lukrative Angebote aus der Branche. Doch er sagte Nein. Und wieder Nein. Aus Überzeugung. «Man kann selten gleichzeitig die Interessen eines Wasserschlosskantons, wie des Wallis, und als Verwaltungsrat die Interessen eines direkt betroffenen Unternehmens vertreten», sagt Rieder.
Da er in seinen zwei Jahren in Bern erleben musste, dass er mit dieser Haltung eher ein Einzelfall ist, fordert er nun eine Einschränkung: «Parlamentarier sollten keine neuen gewichtigen Mandate aus den Fachbereichen ihrer Kommissionen annehmen dürfen.» Das heisst, die Politiker müssten sich entscheiden: Wollen sie in die Energiekommission, dürfen sie neu keine gut dotierten Verwaltungsratsmandate bei Energiefirmen annehmen. Gesundheitspolitiker wiederum müssten auf Mandate in Krankenkassenverwaltungsräten oder Spitalverbänden verzichten.
Rieder stösst mit seinem Vorschlag wohl auch in seiner eigenen Partei auf wenig Gegenliebe. «Ein Verbot ist ein radikaler Vorschlag, deshalb plädiere ich für eine Einschränkung», sagt er. Es sei Zeit, einen «Pflock einzuschlagen». Mit dem heutigen System seien die Lobbys zu stark in den Kommissionen vertreten. Rieder weiss, dass eine Umsetzung nicht so einfach wäre. «Vielleicht könnten wir uns in der Politik von der Privatwirtschaft inspirieren lassen», sagt er und verweist auf seinen Beruf als Anwalt: «Hier darf ich auch kein Mandat annehmen, bei dem auch nur der Verdacht eines Interessenkonflikts besteht. Wieso sollte eine solche Regel nicht auch für parlamentarische Kommissionen entwickelt werden können?»
Interessengesteuerte Gesundheitskommissionen
Die grösste Dichte an Interessenkonflikten gibt es heute wohl in den beiden Gesundheitskommissionen. Die insgesamt 38 National- und Ständeräte haben nicht weniger als 90 gesundheitspolitische Mandate gesammelt – aus den unterschiedlichsten Bereichen. Sie vertreten die Interessen der Kassen, der Spitäler, der Ärzte, der Patienten, der Forschungsinstitutionen und der Pharmaindustrie.
Spitzenreiter bei den Gesundheits-Interessenbindungen ist im Ständerat der Freisinnige Joachim Eder, im Nationalrat Ruth Humbel. Die CVP-Politikerin will in ihrer Mandate-Akkumulation kein Problem erkennen – im Gegenteil: «Ich habe absichtlich verschiedene Mandate angenommen, um in alle Facetten des Gesundheitswesens Einsicht zu haben.»
Ein Ansatz, mit dem ihr Parteikollege Rieder nichts anfangen kann: Für ihn ist das exzessive Interessengeflecht in dieser Fachkommission mit ein Grund, wieso sich hier überhaupt nichts tut, obwohl der Reformbedarf angesichts des ungebremsten Kostenwachstums enorm ist. Gesundheitspolitiker ohne gesundheitspolitisches Mandat jedenfalls lassen sich an einer Hand abzählen.
Im Ständerat sind dies der Gewerkschaftsbundpräsident Paul Rechsteiner (SP) sowie Karin Keller-Sutter. «Mir wurden verschiedene – auch sehr gut bezahlte – Mandate angeboten», sagt die FDP-Politikerin. Sie habe diese aber durchwegs abgelehnt, auch weil sie die Befürchtung gehabt habe, «dass man mir mit Mandat in der Gesundheitsbranche meine Unabhängigkeit nicht mehr abnimmt». Grundsätzlich nehme sie nur Mandate an, die ohnehin auf ihrer politischen Linie seien. «Ich muss mich also nicht anstrengen, irgendwelche Interessen zu vertreten.» Zudem habe sie sich überall ausbedungen, ihre eigene Meinung zu vertreten. Sie räumt aber ein, dass alles stark von der Persönlichkeit des jeweiligen Politikers sowie seiner Verankerung abhänge.
Im Nationalrat haben derzeit nur drei Gesundheitspolitiker keine entsprechenden Mandate. Bei den beiden SVP-Politikern ist das – jedenfalls vorerst – wenig aussagekräftig: Der frühere Nationalratspräsident Jürg Stahl hat jüngst seinen Job in der Geschäftsleitung der Krankenkasse Groupe Mutuel an den Nagel gehängt, um sich um die Olympiakandidatur «Sion 2026» zu kümmern, und Thomas Aeschi ist erst seit ein paar Wochen in der Gesundheitskommission.
Anders ist die Situation beim CVP-Nationalrat Christian Lohr. «Ich will unabhängig politisieren können, frei von unmittelbaren Interessen», sagt er. «Deshalb habe ich bewusst alle Mandate aus dem Gesundheitsbereich abgelehnt – und ich habe damit bewusst auf Zusatzentschädigungen von 20'000 oder 30'000 Franken verzichtet.»
Das liebe Geld
Letztlich geht es um Geld, auch wenn einige Mandate ehrenamtlich sind. Der FDP-Ständerat Josef Dittli etwa bekommt neu stolze 140'000 Franken für das Präsidium des Kassenverbands Curafutura. Das sind zwar 40'000 Franken weniger, als sein Vorgänger Cassis erhielt, ist aber noch immer etwa gleich viel, wie für ein Nationalratsmandat im Schnitt – inklusive Spesen – vergütet wird. Im Gegenzug legte er seine Mitgliedschaft in der Groupe de réflexion santé der Groupe Mutuel nieder, pikanterweise jener Krankenkasse, die massgeblich zum Austritt von Helsana, CSS, KPT und Sanitas aus dem Verband Santésuisse und zur Gründung von Curafutura beigetragen hat. Dittli hat also quasi das Lager gewechselt. Er sieht das nicht so eng: «Die Groupe de réflexion santé war keine verpflichtende Bindung, eher eine Informationsplattform für Gesundheitsthemen.»
Dennoch konnten Dittli und seine Kollegen mit der Teilnahme an vier Sitzungen der Gruppe bis anhin bis zu 20'000 Franken pro Jahr einstreichen. Neu soll die maximale Entschädigung 10'000 Franken betragen, wie die Groupe Mutuel bestätigt. Der Vergleichsdienst Comparis zahlt seinen Beiräten 8000 Franken für vier Sitzungen pro Jahr. Mit 440 Franken vergleichsweise bescheiden ist das Sitzungsgeld bei der IG Biomedizinische Forschung und Innovation, die in der Regel drei- oder viermal jährlich tagt.
Strengere Regeln sind nötig
Diesem Treiben möchte Beat Rieder jetzt einen Riegel schieben. Sukkurs erhält er dabei von Marty: «Politiker mit gut bezahlten Mandaten sollten nicht in die entsprechenden Fachkommissionen gehen dürfen», sagt der FDP-Mann. «Das ist ein guter Ansatz.» Er habe in seinen 16 Jahren in Bern eine Änderung der politischen Kultur beobachtet, «nicht zum Guten», was strengere Regeln leider nötig mache.
Zwar betonen fast alle Politiker mit vielen Mandaten, dass sie keine «Befehlsempfänger» seien und trotz Interessenbindungen unabhängig urteilen könnten. Doch ebenso viele können Anekdoten erzählen von Kollegen, die in Kommissionssitzungen «wortwörtlich» Anträge von Lobbygruppen vorlesen und bei allfälligen Nachfragen indirekt zugeben müssen, dass sie das Thema inhaltlich nicht durchschauen.
Mehr Transparenz ist wenig effektiv
FDP-Ständerat Andrea Caroni hat ebenfalls Mühe mit der geballten Interessenvertretung in gewissen Kommissionen, hält aber ein Verbot für «nicht zielführend». Sein Gegenvorschlag: «Mehr Transparenz, damit der Wähler im Bilde ist.» So sollten seiner Ansicht nach die Parlamentarier auch ihren Arbeitgeber nennen und angeben, welche ihrer Mandate entlöhnt werden. Doch Vorstösse dieser Art haben im Parlament einen schweren Stand, auch sehr moderate Versionen.
FDP-Nationalrätin Isabelle Moret etwa wollte «nur» den Unterschied zwischen entschädigten und ehrenamtlichen Interessenbindungen sichtbar machen und scheiterte. Ihr SVPRatskollege Peter Keller erlitt in der letzten Dezembersession mit einem ähnlichen Anliegen Schiffbruch – obwohl die «Freigrenze» pro Mandat im Lauf der Vorberatung von 1200 auf grosszügige 12 000 Franken hochgeschraubt worden war. Selbstredend chancenlos war Kellers Vorschlag, wonach die Parlamentarier ihre Einkünfte in einer zehnstufigen Skala zwischen 1200 und 250'000 Franken einordnen sollten. Der Nationalrat verwarf sogar seinen Vorstoss für eine «freiwillige Deklaration» von ehrenamtlichen und bezahlten Tätigkeiten.
Caronis Forderung nach mehr Transparenz ist also gut gemeint, bis anhin aber wenig effektiv. Der Verschleierungswille ist hoch, nicht nur in Bezug auf die Geldsummen, sondern auch auf die Geldgeber. Hinter der genannten IG Biomedizinische Forschung und Innovation zum Beispiel steckt Interpharma; das Forum Gesundheit Schweiz wird von Santésuisse, dem Konsumentenforum, Interpharma sowie dem Apotheker- und dem Chirurgenverband alimentiert; die IG Seltene Krankheiten wurde aus einem Verbund aus Spitälern, Ärzten, Apothekern und der Pharmabranche gegründet; Treiber hinter der Schweizerischen Stiftung für klinische Krebsforschung waren ursprünglich die Kantone, heute stammt das Geld mehrheitlich aus Privatspenden.
Druck von aussen
Die Gesundheitskommission ist blockiert, in der Energiekommission werden Partikularinteressen durchgeboxt, in der Wirtschaftskommission schanzt sich die Landwirtschaft mehr Privilegien zu. Die Grundidee eines Milizparlaments ist eigentlich, dass Politiker ihren Erfahrungsschatz aus dem Berufsleben einbringen. Doch im heutigen, faktischen Semi-Berufsparlament läuft es häufig umgekehrt: Die Politiker kommen nach Bern, nehmen Einsitz in eine Kommission und erhalten dann zahlreiche Angebote für entsprechende fachspezifische Mandate. Indirekt auch eine Folge der letzten Parlamentsreform von 1991, bei der das System der ständigen Fachkommissionen eingeführt wurde.
Es ist fraglich, ob das Parlament fähig ist, von innen heraus für mehr Transparenz zu sorgen. Aber es gibt auch Druck von aussen auf die Lobbyparlamentarier. So hat ein Komitee aus Konsumentenschützern, Patientenorganisationen, Ärzten und Apothekern im Oktober die Volksinitiative «Für ein von den Krankenkassen unabhängiges Parlament» lanciert. Konkret wollen die Initianten den Parlamentariern verbieten, Mandate und Geld von Krankenkassen anzunehmen.
Die Leute hätten genug vom Prämienanstieg, sagt Jean Blanchard vom Initiativkomitee, die 100'000 Unterschriften sollten problemlos zusammenkommen. Das Klischee von «bösen» Kassen und «guten» Ärzten, Spitälern und Patienten greift aber zu kurz, weshalb die Diskussion auf andere Lobbygruppen ausgeweitet werden dürfte, sobald das Volksbegehren auf dem Tisch liegt – im Gesundheitswesen und auch in anderen Bereichen. Und dann wird wohl auch Rieders Vorschlag neue Anhänger finden.
Dieser Text erschien in der Februar-Ausgabe 02/2018 der BILANZ.