Ein Sitzungszimmer mit spezieller Atmosphäre. Klaus Wellershoff empfängt im Arvenstübli seines Büros am Zürichberg. Seit 23 Jahren arbeitet er als Ökonom, jetzt hat er sich in seinem neuen Buch den Frust über seine Zunft von der Seele geschrieben. «Plädoyer für eine bescheidenere Ökonomie» lautet der Titel, und es klingt schon fast wie ein Vermächtnis, auch wenn die Pension noch fern ist. So viel steht fest: Beliebt macht er sich damit nicht bei seinen Kollegen. Er legt gleich los.
Haben sich Ihre Kollegen schon bei Ihnen beschwert?
Bisher nicht. Warum?
In Ihrem neuen Buch gehen Sie hart mit ihnen ins Gericht: «Grosse Teile meiner Zunft leiden an einem gewaltigen Mangel an Bescheidenheit», diagnostizieren Sie.
Das war der Grund für mein Buch: Festzuhalten, dass wir vieles nicht wissen, auch wenn viele Ökonomen sich als allwissend aufspielen. Und das gilt nicht nur für die Entertainer-Typen in meiner Zunft, von denen es leider immer mehr gibt. Sondern auch für die ganz gewöhnlichen Ökonomen in den Banken, Konjunkturinstituten oder Universitäten.
Beispiele?
Nehmen wir die klassische Herbstprognose. Da kommt es jedes Jahr zum gleichen Ritual, und die Medien berichten grossflächig. Doch diese Prognosen haben regelmässig so grosse Fehler, dass sie praktisch wertlos sind. Auf dieser Grundlage sollte man vernünftigerweise keine wirtschaftlichen Entscheidungen fällen.
Sie haben sie in jungen Jahren selbst erstellt.
Auch ich habe als Berufsanfänger voller Enthusiasmus begonnen. Doch mit der Zeit stellte ich fest, dass gewisse Dinge einfach nicht funktionieren. Damit will ich nicht sagen, dass wir Ökonomen gar nichts über die Zukunft wissen. Doch wir wissen viel weniger, als grosse Teile meiner Zunft uns glauben machen wollen.
Andere Beispiele?
Nehmen wir die Nationalbank. Ich verstehe nicht, warum sie immer noch jedes Quartal eine neue Inflationsprognose veröffentlicht.
Wie weit sind diese Prognosen von der Realität entfernt?
Teilweise sehr stark. Letzten Juni hat uns die Nationalbank eine Prognose gegeben, die bereits nach sechs Monaten mehr als ein halbes Prozent danebenlag. Wenn ich sage, dass solche Prognosen wertlos sind, dann ist das keine Kritik an der Prognosefähigkeit der Nationalbank. Wir können Inflation eben nicht so genau prognostizieren, wie wir das gerne wollen.
Aber die Nationalbank ist per Gesetz zur Wahrung der Preisstabilität verpflichtet. Da braucht sie doch Instrumente zur Messung.
Wenn sie oft falschliegt wie in den letzten Jahren und diese Daten veröffentlicht, schadet das doch nur ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Da fragt sich doch jeder: Wie will die Nationalbank die Preisstabilität garantieren, wenn sie nicht einmal erahnt, wie die Inflation in den nächsten Quartalen, geschweige denn in den nächsten Jahren aussieht? Da wäre Schweigen klüger – und das Vertrauen auf wirksame Instrumente.
Welche?
Das Wissen über Inflation ist sehr alt. Wir wissen, dass Geldmenge und Inflation langfristig zusammenhängen. Über die Steuerung der Geldmenge kann man nicht mechanisch wie bei einer Maschine, bei der man an einem Hebel zieht, die Inflation des nächsten oder übernächsten Jahres beeinflussen. Man weiss aber: Wenn man die Geldmenge stark vergrössert, folgt irgendwann das Preisniveau.
Davon ist derzeit aber nichts zu sehen: Die Zentralbanken pumpen seit zehn Jahren Geld in historisch einmaliger Dimension in die Märkte, doch die Inflation ist rekordtief.
Die Theorie ist vor 500 Jahren entstanden und hat bis zur Finanzkrise sehr gut funktioniert. Aktuell haben die Notenbanken die Zinsen extrem tief gedrückt. Geld wird nicht mehr nur als Transaktionsinstrument, sondern auch als Vermögensklasse genutzt: Vielen Investoren sind die Aktienbewertungen zu hoch, deshalb horten sie Cash. Das ist der Grund, warum wir keine Inflation sehen.
Leben wir seit zehn Jahren in einer Sondersituation?
Diese kurzfristige Entkoppelung von Geldmengenwachstum und Inflation haben wir immer wieder auch in den vergangenen Jahrhunderten gesehen. Das Aussergewöhnliche ist eher das Ausmass, in dem die Geldmenge erhöht worden ist. In der Schweiz hat sich die von der Nationalbank kontrollierte Geldmenge verzwölffacht, sie ist vier Mal stärker gestiegen als jene der Europäischen Zentralbank. Doch darüber traut sich keiner zu reden.
Warum nicht?
Es geht uns gut, wir haben praktisch Vollbeschäftigung, ordentliches Wachstum, tiefe Inflation, hohe Häuser- und Aktienpreise. Da ist es natürlich, dass niemand die Nationalbank kritisieren und aus dem Traum aufwachen will. Doch wir müssen uns schon fragen, ob wir das Wenige, was wir seit Jahrhunderten wissen, nicht leichtfertig ignorieren. Wenn etwa ein Nationalbank-Direktoriumsmitglied jüngst in einem Interview betont, die Grösse der Bilanz habe keine Relevanz für die Geldpolitik, dann stelle ich mir schon Fragen.
Die Nationalbank begründete die Abschaffung des Mindestkurses doch vor allem mit der Angst vor zu grossem Bilanz-Wachstum.
Ja, aber seitdem ist die Bilanz dennoch fröhlich weitergewachsen, weil die Basisgeldmenge durch die Wechselkurspolitik brutal ausgeweitet wurde. Zu behaupten, das hätte keine Relevanz für die Geldpolitik, ist übrigens auch ein Bruch mit der Tradition der Nationalbank. Langfristig hat starkes Geldmengenwachstum praktisch immer zu höherer Inflation geführt. Das wird auch dieses Mal so sein, diese Prognose wage ich.
Weil Sie eben nur langfristige Prognosen wagen?
Bei der Inflation. Beim Wachstum sind wir Ökonomen auch noch ganz gut bei kurzfristigen Prognosen für drei bis sechs Monate. Dann kommt der grosse Nebel für den mittelfristigen Ausblick: Wer hier Prognosen wagt, wie bei den besagten Herbstprognosen, ist schlicht unseriös. Und dann sind wir wieder stark bei den durchschnittlichen Wachstumsraten über einen längeren Zyklus hinweg. Hier sind die Schätzfehler am kleinsten, da können wir den Wirtschaftsakteuren belastbares Wissen liefern.
Und da sind Sie pessimistisch. «Die Wachstumsraten der letzten Jahre sind Utopie», schreiben Sie. Wir müssten uns auf einen «neuerlichen Abschwung» vorbereiten.
Der wichtigste Grund dafür ist, dass wir in den vergangenen dreissig Jahren so stark gewachsen sind. Wir sind jetzt so einkommensstark, dass grosses Wachstum auf diesem Niveau nicht mehr möglich ist. Die tieferen Wachstumsraten, auf die wir uns einstellen müssen, reflektieren auch die schlechtere Demografie. Damit kann trotz tieferem Wachstum Vollbeschäftigung herrschen.
Dazu kommt ein mögliches Abflachen der Handelsaktivitäten. Denn als eine der wenigen gesicherten Erkenntnisse der Ökonomie zitieren Sie auch: Aussenhandel erhöht die Produktivität. Offenbar versteht das nur der aktuelle US-Präsident nicht.
Mit den protektionistischen Massnahmen behindert Donald Trump, dass sich die Amerikaner auf die Herstellung von Produkten konzentrieren, bei denen sie besser sind als andere Länder. Damit werden sie das ohnehin schon schwache Produktivitätswachstum weiter verlangsamen.
Warum macht Trump es denn?
Er war Unternehmer. Jetzt glaubt er, er könne die Rezepte der Unternehmensführung auch auf die Volkswirtschaft anwenden. Doch das funktioniert nicht. Aussenhandel ist kein Nullsummenspiel wie der Kampf um Marktanteile der Unternehmen. Da mangelt es dem US-Präsidenten offenbar an grundlegendem Verständnis über volkswirtschaftliche Zusammenhänge.
Oder er ist im Mittelalter stehen geblieben.
Unter anderem unterrichte ich Geschichte des ökonomischen Denkens. Da haben wir gerade einen Text des englischen Ökonomen Thomas Mun, geboren 1571 und lange Präsident der Handelsgesellschaft «East India Company», behandelt. Sein Thema: «Make Britain great again». Die Rezepte lauteten: Zölle, Abschottung, Zuwächse auf Kosten der anderen. Das liest sich teilweise eins zu eins wie das Programm von Trump.
Wenn Trump schon auf Produktivitätsgewinne durch Handel verzichtet – bringt dann wenigstens die Digitalisierung Wachstum? Hier sind die USA ja weltweiter Vorreiter.
Ein Kollege von mir hat einmal gesagt: Ich sehe Computer überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken. Zu glauben, dass die Digitalisierung sich in erhöhter Produktivität niederschlage und einen Wachstumsschub auslöst, ist gewagt. Zum einen verbringen die Menschen in ihrer Freizeit viel Zeit im Internet. Dabei haben sie Spass, aber es entsteht kaum Umsatz für denjenigen, der den Spass bereitet. Wenig Umsatz, wenig gemessene Wertschöpfung, wenig Wachstum. Gleichzeitig lässt die Digitalisierung auch viele volkswirtschaftliche Angebote verschwinden, das war auch schon mit anderen revolutionären Neuentwicklungen so: Auto und Eisenbahn haben die Kutschenhersteller bankrottgehen lassen, Elektrizität die Gaslampenproduzenten. Wenn Politiker glauben, sie könnten mit künstlicher Intelligenz, Nanotechnologie oder Robotisierung grosse Wachstumsschübe erzielen, liegen sie wohl falsch.
Auch bei den Börsenaussichten sind Sie pessimistisch: «Die zukünftigen Erträge werden deutlich hinter dem zurückbleiben, was wir in der Vergangenheit gewohnt waren.»
Auch hier ist der Ausgangspunkt: Was können wir gesichert über die Finanzmärkte sagen? Kurzfristige Aktienmarkt- oder Wechselkursprognosen sind so wertlos wie die Herbstprognosen. Dagegen gibt es eine zentrale Kennziffer, deren Auswirkung wir kennen: Der Zins ist die Schlüsselgrösse für die Finanzmärkte. Mehr als dreissig Jahre fallende Zinsen haben uns immer wieder Aufwertungsgewinne auf Aktien, Obligationen und Immobilien beschert. Glaubt jemand, dass die Zinsen nochmal dreissig Jahre sinken werden? Das ist schlicht nicht möglich. Und das heisst: Die Erträge müssen zwangsläufig sinken, weil die Aufwertungsgewinne fehlen werden.
Das sehen aber viele Banken und Vermögensverwalter ganz anders. Sie überbieten sich noch immer mit positiven Ausblicken, trotz des Einbruchs im Februar.
Leider verweigern sich viele Vermögensverwalter dieser Erkenntnis. Da haben sie einiges mit uns Ökonomen gemeinsam: Wir verwechseln gern das Wünschbare mit dem Machbaren. Die Kunden werden sich das nicht mehr lange bieten lassen. Für mich steht fest: Die Vermögensverwaltungs-Industrie steht vor extremen Herausforderungen und muss sich vollkommen neu erfinden.
Wo liegt das Hauptproblem?
Die Anlageindustrie war die letzten Jahre mit so viel strukturellen Fragen konfrontiert – Ende des Bankgeheimnisses, automatischer Informationsaustausch, Fintech-Hype –, dass ihre eigentliche Kernaufgabe in den Hintergrund geriet: Performance für die Kunden zu generieren. Ich habe in meinem Buch die sogenannte «naive Anlagetheorie» – das gesamte Vermögen gleichmässig über alle relevanten Anlagekategorien verteilen – mit der Performance der Banken und Vermögensverwalter verglichen. Ergebnis: Die naive Strategie ist deutlich erfolgreicher. Kommt hinzu, dass nur wenige Anbieter das Versprechen, besser zu sein als der Markt, auch einlösen können.
Da machen Sie sich auch keine Freunde.
Das ist mir bewusst. Aber ich glaube, wir Ökonomen müssen auf Fehlentwicklungen hinweisen, wenn der Finanzplatz Schweiz seine internationale Spitzenstellung nicht verschenken soll.
Bringt Fintech die Rettung? Das versprechen die Algorithmen-gesteuerten Vermögensverwalter zumindest: Die sogenannten Robo-Advisors wollen das Geschäft revolutionieren.
Da bin ich skeptisch. Diese Programme sind von Menschen programmiert und funktionieren grösstenteils nach den gleichen Modellen wie die traditionellen Lösungen. Technologische Neuerung ist in jeder Branche wichtig. Aber wenn die ökonomischen Modelle, die da drinstecken, nicht das leisten können, was die Branche verspricht, hilft auch die schickste Technologie nicht. Ich fürchte, Fintech ist für viele mehr ein Fashion-Statement als ernst gemeinte Innovation.
Sie selber verwalten keine Gelder, beraten aber Kunden bei der Wahl des richtigen Vermögensverwalters. Worauf kommt es an?
Wichtig ist einmal, dass der Vermögensverwalter dem Kunden detaillierte Transparenz über Prozesse, Kosten, Risiko und Performance gewährt. Und dann muss verglichen werden. Es gibt tatsächlich Verwalter, die konsistent besser sind als der Rest, das ist aber von aussen meist nicht feststellbar.
Und dann gilt: Gelassenheit ist Trumpf?
Hier mein Tipp: Lesen Sie keine mittelfristigen Prognosen mehr zum Aktienmarkt, zu Wechselkursen und zur Konjunktur. Sie ersparen sich nicht nur unnötigen emotionalen Stress, sondern treffen auch bessere Entscheidungen und gewinnen viel Zeit für Wichtiges.