Die Zukunft der künstlichen Realität haben clevere Tüftler schon im 19. Jahrhundert vorweggenommen. Auf Jahrmärkten erzeugten Fahrgeschäfte wie die «Hexenschaukel» mit Hilfe rotierender Bilder an der Wand und schwankender Bänke die Illusion, dass sich die Passagiere um 360 Grad drehen. Heute muss man nicht aufs Oktoberfest gehen, um virtuelle Wirklichkeiten zu erleben.

Spezialbrillen machen computergenerierte Welten mobil. Technologiefirmen sind dabei, diese Bit-Universen in Wohnzimmer zu holen. Mit neuen Virtual-Reality-Brillen soll jeder Nutzer in seinen eigenen Abenteuer-Blockbuster eintauchen können, wie vor Jahrzehnten schon die Helden aus «Matrix» und «Tron». Sie verabschiedeten sich in künstliche Welten, um dort gegen das Böse zu kämpfen.

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«Gaming-Segment ist der Auftakt»

«Virtual Reality wird zum Standbein der Branche», sagt Timm Lutter vom IT-Branchenverband Bitkom. Derzeit dominiere bei den Anwendungen noch die Computerspielbranche. «Das Gaming-Segment ist der Auftakt, wir werden aber erleben, dass sich Bereiche wie Bildung, Nachrichten-Vermittlung, Architektur, geschäftliche Besprechungen oder das Einkaufen durch Virtual Reality zumindest in Teilen verändern werden», sagt Hans-Joachim Kamp vom Branchenverband gfu.

Jeder fünfte Verbraucher in Deutschland liebäugle mit dem Kauf einer Virtual-Reality-Brille. Nachdem der vermeintlich grosse Durchbruch der Spezialbrillen in den vergangenen Jahrzehnten bereits zwei Mal gefeiert worden sei, wachse die Nachfrage jetzt rapide, sagt Klaus Böhm von der Beratungsgesellschaft Deloitte. In Deutschland würden schätzungsweise 130 Millionen Euro damit umgesetzt, plus 30 Millionen Euro für spezielle Inhalte.

Einsatzmöglichkeiten gibt es viele: Nach den Computerspielen komme der Tourismus, erläutert Bitkom-Experte Lutter: Brille aufsetzen und bei der Auswahl oder vor dem Start zu einem Reiseziel die Umgebung oder das Hotel erkunden. Einer der ersten Testkunden ist der Reisekonzern Thomas Cook.

Geschichten mit Datenbrille neu erzählen

Auch in der Medienbranche hat die neue Technologie bereits Fans, die mit Hilfe der Datenbrillen Geschichten neu erzählen. Neben der «New York Times» ist einer der Vorreiter die «Süddeutsche Zeitung».

Die Reporter des Münchner Blattes seien vor den Olympischen Spielen nach Rio de Janeiro gereist, um die dunkle Seite der Stadt zu beleuchten, sagt Kerim Ispir, Manager beim Start-Up Re-Flekt, das sich um die technische Umsetzung kümmerte. Die Rundumsicht erlaube es etwa, bei einem Polizeieinsatz in einem der berüchtigten Armenviertel unter dem Zuckerhut Zaungast zu spielen. Alles was der Nutzer dafür benötigt, sei ein entsprechendes Handy, das vor eine Papp-Brille geschnallt wird.

«Wir haben danach viele Anfragen von anderen Medienunternehmen und Filmfirmen wie der Bavaria.» In der Filmbranche könnten Geschichten ganz anders erzählt werden, sagt Bitkom-Experte Lutter. «Das ist wie der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm.»

Auto-Branche spart sich durch VR viel Zeit und Geld

Auch in der Industrie wachse die Beliebtheit von Virtual-Reality-Anwendungen, erläutert der Chef der Softwarefirma, Wolfgang Stelzle. Grosse Autobauer wie Audi, BMW oder Porsche nutzten die Technik bereits im Vertrieb. Ob Farbe, Felgen oder Fahrradständer - mit Hilfe von Virtual-Reality-Brillen werden unterschiedliche Fahrzeug-Konfigurationen sofort sichtbar.

Zudem lassen sich Testfahrten simulieren. Saust der computergesteuerte Blick in schnellen Runden im Sportwagen über eine Rennstrecke, ist nur eines real: das Gefühl der Seekrankheit.

Auch in der Entwicklung setzen viele Autobauer die VR-Brillen immer häufiger ein, wie Stelzle sagt. Denn Prototypen zu bauen ist teuer. «Man kann Zeit sparen, Kosten sparen und verschiedenste Varianten ausprobieren.»

Mit VR-Brille durch den Hyperloop von Elon Musk

Ein Transportmittel, das es noch gar nicht gibt, wollen die Software-Experten von Re-Flekt potenziellen Passagieren ebenfalls schmackhaft machen: den Hyperloop des Unternehmers Elon Musk. Der amerikanische Technologie-Tausendsassa will eines Tages mit einem Zug, der in einer Röhre fährt, Reisen in Schallgeschwindigkeit möglich machen.

Mit der VR-Brille auf dem Kopf lässt sich die Bahn schon heute virtuell besichtigen. Im Innern kann man herumgehen oder unterschiedliche Sitzvarianten ausprobieren. Beim scheinbaren Blick aus den Fenstern, der eigentlich ein Blick in Monitore ist, ziehen Planeten und Sterne vorbei.

Bald soll in der Weite des virtuellen Weltalls ausserdem die von Musk geplante Kolonie auf dem Mars zu sehen sein. Wie der fiktive Standort auf dem roten Planeten gestaltet sein wird, kann man schon heute, ganz ohne VR-Brille, in der wirklichen Welt besichtigen: Vorbild für die Kolonie war die modern gestaltete Trambahn-Station an der Münchner Freiheit.

(reuters/ccr)